Bis bald und liebe Grüße – Gedanken zu zwei filmischen Postkarten (50 Jahre Berlinale Forum)

Private Nachrichten, wie etwa Briefe, Postkarten oder E-Mails finden sich im Film permanent wieder. Sie sind ein etabliertes Verkehrsmittel der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Orten. Handlungen, die zuerst in keiner Kausalität zu einander stehen, werden durch das bloße Erscheinen einiger geschriebener Worte verknüpft. Sobald die Nachricht eine Hand verlässt, ist sie unwiderruflich. Der Nächsten ausgehändigt, sind die Folgen unvermeidlich. Ihr Austausch erscheint im Film als geradezu totalitär. War ich noch zu Beginn überzeugt davon, der Film würde sich scheuen, die Intimität eines Briefes verletzen, fiel mir nach längerem Nachdenken hingegen auf, die Liste an Beispielen von geschriebenen, verlorenen, vorgelesenen, verbrannten oder auch gestohlenen Nachrichten ist schier unendlich. Auch wenn der Brief scheinbar untrennbar zum Film gehört, birgt sein Vorschein dennoch eine gewisse Scham. So ist er nicht lediglich ein faszinierender Fetisch des Films, der Rätselhaftes oder Geheimnisvolles verschleiert. Sondern: Die Allgegenwart und Eigentümlichkeit des Briefes im Film veranschaulicht geradezu die Form des Films im einer Sinne der allgemeinen Produktion von Bedeutung. Betrachtet man den Film selbst als eine Art des Briefes, lässt sich verstehen, wie seine Produktion und Konsumtion wechselseitig auf einander bezogen sind. Inhaltliche Bedeutung als etwas vermeintlich grundsätzliches erscheint auf einmal gläsern.

Gemeinsam mit 21 ausgewählten Filmen aus den vergangenen 50 Jahren des Berlinale Forums erschienen 2020 kurze, filmische Grußbotschaften, die sich wohl als Postkarten-Filme bezeichnen ließen. Nicolas Wackerbarths Beitrag ist ein solcher in besonderer Weise. Dabei war der Absender der Nachricht garnicht Wackerbarth selbst, sondern Gerhard Friedl, der 2009 viel zu früh starb. Nach einer Diskussionsveranstaltung von Revolver am 15. Juni 2006 wandte sich Wackerbarth an Friedl, welcher mit einer längeren E-Mail antwortete, in der er die Idee eines „Operativen Films“ entfaltete. Schnörkellos spricht Wackerbarth diesen Text über den fast beiläufig wirkenden Videomitschnitt eines Wrestling-Kampfes. Erst mit der Filmform, in die Wackerbarth die Worte Friedls überführt, scheint die Botschaft ihre eigentümliche Aussagekraft anzunehmen.

Gerhard Friedls Worte klingen dabei seltsam präsent. Es sind nicht die eines Verstorbenen aus einer vergessenen Zeit. Wohl eher meint man, der Film spräche mit sich selbst. Die hervorgebrachten Argumente sind dicht und präzise zugleich. Es handelt sich nicht nur um eine Erinnerung, wie es am Ende heißt, sondern um einen Gedanken, der hier für einen Moment greifbar wird. Wackerbarth macht sozusagen die Worte Friedls selbst operativ. Das heißt, er verwendet sie so, dass die Herstellung ihrer Bedeutung im zerrütteten Wechselverhältnis von Sicht- und Hörbarem des Filmes erfahrbar wird. Gerade dann, wenn Friedl abschließend festhält: „Ich denke, wir brauchen ein produktives Publikum; daran könnten wir unsere Produktion ausrichten“. Der Kampf dient nicht einfach als Illustration, er ist die Reflexion des Gesprochenen. Eine Lücke verbleibt, die sich nur spekulativ schließen lässt. Diesen Film jedes Mal von Neuem zu sehen, heißt jedes Mal von Neuem vor dem Rätsel zu stehen, das sich nicht durch blinde Logik, aber durch Erfahrung und Formdenken entschlüsselt. Die kryptische Bezeichnung eines „produktiven Publikums“, die wohl indirekt auf Karl Marx’ Einleitung zu den Grundrissen verweist, ließe sich so verstehen, dass Friedl ein begreifendes Publikum einfordert. Es soll begreifen, wie die filmische Konsumtion, Bedeutung als Inhalt mittels der Form des Filmes produziert. Die Einsicht, das Publikum ist somit Mittel und Zweck des Filmes gleichermaßen, mag banal klingen, zeichnet aber die spezifische Weise des Films als eine denkende Form aus. Nicht der Film denkt, sondern die, die ihn produzieren und konsumieren.

