Notiz zu Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen von Eva Hiller

Ob sich in der Nacht Unvorhergesehenes, Ungeahntes, aber doch Ersehntes zu erkennen gibt, wird sich erst erfahren lassen, wenn sie vorüber gegangen ist. Dies könnte sowohl für Eva Hillers einzigartigen Film Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen gelten als auch für die Retrospektive der diesjährigen Berlinale. In erste Linie ist es die Bildsprache dieses Films, dank der Kameraarbeit Thomas Mauchs, in der sich seine Besonderheit auszeichnet. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um die konzentriert-heimliche Komposition oder präzise Belichtung des Filmmaterials bei Nacht, sondern dass etwas in den Bildern entsteht, was sie gewissermaßen selbst verfolgt, indem die innerste Entsprechung des Kinos ausgelebt werden darf: Nächtliche Lichter und Schatten in urbanen Räumen zerstreuen die Aufmerksamkeit. Plätze, denen untertags keine Bedeutung zuteilwird, entwickeln plötzlich sonderbare Existenzen, sie erwachen und lösen sich von der umgebenden Welt ab. Ihre Erscheinungen fallen aus den dunklen Ecken auf die weiße Leinwand. Dem entgegen beschäftigte sich Eva Hiller, bevor sie die Arbeit am Film begann, mit den grellen Oberflächen der Alltagswelt: Fahrkartenschalter, Telefonzellen, Geldautomaten, Reklamen – leuchtende Virtualität, deren Abläufe nicht mehr nachvollziehbar sind. Nur dem Anschein nach steckt darin das Gegenteil der schmutzigen Grautöne in Berlin oder Frankfurt nach Sonnenuntergang, wenn sich der unbescholtene Blick enthebt, sei es aus Gewöhnung oder Angst. Jedenfalls will der nächtliche Blick übersehen, er zerteilt und überbrückt, er hält sich fest am Display, nur noch 14 Prozent, oder der Betrachtung einer Abfahrtsanzeige, immer noch 2 Minuten. So heißt es im Film einleitend, dass gerade die jüngeren Kulturen die Nacht am allermeisten fürchten. Für Hiller besitzt jener Macht, der über das Licht verfügt: Wer im mittelalterlichen England ohne Fackel anzutreffen war, musste mit dem Kerker rechnen, denn man verschafft sich einen Vorteil zu sehen, ohne gesehen zu werden. Der Film atmet insofern nicht nur die verführerische Luft der Nacht, sondern begegnet ihr mit einer kulturkritischen Perspektive, einer modernen Furcht, die ausgehend vom Kino wieder zu diesem zurückkehrt. Es heißt, dass der Kapitalismus die Nacht zum Verschwinden gebracht hätte, er verlängert den Arbeitstag und gräbt dem Traum das Wasser ab. Oder anders: Schlaf dient zur Erholung des Realitätsprinzips – Schlaflosigkeit verlebendigt die Alpträume. Einsamkeit ist das Produkt der Moderne. In diesem Sinne wird Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen von der Erzählung einer Frau in einer fremden Wohnung begleitet, die auf einen Mann wartet, nicht ihr Ehemann. Stunden mit kreisenden Gedanken vergehen, deren Hoffnungen von einer Dämmerung zur nächsten ins Nichts gleiten. Hier erinnert Hillers Film, dem seit 1991 beachtlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, an Chantal Akermans zehn Jahre älteren Toute une nuit. Während Akermans Nächte in ihrer eigenen Dynamik und Geschwindigkeit verlaufen, sieht Hiller in ihnen einen monoton-treibenden, stampfenden Rhythmus, der von Fritz Langs Metropolis’ Moloch in die Technokeller des wiedervereinigten Landes hallt. Diese Entfremdungserfahrung saugt die Montage in einer Weise auf, die für das Gesprochene keine Entsprechungen oder Entgegnungen findet, eher Entgleisungen wählt, suchend und ahnend. Die postmoderne Nacht hat unter dem unbeirrbaren Druck hydraulischer Zylinder alles Abseitige, von Wünschen bestimmte, durch vorgegaukelte Authentizität, wie in der Pornografie, überformt. So bliebe für Hiller nichts am überstrahlten Schattendasein der Nacht übrig, wenn es nicht die Legende der weißen Krokodile gäbe, die ungesehen in den Abwässern New Yorks aber auch andernorts leben. Nur in den Fundamenten der Moderne könnte der Mythos überdauern oder neu entstehen. Was bedeutet das für die Retrospektive? Auch wenn die Kritik an der mangelhaften Programmierung aufgrund des gestrichenen Geldes ihre Berechtigung hat, ignoriert sie die Filme, die immerhin zu sehen sind. Eher müsste man fragen, warum ein Programm damit beworben und unwidersprochen bemessen werden muss, wie sehr es sich im Bereich des Abseitigen bewegt. Es spricht daraus ein aufgeregter Drang nach Entdeckungen, die sich vor lauter Verheißung gar nicht einlösen können. Hätte es unvorstellbarer sein sollen oder authentischer? Als stünde man noch tief in der Nacht, eher sinnierend als träumend, will man die Enttäuschung kaum fahrenlassen, dass bereits der nächste Tag begonnen hat. Zeit lässt sich auch in Retrospektiven nicht zurückdrehen: Sie sind weniger kollektive Träume als deren einsame Wiederkehr und notwendige Reflexion.

Film Lektüre: Heimat von Burcu Dogramaci

Heimat von Burcu Dogramaci

There’s no place like home. Nirgends ist es so schön wie zuhause. Im Deutschen hat dieses Gefühl, dass man mit dem Zuhausesein verbindet einen eigenen Namen, der nur unzureichend in andere Sprachen übersetzt werden kann. Heimat ist zu einem bedeutungsschwangeren Begriff geworden, der sich nicht nur schwer übersetzen lässt, sondern sich auch in vielerlei anderer Hinsicht einer Definition entzieht. Die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci hat sich in ihrem Buch Heimat. Eine künstlerische Spurensuche, das soeben im Böhlau Verlag erschienen ist, deshalb daran gemacht verschiedene Zugänge auszuloten, wie mit Heimat als Begrifflichkeit umgegangen werden kann. Gerade nach den Ereignissen der letzten Monate ist das ein kühnes Unterfangen. „Heimat“ ist immer mehr zur Worthülse nationalistischer Parteien geworden, die damit Abgrenzungspolitik gegenüber einer ominösen fremden Gefahr betreiben. Dogramacis Buch kommt da gerade recht, denn sie versammelt eine ganze Reihe von Gegenentwürfen im Umgang mit Heimat, die denkbar wenig mit rechtspopulistischer Rhetorik zu schaffen haben. In erster Linie orientiert sie sich dabei an fotografischen Arbeiten der letzten rund sechzig Jahren. Diese kunsthistorische Perspektive möchte ich um einige Querverbindungen zu filmischen Beispielen erweitern.

Der Abend von Caspar David Friedrich

Der Abend von Caspar David Friedrich

Heimat kann als geographische Verortung begriffen werden, als nostalgische Kindheitserinnerung oder als Traditionspflege, die volle Bedeutungsvielfalt des Wortes zu begreifen fällt jedoch schwer. Ebenso schwer fällt es Heimat von verwandten Begriffen wie Identität und Herkunft zu unterscheiden (Dogramaci selbst nimmt keine klare Trennung vor). Heimat ist all das und noch viel mehr, ist gleichsam subjektive Kategorie (für jeden bedeutet Heimat etwas anderes) und gemeinschaftlich geteilt (jeder hat eine bestimmte Vorstellung von Heimat). In der Heimat sind wir verwurzelt, der Heimat sind wir verpflichtet, und umso mehr wird Heimat zu einem problematischen Begriff, wenn sie nicht ist. Heimatlosigkeit und fehlende Verwurzelung sind eine Geisel unserer Zeit. Millionen Menschen verlassen ihr Zuhause, um in einer globalisierten Welt an anderer Stelle ihr Glück zu suchen. Mehr schlecht als recht versuchen sie an neuen, fremden Orten an Bräuchen ihrer alten Heimat und Kultur festzuhalten, sind aber gleichzeitig dazu gezwungen eine neue Heimat zu begründen. Manchen gelingt das – sie schaffen sich eine neue Heimat, meist ein Amalgam aus altem und neuem Umfeld – viele scheitern daran und leben fortan im Limbo, in einem kulturellen Vakuum, ohne Identität, ohne Geschichte, ohne Zukunft. Ihre Kinder wachsen in diesem Vakuum auf und fühlen sich nicht heimisch, die ursprüngliche Heimat ihrer Eltern ist ihnen meist ebenso fremd. Wer am lautesten mit dem Versprechen auf Identität und Gemeinschaft um ihre Aufmerksamkeit buhlt, findet willige Anhänger. Wer sich nicht zurecht findet in einer komplexen, verwirrenden Welt ohne Bezugssysteme, der lässt sich leicht von eindeutigen Botschaften ködern.

Auf der anderen Seite jene, die in den Staaten der „Westlichen Welt“ am wenigsten von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten einhundertfünfzig Jahre profitiert haben. Sie fühlen sich ebenfalls bedroht, können nicht mehr mit der Veränderung in der Welt schritthalten und klammern sich deshalb an die Heimat von Gestern und Vorgestern, die sie bedroht sehen. Sie wollen zurück in diese vermeintlich bessere Zeit, oder zumindest die Abwärtsspirale stoppen. Es ist die Heimat, die von rechtsgerichteten Konservativen beschworen wird und sich aus überholten Kategorien wie Nation, Vaterland und Tradition zusammensetzt. Sie lassen außer Acht, dass Heimat prozessualer Natur ist, und uns nur deshalb so stark prägt, weil sie sich immerzu verändert und an unsere Lebensumstände anpasst. Wer mit dieser Veränderung nicht mithalten kann, wird ebenfalls zum Heimatlosen. Auch diese Heimatlosen folgen in ihrer Suche nach einer neuen Heimat den verlockenden Rufen der einfachen Antworten, die es natürlich in einer komplexen Welt nie geben kann und auch nie gegeben hat. In beiden Fällen sind die Suchenden eines neuen Heimatgefühls leichte Opfer für die Rekrutierungspraktiken radikaler Strömungen.

Denkt man über Heimat nach, eröffnet sich also schnell ein unüberschaubares Feld und doch gelingt Dogramaci auf schlanken 180 Seiten der Versuch verschiedene Formen der künstlerischen Aufarbeitung von Heimat nachzuvollziehen und miteinander in Verbindung zu bringen. Es geht ihr dabei weniger um eine erschöpfende Aufzählung, sondern um eine Annäherung anhand einer begrenzten Anzahl von Beispielen, die durch ihre Gegenüberstellung neue Einsichten ins unüberblickbare Bedeutungsfeld „Heimat“ bieten. Verschiedenen Nuancen des Heimat-Begriffs werden Kapitel für Kapitel abgearbeitet. Auf den ersten Blick wirken sie recht isoliert voneinander, doch immer wieder tauchen ähnliche Fragen und Problemstellungen auf. Es ist eine dialektische Herangehensweise; das größte Potenzial des Buchs findet sich in den Leerstellen zwischen den Kapiteln, dort wo sie aufeinander stoßen, zueinander sprechen und tiefere Einsichten entstehen. Eindeutig zu trennen sind die verschiedenen Bedeutungsebenen ohnehin nicht.

An diesem Punkt könnte man zurecht fragen, was das alles mit unserem Blog und unseren sonstigen Texten zu tun hat. Die Antwort dazu findet sich nicht direkt im Buch, sondern im Gedankenkomplex, der sich beim Durchlesen eröffnet. Dabei geht es mir weniger um filmische Beispiele, die Dogramacis Argumentation, die sich größtenteils auf fotografische Arbeiten stützt, untermauern oder ergänzen, sondern um Fragen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Eines der Themen, das Patrick und mich in unseren Gesprächen regelmäßig beschäftigt ist die Frage nach den ökonomischen Zwängen von Filmemachern und wie diese ihr Filmschaffen prägen beziehungsweise wie sehr die Masse an Filmemachern sozial vorselektiert wird. Film ist eine vergleichsweise teure Beschäftigung. Einen Film zu drehen verlangt nach größerem Einsatz von Mensch und Material als andere Kunstformen. Das führt dazu, dass Filme (vor allem jene, die uns interessieren, die also nicht in einem kommerziellen, industrialisierten System entstehen) in der Regel von denen gedreht werden, die es sich leisten können, von jenen, die jahrelang für wenig oder gar kein Geld an Filmsets Erfahrung sammeln, Filmschulen besuchen, Förderanträge schreiben und auf Förderzusagen warten. Es gibt sehr wenige Filmemacher aus armen Verhältnissen, die ohne zuvor auf anderen Wegen zu Wohlstand gekommen sind (z.B. als Schauspieler: Chaplin, De Sica) Filme drehten und das Leben aus ihrer Perspektive schilderten. Ausnahmen wie Chantal Akerman sind verbissene Kämpfernaturen, die quasi ohne eigene Bedürfnisse ganz für ihre Kunst leben. Ähnlich verhält es sich mit der Perspektive der „Heimatlosen“. Auch sie sind unterrepräsentiert, da für sie der Zugang zu den Produktionsmitteln erschwert ist. Diese beiden Probleme sind natürlich miteinander verschränkt, da gerade in den unteren Einkommensschichten verhältnismäßig viele Menschen mit Migrationshintergrund zu finden sind. Es wäre im Interesse der Entwicklung der Filmsprache, dass sich diese Schieflage verändert, auch wenn es im Moment eher so aussieht als würde sich die soziale Selektion noch verstärken. Der Vielzahl an filmischen Unternehmungen zum Trotz, die sich in Form von anthropologischen Studien oder Traveloges von außen den Problemen der Heimatsuchenden und Mittellosen annehmen, fehlt es am spezifischen zweigeteilten Blick des Heimatsuchenden, der die Innen- und die Außenperspektive, das Verhältnis von Heimat und Fremde in sich vereint.

Rodina von Irina Ruppert

Rodina von Irina Ruppert

Ohne der Kapiteleinteilung Dogramacis zu folgen kann man grob fünf verschiedene, ineinander greifende Bereiche ausmachen, die sich in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Heimat ergeben: Landschaften/Orte, Nationale Identität/Pass, Bevölkerung/Bezugspersonen, Kultur/Sprache/Geschichte, Wohnstätte/Heim.