Ein zweiter Postkartenfilm sollte jedoch nicht vergessen werden. Ruth Beckermanns Botschaft ist ebenso wie Wackerbarths Film ein Gruß in doppelter Hinsicht. Auch sie bedient sich der Worte eines Anderen – Paul Celan. Auf einer pittoresken Postkarte hielt Beckermann einen Abschnitt des Prosastückes Gespräch im Gebirg fest, den sie im Film sogleich vorliest. Es ist aus einer Rede Celans bekannt, dass dieser Text im Zusammenhang eines verpassten Treffens mit Theodor W. Adorno 1959 in der Schweiz steht. In Beckermanns sanfter Stimme verliert sich die Formstrenge, die Celan in seinen Gedichten, beeinflusst von Hölderlin, verankerte. Fast schon spielerisch oder verträumt reihen sich die Worte bei ihr aneinander. Beckermann bezeichnet diesen Abschnitt als den „schönsten Text über Film“ den sie kenne und immer bei sich habe. „Halb Bild und halb Schleier“ – Wohl kaum anders ließe sich diese rätselhafte Allegorie verstehen, als wäre sie nicht verborgen dem Film gewidmet. Gewissermaßen lässt sich in den Worten Celans eine lyrische Kehrseite von Gerhard Friedls formuliertem Gedanken wiedererkennen. Der Gedanke entblößt sich wie ein geteiltes, unausgesprochenes Geheimnis – eine Chiffre – ein säkularisierter Mythos.

Nicolas Wackerbarth for #Forum50 from Berlinale Forum on Vimeo.

Ruth Beckermann für #Forum50 from Berlinale Forum on Vimeo.

CU Local 226/Caesars Flamingo Sahara

Text: Gerhard Friedl & Laura Horelli

Die beiden Texte stammen aus Gerhard Friedl – Ein Arbeitsbuch, erschienen 2019 bei Österreichisches Filmmuseum / Synema.
Weitere Informationen hier.

Wie danken der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums, Synema, dem Herausgeber Volker Pantenburg, sowie Laura Horelli und Benedikte Damköhler für die freundliche Erlaubnis, die Texte hier zu veröffentlichen.

CU Local 226

Dokumentarfilm
75 Minuten – HD

Buch, Regie: Laura Horelli, Gerhard Friedl
Kamera, Montage: Gerhard Friedl
Produktion: Mischief Films Wien

CU Local 226 ist ein Dokumentarfilm über Las Vegas. Der Film stellt Leute vor, die hier arbeiten und leben.

Las Vegas ist die schnellstwachsende Stadt der USA. Die Einwohnerzahl hat sich in den letzten 12 Jahren auf 2 Millionen verdoppelt. Seit 1989, dem Jahr der Eröffnung des ersten „Megaresorthotels“, des Mirage, werden jährlich mehrere tausend Hotelzimmer neu auf den Markt gebracht. Die Hotels sind architektonisch überaus komplexe Gebilde mit Schlaftürmen, Spielhallen, Restaurant- und Shoppinglabyrinthen, historischen Themenparks, fließenden und brüchigen Übergängen, Schocks und Sensationen, Spiegeln, Displays, Lichtspielen. Einen Ort, von dem aus Distanz und Überblick möglich wäre, gibt es nicht. Architektonisch hat der Las Vegas Boulevard, die Straße, an der die Hotels stehen, ein exzessives Erscheinen.

Las Vegas ist eine extreme Stadt, und aus europäischer Perspektive stellt sich die Frage, ob Las Vegas eine Stadt ist. Dem Las Vegas Boulevard (und der Fremont Street, der älteren Casinostraße) stehen endlose Einfamilienhäusersiedlungen gegenüber. Der Übergang vom einen Bereich zum anderen ist unvermittelt. „Masterplanned communities“ werden Jahr für Jahr neu in die Wüste hinaus errichtet und verkauft.