Heimat als geographischer Bezugspunkt

Gleich zu Beginn des Buchs merkt Dogramaci an, dass auffallend viele künstlerische Auseinandersetzungen mit Heimat, fern von dieser unternommen wurden. Literaten wie Heinrich Heine oder Max Frisch wurden sich erst im Ausland bewusst, wie stark ihr Denken von ihrer Heimat geprägt ist. Künstler mit wechselhaften Lebensläufen und –geschichten, wie die in jungen Jahren von Kasachstan nach Deutschland emigrierte Fotografin Irina Ruppert setzen sich laut Dogramaci vermehrt mit Heimat auseinander, suchen nach ihrer eigenen Identität, und nach den Spuren, die ihre Familien auf ihrem Weg hinterlassen haben. Immer wieder wird Dogramaci in ihrem Buch auf Künstler rekurrieren, die sich in der Fremde mit Heimat auseinandersetzen, oder in der Heimat dem Fremden auf der Spur sind. Man ist geneigt zu denken, dass Heimat dort ist, wo man herkommt, doch wie ließe sich so ein Ort definieren? Er ist sicherlich mehr als bloß ein Eintrag im Pass, nämlich mit konkreten Bildern und Vorstellungen verbunden. Diese Bilder entstammen nicht nur der persönlichen Erfahrung, sondern einer gemeinschaftlich geteilten Ikonographie. Dogramaci, die in erster Linie die Heimat der Deutschen behandelt, führt an dieser Stelle die Maler der Romantik an, die in ihren Landschaftsgemälden ein idealisiertes Heimatbild schufen, das bis heute Geltung hat. Für die Deutschen seien es die Wälder, die als identitätsstiftende Landschaften fungieren. Diese germanischen Wälder, die schon den Truppen Hermanns im Kampf gegen die Römer Unterschlupf boten und die Fritz Lang für Die Nibelungen im Studio nachbauen ließ, da er mit dem Aussehen der tatsächlich vorhandenen Wälder unzufrieden war. Fotografische Arbeiten wie Peter Bialobrzeskis Heimat orientieren sich an der romantischen Tradition und adaptieren den Mythos des deutschen Walds für die Gegenwart. Selbst in Christoph Hochhäuslers Märchen-Variation à la Berliner Schule Milchwald steckt ein Stückchen Wald. Ohne Zweifel hat diese Selbstwahrnehmung der Deutschen auch die Fremdwahrnehmung des Landes beeinflusst. Der undurchdringliche deutsche Märchenwald ist zum beliebten Sujet von internationalen Großproduktionen geworden – von Terry Gilliams The Brothers Grimm bis zu rezenten Neuinterpretationen von klassischen Märchen wie Snow White and the Huntsman.

Heimat als Kultur und Sprache

Wie eben beschrieben werden Allgemeinplätze (ob sie nun landschaftlich sind oder nicht) durch Kunst vermittelt. Diese Kunstwerke sind Teil einer bestimmten Kultur, die ebenfalls als Heimat verstanden werden kann. Gerade im Falle Deutschlands, das aufgrund der späten Staatsgründung eine Sonderstellung einnimmt, sei das der Fall. Im Gegensatz zu anderen Nationalstaaten definiert sich die deutsche Identität weniger über territoriale Grenzen, sondern über Sprache und Kultur. Besonders deutlich wird das, wenn sich Vertriebene mit der Frage auseinandersetzen, ob an einem anderen Ort wieder so etwas wie Heimat entstehen kann. Bestes Beispiel hierfür ist der oben erwähnte Heinrich Heine, der sich erst im französischen Exil des Einflusses seiner Heimat auf sein Werk bewusst wurde. Dogramaci widmet sich zudem eingehend dem Fall Jean Améry, der nach seiner Flucht aus Österreich ohne Pass, Geld, Vergangenheit und Geschichte dastand und sich ebenfalls mit der Brüchigkeit von Identität und Heimat konfrontiert sah. Seine Identität ging nicht nur aufgrund seines Ortswechsels verloren, sondern vor allem durch den Verlust eines „Wir-Gefühls“, das unentbehrlich sei für die „Ich-Bildung“: „Heimat ist damit mehr als ein Herkunftsland, es ist im Verständnis von Améry eine Prägung durch Sprache, soziale und kulturelle Erfahrung“, und somit etwas, was durch den Kontakt mit anderen entsteht und darin begründet liegt (so wie auch Sprache, wie Wittgenstein gezeigt hat, immer schon eine gemeinschaftliche Komponente enthält). Erwähnenswert auch Amérys Konzeption des Passes, dem in erster Linie die Funktion zukommt „eine Geschichte über seinen Eigner“ zu erzählen, also den bisherigen Lebensweg des Passinhabers festzuhalten, sie ins Verhältnis zur restlichen Gesellschaft zu setzen und sich für ihre Authentizität zu verbürgen. Es zeigt sich, dass verschiedene Konzepte von Heimat miteinander in Konflikt stehen können. Jean Renoir hat diesen Konflikt in Form von La Grande Illusion zu Zelluloid gebracht, wo Pierre Fresnay als Capitaine de Boëldieu mit Jean Gabins Lieutenant Maréchal zwar die Staatszugehörigkeit teilt, ihn mit Erich von Stroheims Rittmeister von Rauffenstein jedoch ein gemeinsamer kultureller Hintergrund verbindet. Schlussendlich gilt Boëldieus Treue seinem Vaterland, doch der Film bezieht einen Großteil seines Konfliktstoffs aus der Ungewissheit, ob Boëldieu sich letzten Endes dem geteilten Gedankengut der intellektuellen Elite des Abendlands, oder einem abstrakten Nationalbegriff stärker verpflichtet fühlt.

Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans

Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans

Heimat als formale Kategorie

Unter bestimmten Voraussetzungen könne auch ein Nationalstaat als Heimat wahrgenommen werden und wie im Fall von Capitaine de Boëldieu kann er sogar die Zugehörigkeit zu einer kulturellen oder sozialen Klasse übertönen. Nach Jean Améry, sei der Nationalstaat unter anderem dafür zuständig dem Bürger eine Identität in Form eines Ausweises zuzuweisen. Tatsächlich seien es Vertriebene ohne Ausweisdokumente, die sinnbildlich für Heimatlosigkeit stehen. Im Film sind es die vermeintlich über alle Zweifel erhabenen Geheimagenten, die ihre Feinde zu Dutzenden über den Haufen schießen, die beständig ihre Identität wechseln müssen (James Bond, der ikonischste von ihnen, stellt die Ausnahme der Regel dar) und regelmäßig mit der damit verbundenen Verlorenheit des Seins hadern: Matt Damons Jason Bourne als Musterexemplar, der überhaupt auf der Jagd nach seiner ursprünglichen Existenz ist, und gar nicht mehr unabhängig seiner gefälschten Pässe existiert. Der Verlust des Passes komme für Dogramaci auf bürokratischer Ebene dem Verlust der Identität und aller Bürgerrechte gleich. Das zeigt, dass Heimat und Identität nicht zuletzt auch durch Fremdzuschreibungen gebildet werden. Heimat entstehe auch als Abgrenzung gegenüber einem „Anderen“/„Fremden“, nicht nur durch ein inneres Selbstverständnis, sondern auch durch Zuweisungen von außen. Durch die Abgrenzung gegenüber einem Außen identifiziere man sich automatisch mit einer Gruppen von Gleichen oder Ähnlichen. Diese Identifikation könne auf der Ebene einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamer Traditionen und Bräuche oder dem Leben im gleichen Staat oder dem Besitz des gleichen Ausweisdokuments basieren.

Heimat als Miteinander

„Nationen basieren maßgeblich auf einem kollektiven historischen Bewusstsein, das retrospektiv formuliert ist und seinen Ausgangspunkt in der Gegenwart hat.“ Es sind also, in Dogramacis Fall, nicht zuletzt die Deutschen selbst, die ihre deutsche Heimat ausmachen (Edgar Reitz hatte wohl ähnliche Gedanken). René Burris Fotobuch Die Deutschen oder die Fotografien von Stefan Moses stehen dabei stellvertretend für fotografisch-anthropologische Bevölkerungsquerschnitte, die den Versuch unternehmen Heimat als Gruppe von Mitmenschen oder Mitbürgern zu begreifen. Sie versuchen eine kritische Masse an Menschen abzulichten, die in ihrer Querschnittsmenge so etwas wie die Essenz des Deutschen ausmachen. Ein ähnlicher Wunsch treibt höchst unterschiedliche Filmemacher an, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine möglichst ungeschönte Form von Leben aufzuzeichnen. In Umfang und Form unterscheiden sich diese Versuche sehr stark. Sie reichen vom nationalen Prestigeprojekt der Up Series, dass der britische TV-Sender ITV seit nunmehr über fünfzig Jahren als Langzeitquerschnittsstudie fortführt, bis zu Pedro Costas Fontainhas-Trilogie, die mit bescheidenen Mitteln entstanden ist und in der er sich im Lissaboner Einwanderungsviertel Fontainhas der lokalen Bevölkerung annähert. Candida Höfer widmet sich in ihren Fotografien ebenfalls Familien mit Migrationshintergrund, unternimmt dabei, anders als Costa, nicht den Versuch sich ihrem Interessenssubjekt weitestgehend anzunähern, sondern behält einen Blick von außen. Höfer ist weder daran interessiert den „Durchschnittsdeutschen“ und seine autochthone Kultur zu zeigen, noch eine migrantische Parallelgesellschaft, sondern Konzeptionen und Möglichkeitsräume neuer Heimat zu schaffen, sowie zu zeigen wie sich Heimat in Abgrenzung zum Fremden konstituiert. Abermals haben wir es also mit verschiedenen Verfahrensweisen zu tun, dem Blick nach innen, der die Essenz der Heimat sucht, und einem Blick, der Fremdkörper in Kontrast zur bekannten Heimat setzt.

Heimat als Heim

Nicht zuletzt verbindet man mit Heimat auch eine spezifische Wohnstätte, ein Heim, das über die geographische Zuordnung eines Herkunftslands hinausgeht. Ein Blick in die Wohnzimmer eines Landes lässt verschiedene Künstler Einblicke in die Volksseele geben. Fotografische Streifzüge dieser Art können also ebenfalls eine bestimmte Auffassung von Heimat herausarbeiten. Tausendsassa James Agee hat zusammen mit dem Fotografen Walker Evans einen solchen Streifzug für ihr Buch Let Us Now Praise Famous Men unternommen und darin die amerikanischen Südstaaten porträtiert. Herlinde Koelbl versuchte ähnliches in Deutschland mit ihrem Fotobuch Das deutsche Wohnzimmer. Die Wohnung als Mikrokosmos lasse Schlüsse auf größere Fragestellungen zu. Form und Gestaltung des Heims seien geprägt von Wohnbaupolitik, von der Mode eines bestimmten Zeitgeists und von den Bewohnern, die durch die Ausgestaltung des Wohnraums tief in ihre Seele blicken lassen. Es werde deutlich, dass die vertraute Umgebung einer Wohnstätte, die Anordnung der Zimmer und des Hausrats ebenfalls ein Gefühl von Heimat vermitteln können. Ein Gefühl, wie es Manoel de Oliveiras Visita ou Memórias e Confissões vermittelt, in dem er sein eigenes Heim (das er aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben muss) durchstreift. Ulrich Seidl pervertierte dieses Gefühl mit seinem Hybrid-Bastard Im Keller. Darin interessiert er sich weniger für das repräsentative Wohnzimmer, in dem Besuch empfangen wird, sondern für die verborgenen Kellerräumlichkeiten, die sich der öffentlichen Preisgabe gemeinhin widersetzen. Seidls Inszenierung macht deutlich, dass diese Heime nicht unabhängig von ihren Besitzern existieren und ordnet die Bewohner in ihren Kellern als Teil des Einrichtungsverbunds an. Die klaustrophobe Dimension von Heim, wird in Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles deutlich. Die spießbürgerliche Wohnung der Protagonistin Jeanne ist ein Gefängnis – halb selbstgewählt, halb durch gesellschaftliche Zwänge auferlegt – das die Bewohnerin überdeterminiert. Wer sein Heim und seine Heimat aber verlassen muss, der versuche laut Dogramaci notdürftig das wichtigste Hab und Gut in einem Koffer unterzubringen. Menschen mit Koffern seien ebenfalls Sinnbilder für Flucht und Vertreibung. Marcel Duchamp hat darauf 1941, bei seiner Abreise aus Frankreich, reagiert und im Boîte-en-Valise seine Schlüsselwerke in Miniaturform in einem Koffer untergebracht – ein Werksverzeichnis im Geiste des Zeitalters der Massenmigration.

Dogramacis Buch ist ein gelungenes Projekt. Wer letztgültige Antworten sucht, wird enttäuscht sein, doch wer mehr an Fragen interessiert ist und sich diverse neue Diskursfelder erschließen möchte, der ist mit Heimat. Eine künstlerische Spurensuche gut bedient. Dogramaci bietet eine Ausgangsbasis für weiterführende Überlegungen, die sich nicht in der der überschaubaren Zahl an Fallbeispielen erschöpft, die sie anführt, sondern Raum lässt für eigene Konzepte und Gedanken.

Film Lektüre: Räume in der Zeit. Die Filme von Nikolaus Geyrhalter herausgegeben von Alejandro Bachmann

Räume in der Zeit von Alejandro Bachmann

„Wo sich Kriege, Umweltkatastrophen und der technische Fortschritt wiederkehrend und fortlaufend einen Weg bahnen, da verschwindet der Mensch langsam aus der Welt“, heißt es im Umschlagtext von Räume in der Zeit. Die Filme von Nikolaus Geyrhalter, der soeben im Sonderzahl Verlag erschienenen ersten Monografie über den österreichischen Filmemacher. Schon ein Durchblättern des Buchs zeigt, dass es sich hierbei um ein sorgfältig konzeptioniertes Werk handelt, dass seinem Gegenstand um nichts nachsteht. Lange Bilderstrecken laden zwischen den Textbeiträgen zum Eintauchen in die Bilderweltern Geyrhalters ein und sollen gleichberechtigt neben den sieben Textblöcken stehen. Man kann einer solchen Bebilderung in einem Werk über Film immer kritisch gegenüber stehen, in diesem Fall macht sie jedoch Sinn. Geyrhalters Stil eignet sich durch die frontale, zentralperspektivische Ausrichtung seiner bewegten Bilder wie kaum ein anderer zur Reproduktion mittels Filmstills.