In den populären Darstellungen von Las Vegas, etwa in Scorseses Casino, wird die Stadt nostalgisch verklärt. In anderen Filmen ist Las Vegas ein „non site“ außerhalb der eigentlichen Welt, Simulakrum, schieres Kulturkuriosum. Die Durchschnittsaufenthaltsdauer eines Besuchers ist 3 Tage, auf diese Zeit hin ist das gebaute und gespielte Spektakel ausgerichtet. Wer hier arbeitet, sieht diese Stadt als Arbeitsstadt.

Der „Las Vegas Dream“, so der Titel eines Gewerkschaftsagitationsfilms, besteht darin, dass in dieser Wachstumsstadt neu geschaffener Reichtum relativ fair verteilt wird und Hotel- und Casinoarbeiter gute Aussichten haben, sich nach wenigen Jahren ein Haus zu kaufen. Ebenso wichtig sind von der Gewerkschaft ausgehandelte Pensionsversicherung, Krankenversicherung, das seniority-Prinzip (also Lohnhochstufung und Urlaubsausweitung bei mehrjähriger Betriebszugehörigkeit). All das ist nicht selbstverständlich in den USA.

Dass dieser Erfolg möglich ist, liegt an der Arbeit der einflussreichen örtlichen Hotel- und Casinoarbeitergewerkschaft, der CU Local 226. Diese Gewerkschaft hat etwa 60 000 Mitglieder, und ihr Hauptaugenmerk gilt nicht sosehr der Aushandlung besserer Löhne, sondern vor allem der weiteren Organisierung der noch nicht organisierten und der neu zugezogenen Arbeiter.

Die Gewerkschaft hat einen relativ kleinen Überbau von Organisatoren, die alle aus der Arbeiterschaft selbst kommen, und sich durch Charisma, Einsatz, strategisches Geschick als führende Gewerkschafter empfohlen haben. Im Fall einer Kampfsituation kann mit den Mitteln gewerkschaftlicher Arbeit und Streiks schnell reagiert werden.

Der Erfolg bei den Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Hotelunternehmern ist aber instabil, Errungenschaften können in wenigen Jahren wieder verloren werden. Die Verhandlungen werden in einer eigens eingerichteten strategischen Recherchestelle vorbereitet. Hier arbeiten vier Leute daran, über Pläne und Veränderungen auf Seiten der Hotelbetreiber frühzeitig informiert zu sein, um bei Verhandlungen entsprechende Forderungen stellen zu können. Sie analysieren Wirtschaftsnachrichten wie Reuters, Bloomberg, Financial Times, Fachzeitschriften usw. Täglich werden neue Informationen verarbeitet. Damit wissen die Leute von CU Local 226 über die möglichen Hintergründe und Motive ihrer Verhandlungspartner Bescheid.

Dee Taylor, Stratege der CU Local 226, weiß um den Erfolg und um den nötigen Einsatz zu diesem Erfolg. Auf die Frage, ob die CU Local 226 ein Beispiel für Dienstleistungsgewerkschaften in den USA sein könnte, sagt er, so vermessen würde er nicht sein wollen. Und er meint damit auch, dass in den USA, anders als in Europa, Gewerkschaftsarbeit, vor allem Organisierung, vor Ort wachsen muss und eine langfristige geduldige Aufbauarbeit, angepasst an die örtlichen Bedingungen, nötig ist.

Einige Themen, die mich auch für Panik von 94 interessiert haben, finden sich in diesem Projekt wieder. Gewerkschaftsarbeit in den USA ist lokal und konjunkturabhängig. Nur bei Industrien, die sich langfristig stabil halten können, konnten sich auch dauerhafte gewerkschaftliche Strukturen herausbilden.

Es wird in diesem Film darum gehen, aus der Perspektive der Hotel- und Casinoangestellten Las Vegas nachzuvollziehen. Wir werden nicht die Stadt und ihre Architektur filmen, sondern einige Protagonisten über ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Art, diese Stadt zu erfahren, befragen. Sie werden ihre Arbeit und ihre Arbeitsplätze beschreiben. Ihre Wünsche, ihre Schwierigkeiten, ihre Einsamkeit, ihre Freuden, ihre Gemeinschaften.