Das Jahr nach Dayton von Nikolaus Geyrhalter

Das Jahr nach Dayton

Herausgeber Alejandro Bachmann, der für das Buch eine beeindruckende Riege an Autoren versammelt hat, macht im ersten von vier längeren Essays den Anfang. Unzählige Ideen, die in seinem Beitrag Erwähnung finden, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch: das Verhältnis von Nähe und Ferne, von Menschen und Orten, von Raum und Zeit. Bachmann nennt Geyrhalters Kino ein Kino der Spuren, Spuren die Menschen in der Welt zurückgelassen haben. Seien es Reifenspuren im Saharasand wie in 7915 km, Spuren von Panzerketten am Truppenübungsplatz Allentsteig, Spuren von Radioaktivität im ukrainischen Pripyat oder Spuren des Krieges im Bosnien-Herzegowina der Neunzigerjahre. Ich hatte bei Geyrhalters Filmen immer das Gefühl, dass er sich mehr für Orte und Räume, als für Menschen interessiert, aber es sind eben die Veränderungen der Orte durch den Menschen, dessen Spuren, für die er sich am meisten interessiert. Es geht bei Geyrhalter also immer um das Verhältnis vom Menschen zu einem spezifischen Raum (und auch zu einer spezifischen Zeit).

Volker Pantenburg schließt in seinem Beitrag in gewisser Weise an das „Kino der Spuren“ bei Bachmann an, wenn er von einem „Kino des Danach“ schreibt. Geyrhalter, so Pantenburg, besuche Orte nachdem etwas vorgefallen ist, etwas seine Spuren hinterlassen hat, sei es Bosnien nach dem Vertrag von Dayton, Pripyat nach dem Unfall von Tschernobyl oder Dörfer Westafrikas nachdem die Dakar-Rallye sie passiert hat. Besonderes Augenmerk legt Pantenburg auf die Montage, für die Geyrhalter in fast allen seinen Filmen auf die Dienste seines langjährigen Cutters Wolfgang Widerhofer zurückgreift. In der Montage sei den beiden der Übergang von einer Szene zur anderen auf der Mikroebene immer genauso wichtig, wie das Verhältnis der Schnitte zum Gesamteindruck. Die Filme setzen aus einer Abfolge von Mikroerzählungen (wie in Das Jahr nach Dayton, Pripyat, 7915 km oder Über die Jahre) oder einem Ablauf von bestimmten Prozessen (Unser täglich Brot, Donauspital, Abendland) eine größere Geschichte zusammen – eine moderne Interpretation dialektischer Montage könnte man sagen (und tatsächlich wird Geyrhalter im Buch an mehreren Stellen mit Dziga Vertov in Verbindung gebracht).

Angeschwemmt von Nikolaus Geyrhalter

Angeschwemmt

Überrascht war ich den Namen Tom Gunning zu lesen, der mir eher durch seine Arbeiten zum frühen Kino bekannt ist. Er beschäftigt sich mit Unser täglich Brot und verknüpft den Film mit Darstellungsprinzipien der Stummfilmzeit – explizit nennt er die sowjetischen Konstruktivisten und Fritz Langs Metropolis. Im Speziellen geht es ihm um die spezifische Form der Sichtbarkeit von Maschinen („Maschinen-Porno(grafie)“), die Unser täglich Brot mit diesen Filmen gemeinsam hat. Geht man noch weiter zurück in der Zeit, finden sich auch Parallelen zu vor-narrativem Kino, das mehr daran interessiert ist zu zeigen als zu erzählen. Unser täglich Brot ist für Gunning ebenfalls mehr daran interessiert eine Form von Spektakel (sei es faszinierend oder abstoßend) zu zeigen, als zu narrativisieren: ein spannender Gedanke, leider geht der Text jedoch nicht über Unser täglich Brot hinaus und versäumt damit größere Strukturen im Schaffen Geyrhalters aufzudecken.

Im letzten der vier längeren Essays setzt Bert Rebhandl ebenfalls bei Unser täglich Brot an, kommt aber schon bald zu einem ähnlichen Schluss wie Volker Pantenburg: „Erst wenn man sie [Geyrhalters Filme] auf das implizite Ganze hin befragt, das sich in ihnen spiegelt, geben sie ihren Sinn preis.“ Dabei geht er jedoch noch einen Schritt weiter: Nicht nur auf der Ebene der einzelnen Filme beziehungsweise der einzelnen Schnitte müsse die Verbindung von Mikro- und Makroebene berücksichtigt werden, sondern der Blick aufs Gesamtwerk müsse ebenfalls immer gewahrt werden. Rebhandl unternimmt also einen konzisen Parkurlauf durch Geyrhalters Oeuvre in der die einzelnen Filme sehr schön zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Man könnte Rebhandls Fazit etwa so paraphrasieren: Es ist der stete Kampf zwischen Konkretem und Abstraktem, der die Besonderheit von Geyrhalters Filmen ausmacht.

Abendland von Nikolaus Geyrhalter

Abendland

Auf diese vier Essays folgen zwei Interviews, eines mit Geyrhalter selbst, das andere mit Wolfgang Widerhofer, die in vielerlei Hinsicht die Themen der anderen Texte aufgreifen und aus Produktionssicht reflektieren. So bezieht sich Widerhofer zum Beispiel auf die Frage nach künstlerischen Einflüssen bei Unser täglich Brot unter anderem auf jene Filmemacher, die auch Gunning in seiner Analyse vorschlägt. Im letzten Textblock ist schließlich noch jedem der zwölf Filme von Geyrhalter ein kurzer Essay gewidmet. Danach lohnt es sich jedoch weiterzublättern, denn auf den letzten Seiten verbirgt sich ein kleiner Schatz: neben einer Sammlung an Besprechungen zu Geyrhalters Arbeiten, findet sich dort eine umfangreiche Bibliografie zu Dokumentar- und Essayfilm.

Es ist gut und wichtig, dass Nikolaus Geyrhalter nun eine Monografie gewidmet wurde und ein weiterer Schritt in der publizistischen Aufarbeitung des großartigen österreichischen Dokumentarfilmschaffens der letzten Jahrzehnte. So befindet Bachmann: „Weil sie es betonen, fasziniert an den Filmen Nikolaus Geyrhalters genau das was am Kino ohnehin das Spannendste – weil nie ganz aufzulösen – ist: jener (nur scheinbare) Widerspruch zwischen seinem Potenzial, die Welt aufzuzeichnen und den Möglichkeiten des formalen, künstlerischen Eingriffs – Dichtung und Wahrheit.“

Rainer on the Road: Museum für Film und Fernsehen

Marlene Dietrich Schrein

Prolog

Seit Frühjahr dieses Jahres wird das Wiener Kulturangebot durch ein Literaturmuseum ergänzt. Untergebracht ist es standesgemäß im Grillparzerhaus, dem ehemaligen Hofkammerarchiv, also der langjährigen Arbeitsstätte des österreichischen Nationaldichters in unmittelbarer Nähe zum Metro-Kino. Da ich am Aprilwochenende der Eröffnung rund zwei Stunden in der Innenstadt totzuschlagen hatte, der Besuch zum Auftakt kostenlos war und ich mir wenig darunter vorstellen konnte, wie man Literatur museal aufbereiten könnte, sah ich mir die Sache mal an. Es stellte sich heraus, dass die Kuratoren meine Phantasielosigkeit teilten. Zwar entpuppte sich der Rundgang als beeindruckender historischer Parcours durch die jüngere österreichische Geschichte, aber darüber hinaus wurde mein Verständnis von Literatur durch die Masse an ausgestellten Manuskripten, Briefen und Urkunden nicht sonderlich bereichert. Es scheint, die verstaubt, schummrige Atmosphäre des Standorts hat auf die Gestaltung der Ausstellung abgefärbt: der Rundgang ist öd, lieblos und viel zu oberflächlich. Das Museum ist gefühlsmäßig dazu konzipiert Deutschlehrern das Langweilen ihrer Schulklassen zu erleichtern. Dementsprechend fehlt die kritische Distanz zu Literatur und Politik, fehlen die Verknüpfungen zwischen Kunst und Gesellschaft, die vielerorts angedeutet werden. Man begnügt sich mit einer mäßig kontextualisierten Flut an Schaukästen, die mehr oder weniger interessante Fundstücke präsentieren, die sich über die Jahre in der Nationalbibliothek zusammengesammelt haben.

Filmhaus Berlin

Berlin, August 2015. Déjà-vu.

Ein Besuch im Museum für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz führt unwillkürlich zu einem Zurückerinnern, an diesen Samstagvormittag im April. Das Filmhaus, ein modernes Gebäude am Potsdamer Platz, wirkt imposant – ein prächtiger, moderner Palast einzig und allein dem Bewegbild gewidmet. In den Obergeschossen sind die Studenten der dffb untergebracht, darunter die Büros der Deutschen Kinemathek und des Berlinale Forums, sowie im Kellergeschoss die beiden Kinosäle des Arsenals. Die Ausstellung selbst, die im September 2000 eröffnet wurde, speist sich aus den ergiebigen Sammlungen der Deutschen Kinemathek – würde man sich alles, was es hier an Ton- und Bildaufnahmen zu entdecken gibt zu Gemüte führen, dann könnte man wohl mehrere Nachmittage im Museum verbringen. Nur: Warum sollte man das? Die Deutsche Kinemathek als Forschungszentrum und Archiv ist eine großartige Institution, umso krasser der Schock, wenn man sich mit der Aufmachung der permanenten Ausstellung konfrontiert sieht. Diese lässt leider weniger auf ein kuratorisches Gesamtkonzept, als auf eitle Gefallsucht und profitorientierte Touristenabfertigung schließen. Zugegeben sind die ersten Schritte in die Ausstellung atemberaubend, eine Art Spiegelkabinett mit Videomonitoren, doch schon bald müssen sie lieblosen Schaukästen weichen. Skizzen, Verträge, Manuskripte und Briefe sind hier aneinandergereiht, dazwischen wird die deutsche (bzw. Berliner) Filmgeschichte im Eiltempo abgehandelt. Man schmückt sich mit den großen Namen jener, die ihren weltweiten Ruhm der amerikanischen Filmindustrie zu verdanken haben. Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch, Marlene Dietrich sind die Helden und Idole der Vergangenheit, denen gehuldigt wird. Es ist eine regelrechte Fetischisierung dieser internationalen Größen aus besseren Tagen, denen ganze Ausstellungsräume als pervertierte Devotionalienschreine gewidmet sind. Billigster Populismus ist das, unkritisch und nicht einmal besonders gut recherchiert (Plakatives Beispiel: als bedeutender Regisseur des „Proletarischen Kinos“ der Zwischenkriegszeit wird Phil Jutzi angeführt – ohne darauf hinzuweisen, dass derselbe wenige Jahre danach seine Parteimitgliedschaft wechselte und fortan Propagandafilme für Goebbels drehte). So spannend der Prozess der Kanonbildung auch ist, von einem Museum dieser Größenordnung darf man sich doch mehr Tiefgang und historische Präzision erwarten. Es wird ein Bild der deutschen (bzw. Weimarer) Filmindustrie beschrieben, das aus heutiger Sicht schlicht nicht haltbar ist. Hollywood wird als Antipode dargestellt, als Mekka des Kommerzes, während in Berlin zur gleichen Zeit jene künstlerisch wertvollen Filme gedreht wurden, die heute als Klassiker gelten. Diese Sicht ist nur erklärbar, durch die fehlende Tiefe der Aufbereitung, denn das neben den Langs und Murnaus auch in den deutschen Filmstudios industrielle Massenware à la Hollywood im Akkord gefertigt wurde, ist kein filmhistorisches Geheimnis. Doch die Fetischisierung und Nostalgisierung nimmt noch kein Ende. Ähnlich verzerrt werden die Protagonisten des Neuen Deutschen Kinos vereinnahmt und zu Rebellen verklärt. Kaum ein Wort zu den spannenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die in der Nachkriegszeit in der kulturellen Explosion der unzufriedenen jungen Generation gipfelte.

Auf einer anderen Ebene kann man sich fragen, ob es überhaupt Sinn macht, Film und Filmgeschichte so zu präsentieren. Die Nähe zum Material ist nicht gegeben, sofern man vom Material als den Filmen selbst ausgeht. In anderen Kunstmuseen werden mir doch auch keine Originalpinsel oder Auktionsberichte präsentiert, sondern die Werke selbst. Alles in allem, könnte man nun zur Verteidigung vorbringen, geht es hier ohnehin mehr um Kinokultur, Filmindustrie und eine sehr verkürzte und deshalb problematische Präsentation einer sehr verengten Sicht auf die Filmgeschichte. Daraus folgt eine sehr zwiespältige Programmatik, denn das propagierte Genietum der großen deutschen Meisterregisseure lässt sich nur schwer mit der arbeitsteiligen, industriellen Fertigung von Filmen, wie sie nebenan glorifiziert wird, in Einklang bringen. Das ist alles sehr schade, denn ohne Zweifel haben Film, Kino und die Sammlung der Deutsche Kinemathek mehr zu bieten. So jedoch, ist es sinnvoller seine Zeit drei Stockwerke tiefer im Arsenal Kino zu verbringen.

Die Fahrt in den Raum ist ein lauernder Tiger

An manchen Tagen stellt man sich die Frage, warum einen ausgerechnet das Kino verführt hat.

(Eigentlich stellt man sich diese Frage jeden Tag, denn man verliebt sich immer wieder neu)

Ich glaube immer wieder mal, eine Antwort für mich gefunden zu haben. Heute und gestern ist diese Antwort: Die Fahrt in den Raum. Damit meine ich jene Entscheidungen der Kamera, näher zu gehen, etwa zu suchen, einzudringen. Es ist in diesen Bewegungen, in denen die Illusion geboren wird, hier kommt es zur Berührung meiner Augen mit der Leinwand. Es gibt ganz unterschiedliche Ausprägungen einer solchen Fahrt. Es gibt seit jeher den Phantom Ride, jene Methode, in der wir uns mit der Kamera auf einem sich bewegenden Fahrzeug befinden und mit ihr in die Welt, die Welt des Films fahren. Hier versteckt sich die Möglichkeit einer Reise ohne Bewegung, das bewegungslose Driften ist ein Träumen in den Augen des Kinos, ich kann völlig unbeweglich sein, krank und verfault und doch mit der Kamera in die weite Welt hinaus. Es reicht mir manchmal nicht, wenn diese weite Welt durch einen Schnitt plötzlich vor mir liegt. Ich muss den Weg spüren, sehen, hören. Ich habe viel über die Züge und Phantom Rides bei Hou Hsiao-Hsien geschrieben, aber der ultimative Phantom Ride seines Kinos ist gar kein Phantom Ride und findet sich in Goodbye, South Goodbye, eine lange Motorradfahrt auf einer schmalen Bergstraße. Es ist deshalb ein so gelungener Phantom Ride, weil er sich selbst in seiner Bewegung verliert. Bei einem solchen Phantom Ride geht es nicht um das Ziel der Bewegung, die Bewegung selbst ist das Ziel. Bei besseren Griffith Filmen wie Way Down East verlegt sich diese Bewegung sogar in die Montage, die wie Eisschollen durch die Filme treiben. Ist es also die Bewegung durch den Raum, die mich verführt?

Oder ist es vielmehr die Zeit, die in diesen Raum geschrieben wird? Filmemacher wie Belá Tarr oder Jia Zhang-ke arbeiten beständig mit dieser Verzeitlichung der Bilder. Bei ihnen bedeutet eine Fahrt in den Raum auch nicht zwangsläufig eine Fahrt nach vorne. Sie kann seitlich verlaufen wie zu Beginn von Sátántangó, sie kann sich diagonal-schwenkend vorwärtsbewegen wie häufig in Still Life. In diesen Kamerabewegungen sammeln sich die Geschichte, die Politik und die Poetik der Figuren und ihrer Umgebungen. Vor allem sind es wohl die Erinnerungen. Es gibt aber eine ganz andere Frage an solche Bewegungen, die man mit der berühmten vorletzten Einstellung in Michelangelos Antonionis Professione: reporter diskutieren kann. In der Szene dreht sich die Kamera durch ein Gitter hindurch um 360 Grad und lässt wichtige Handlungen Off-Screen passieren, obwohl man sich fragen kann, ob das entscheidende Element der Szene nicht die Bewegung der Kamera selbst ist. Die Frage lautet, ob solche Kamerabewegungen ein distanziertes Schauen des Filmemachers bedeuten, in dem die autonome Kamera sozusagen die Freiheit der Auswahl des Blicks beleuchtet oder ob wir in diesen Bewegungen die Bewegung der Seele des und der Protagonisten nachempfinden, eine Zustandsbeschreibung, die eben mit Filmemacher wie Tarr an der Zeit hängt, bei anderen an der Sinnlichkeit, spirituellen Erhebungen, Erotik und Lust oder doch dem kinematographischen Selbstzweck, einer Masturbation der Bewegung (wie bei Hou Hsiao-Hsien, obwohl dieser auch gerne mit der Geschichtlichkeit arbeitet). Die fließende Kamera ist also ein Ausdruck innerer Zustände und der Macht der Sichtbarmachung zugleich. Sie vermag eine Erfahrung der Gefühle zu geben (das gilt immer wieder auch für Statik) und gleichzeitig hinter den fragilen Schleier blicken, der diese Gefühle verbirgt.

Der Schuss danach: Professione: reporter

Der Schuss danach: Professione: reporter

Einzig der nervöse Zustand scheint mir in der Montage besser aufgehoben, aber ein Schnitt nimmt ihm auch das Erdrückende der Zeit. Das Fiebrige, Nervöse, Panische zeichnet sich weniger dadurch aus, dass man die Zeit verliert wie in den schnellen Schnitten, die manche Filmemacher dafür verwenden, sondern gerade dadurch, dass die Zeit nicht aufhört, nicht unterbrochen wird, sich nicht verändern lässt. Das Fließende müsste also verstört werden. Hier kann der Ton eine enorme Rolle spielen, denn auch er bewegt sich durch die Zeit und den Raum. Carl Theodor Dreyer hat mal geäußert, dass ein Verständnis für die Existenz von Tönen, die immer existieren auch in dramatischen Szenen wichtig wäre. Es geht also darum, dass man das Flugzeug am Himmel auch hört, wenn man stirbt, es geht um eine Unaufhaltsamkeit der Welt und eine individuelle Nichtigkeit im Strom der Zeit. Töne dringen beständig in die Räume ein und das Kino tut gut daran, das zu dokumentieren statt – wie so oft im industriellen Kino – das Drama zu isolieren.
Die Gleichzeitigkeit der Dinge wie sie auch in einer statischen Einstellung, die sich durch den Raum bewegt, findet, nämlich jener Tischszene in Cristian Mungius 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile ist entscheidend für die Wahrnehmung des Kinos. Hände und Stimmen greifen in den Kader, sie oszillieren zwischen On- und Off-Screen, unser Blick wird gelenkt, aber er wird mitten im Chaos gelenkt. Es geht hier um die Kontrolle des unkontrollierbaren Lebens. Dieses Gefühl erweckt sich bei mir nur, wenn das Leben auch dort ist, das Leben auf Film. Erst dann machen Dinge wie Framing, Sound-Design oder Lichtsetzung Sinn. Es geht nicht darum, einen Dialog oder ein Gesicht aus dem Film zu nehmen und es nach vorne zu holen, sodass wir es alle sehen können, es geht darum das Gesicht oder den Dialog im Film so zu inszenieren, dass wir sowieso dort hinsehen, auch wenn wir in jeder anderen Ecke auch etwas spannendes sehen würden. Ähnlich verhält es sich in der Malerei, nur dass es im Film die Macht der Bewegung gibt.

Die Zufahrten in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson (wie in jedem seiner Filme) sind pures Kino. Sie existieren exakt zwischen der absoluten Kontrolle eines Filmemachers im Stil eines Stanley Kubricks und der völligen Offenheit der Welt. In diesen Fahrten in den Raum offenbaren sich die Sicherheit eines manisch ausgelöschten Zweifels (Kubrick) und die Essenz dieses Zweifels selbst (Tarkowski). Anderson zelebriert den Rausch der Bewegung, um im Gesicht einer Emotion zu landen. Aber auch die Fahrt selbst berührt schon die Wahrheit und die Hintergründe dieser Emotion. Was hier etwas abgehoben klingt, soll eigentlich nur heißen: Eine Kamerafahrt auf ein Objekt zu, erzählt immer zur gleichen Zeit, von dem, was es filmt und von der Fahrt selbst. Was bedeuten diese Fahrten? Sind sie der neugierige Blick, der schweifende Blick, der suchende Blick, der täuschende Blick, sind sie ein Blick? Oder sind sie tatsächlich eine Penetration, eine Aggressivität, ein Tabu wie Jacques Rivette das über Gillo Pontecorvo geschrieben hat. Es ist mit Sicherheit so, dass man nicht immer auf etwas zufahren sollte, oder? Man muss vorsichtig sein. Für das rustikale Sehen schienen mir immer Schnitt oder Zoom geeigneter. Eine Zufahrt ist etwas zerbrechliches, sie ist wie das erste Wort an eine schöne Frau, der erste Kuss, die Zehenspitzen im kühlen Wasser nach einem langen Winter. Genau darin liegt ihre Schönheit. Sie kann zugleich vom Zögern und der Vorsicht des Kinos erzählen als auch von der Überzeugung und dem Mut. Wenn ein Filmemacher Fahrten ganz bewusst und nicht andauernd einsetzt wie beispielsweise Manoel de Oliveira oder Apichatpong Weerasethakul (unterdrückte Gefühle als perfektes Interesse für eine Kamerafahrt, die zugleich entblößt und bekleidet?), dann wirkt der Einsatz dieser Stilistik wie der mutige Schritt in ein neues Leben oder ein erster Atemzug nach einer Dürre. Einen ähnlichen Effekt erzielen Filmemacher immer wieder mit Musik, die erst spät im Film einsetzt. Beispiele hierfür wären Jauja von Lisandro Alonso und El cant dels ocells von Albert Serra. Die Kamerafahrt in den Raum ist wie ein lauernder Tiger. (wenn sie richtig eingesetzt wird: bewusst, behutsam, zärtlich, gewaltvoll).

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Die erste Einstellung in Man Hunt von Fritz Lang, mehr eine Kranfahrt denn eine Zufahrt und doch beides zugleich: Eine Aufblende und ein Titel: „Somewhere in Germany- shortly before the War“ und schon bewegen wir uns durch ein für Deutschland eher untypisches Gestrüpp, ganz so als wären wir in The Thin Red Line von Terrence Malick, Gräser fassen in unser Augen, sie neigen sich im Wind der sich bewegenden Kamera. Nebel steigt auf vom Boden, die Mitte des Bildes ist erwartungsvoll leer, eine unerträgliche Spannung und Konzentration liegt in den Sekunden. Sonnenlicht drückt durch den dicken Wald und Nebel, die Kamera richtet sich langsam auf den Boden, als würde sie Spuren suchen. (eine ähnliche Einstellung zu Beginn eines Films findet sich in The Big Lebowski von den Coen-Brüdern). Eine fließende Blende und nun entdecken wir tatsächlich eine Spur auf dem Boden, eine menschliche Fußspur auf sandigem Untergrund. Die Kamera bewegt sich kontinuierlich in der gleichen Geschwindigkeit weiter und eine weitere fließende Blende bringt uns zum Held des Films, einem Jäger im Wald, einem lauernden Tiger (wir denken an Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul, aber trauen uns nicht zu sprechen, ob der greifbaren Spannung, die uns auch an die Fahrt des Bootes in das Lager von Brando in Apocalypse Now denken lässt mit Trommeln aus der Ferne und einem Tiger im Film). Die Kamera und der Jäger verharren, sie blicken sich um, ein leichter Schwenk. Ein Geräusch. Der Jäger weicht zurück und hält sich an einem Baum fest. Die Kamera schwenkt leicht nach unten. Sie hat ihre Beute, den Helden längst im Visier, sie ist im Vorteil. An dieser Stelle schneidet Lang zum ersten Mal in einen POV seiner Hauptfigur, also just an der Stelle, an der er diese gefunden hat. Erst die Kontroller durch die Fahrt hat den Weg frei gemacht für eine bewusst-klassische Montage. Wie der Jäger selbst hat sich die Kamera durch den Wald herangepirscht. Viele Filme beginnen bei der Jagd, viele Filme beginnen mit einer Fahrt.

Man Hunt von Fritz Lang

Man Hunt von Fritz Lang

Die besten Filme finden ihre Beute nie. Sie streifen umher, lösen sich wieder, sehen etwas, sehen nichts, wollen etwas sehen, sie sind zu weit weg, zu nah, sie haben eine richtige Position, sie warten, sie suchen, sie schlafen, sie bewegen sich und bewegen sich und bewegen sich und irgendwann schießen sie uns direkt ins Herz.

Viennale 2014: Phantom Power von Pierre Léon

Phantom Power Pierre Léon

Narzisstische Blüte einer französischen Melancholie treibt durch ihr Gewissen; was treibt dich an, welchem Strang folgst du? Französische Mädchen trennen sich in einem Machtspiel des Schmerzes und wir hören diese Hypnose die ganze Nacht (der erste Schnitt auf das junge Mädchen mit glasigem Blick, ein Hauch von einer Sekunde bevor sie spricht, das ist ein solcher Moment von dem man träumt), verrauschter Sturm eines Korridors, ein nackter Mann in einer roten Nische, in einer roten Nische ist ein nackter Mann. Er liest ein Gedicht, das er auswendig kann. Appollinaire (Vendémiaire). Das ales und mehr ist Phantom Power von Pierre Léon.

Hommes de l’avenir souvenez-vous de mo
Je vivais à l’époque où finissaient les rois
Tour à tour ils mouraient silencieux et tristes
Et trois fois courageux devenaient trismégistes

Russland ragt wie ein süffiger Schatten in die nächtlichen Reflektionen eines ruhigen Hauses, ein verspielter Suizid, wohin führt dein Weg: Die Hände von Fritz Lang, die Hände bei Fritz Lang, Tränen tropfen auf die Remains, das Bleibende bleibt. Ein Gespräch am Fenster, ein Mann auf einem Fahrrad, die Augen eines Mannes, dann wieder die Hände: In der Badewanne. Wie sehen Hände in der Badewanne aus?

Que Paris était beau à la fin de septembre
Chaque nuit devenait une vigne où les pampers
Répandaient leur clarté sur la ville et là-haut
Astres mûrs becquetés par les ivres oiseaux
De ma gloire attendaient la vendange de l’aube

Phantom Power

Was treibt? Was treibt dich an? Es tropft auf die Hände, sie knöpfen, sie schreien, wenn sie sich spreizen. Wann hat Fritz Lang über Hände nachgedacht? Ein Kino macht dieser Pierre Léon, mit dem muss man lernen umzugehen. Er hat diesen Film als eine Antwort auf die ausbleibende Finanzierung eines anderen Films gedreht. In den uninspirierteren Momenten wirkt das ganze wie eine Müllsammlung, in der Léon das unbrauchbare seines filmisches Schaffens poetisch gebraucht, in besseren Momenten macht er Musik. Nichts geht so ganz zusammen in diesem Film, der zugleich kein Film ist und tausende. Ein wenig Chris Marker steckt im Film, in der nachdenklich-lyrischen Art des Voice Overs in den Fragen über den Blick und die Zeit. Ein wenig Jonas Mekas in der Spontanität der Bilder, ihrer Flüchtigkeit. Und ganz sicher eine der lyrischsten Found Footage Montagen, die ich bisher sehen durfte: Die Hände bei Fritz Lang (ist das wirklich nur Fritz Lang?). Am Ende ist der Film wie eine trunkene Nacht, ein Dämmerlicht und ob man es als Morgen oder als Nacht wahrnimmt, ist eine ganz andere Geschichte. Léon arbeitet fast wie ein DJ seiner Erinnerungen. Aber diese Erinnerungen existieren auch ohne ihn und werden nur in ihrer Montage zu seiner Erinnerung an diese verlorene Nacht in Paris.

Un soir passant le long des quais déserts et sombres
En rentrant à Auteuil j’entendis une voix
Qui chantait gravement se taisant quelquefois
Pour que parvînt aussi sur les bords de la Seine
La plainte d’autres voix limpides et lointaines