Slavica arbeitet in den Hoteltürmen des Caesars Palace. Sie hat pro Schicht wahlweise 18 Zimmer oder 12 Suiten zu richten. Ihre Arbeit ist zeitlich gemessen. Es gibt eine Frau, die ihre und die Arbeit ihrer Kollegen überprüft. Und eine, die diese Frau und ihre Kolleginnen überprüft usw. Der gesamte Arbeitsablauf ist zeitlich genau geregelt. Die Zeit, in der sie das Hotel nach der Arbeit zu betreten und zu verlassen hat, ist auf 5 Minuten genau festgelegt. Wenn sie die Regelungen nicht einhält, kommt es zu einer Beschwerde. Wiederholt sich eine Unregelmäßigkeit, wird man entlassen. Da Slavica gewerkschaftlich organisiert ist, könnte sie sich über den Beschwerdeweg und Rechtshilfe durch die Gewerkschaft Recht verschaffen.

Dimi kommt aus Sofia, Bulgarien und arbeitet im Bankettservice. Sie hat sehr unregelmäßige Arbeitszeiten, manchmal 16 Stunden am Stück. Obwohl es hier eine große bulgarische Gemeinschaft gibt, hat sie, wie sie sagt, selten Zeit, sich mit Leuten aus ihrer Heimat zu treffen. Sie sieht ihre Zeit hier als Arbeitszeit.

Paul ist Bellboy im Bellagio und hat früher in Tampa, Florida als Kameramann gearbeitet. Er empfängt anreisende Hotelgäste und hilft ihnen, ihr Gepäck ins Hotelzimmer zu bringen. Er verdient nun, auch wegen des Trinkgeldes, wesentlich mehr als in seinem früheren Beruf. Und er zieht diese Arbeit der alten vor.

Dieses Projekt ist eine Gemeinschaftsproduktion von Laura Horelli und mir. Der Stand dieses Projektes ist: Während einer Recherchereise haben wir 20 Interviews mit verschiedenen Leuten aus Las Vegas gemacht, Kontakte zur Gewerkschaft, sowie zum Management der Hotels hergestellt. Wir werden versuchen, das Projekt bis zum September 2008 produktionsreif zu machen.

Caesars Flamingo Sahara
Förderantrag Projektentwicklung für einen Dokumentarfilm

90 Minuten Farbe

Kurzinhalt

Im Jahr 2007 hat die Zahl der Einwohner von Las Vegas die 2-Millionenmarke erreicht. Damit ist die Stadt nun 20 Jahre in Folge die schnellstwachsende Stadt der USA. Diese Stadt ist das, was man früher eine corporate city nannte.

Eine Stadt, die von einer Branche, in diesem Fall der Hotelbranche, bestimmt wird: die Hotels sind hier um Glücksspiel gewachsen. In Las Vegas gibt es bei weitem die größte Dichte an Hotelzimmern weltweit.

Nirgends in den USA gibt es eine stärkere lokale Gewerkschaft für Dienstleistende als hier.

Dieser Dokumentarfilm ist nicht nur an den spektakulären Perspektiven am Las Vegas Boulevard interessiert – er legt die sozialen und politischen Schichten diese Stadt der Extreme frei, er fragt, was wir hier über globale Entwicklungen lernen können.

Zur Formulierung unseres Drehbuchs ist ein gut vorbereiteter dreiwöchiger Rechercheaufenthalt nötig. Das bisherige Material haben wir im Dezember 2007 während eines von der Villa Aurora Los Angeles finanzierten Aufenthalts in Las Vegas zusammengestellt und nachbearbeitet.

Dies ist der erste Langfilm von Laura Horelli und der erste Film nach dem Studium von Gerhard Friedl.

Thema

Caesars Flamingo Sahara ist ein Dokumentarfilm über Las Vegas, Arbeit und Glückspiel. Tourismus ist die größte Industrie der Welt geworden. Es geht darum zu sehen, was uns das Beispiel Las Vegas sagt. Beim Glückspiel gibt es mit Hinblick auf Globalisierung zwei Aspekte.

Erstens findet Glückspiel weltweit zunehmend Akzeptanz, in Macao und in Spanien sind jeweils große Spielerstädte gebaut, beziehungsweise geplant. In den USA versucht man mit Glückspiel, benachteiligte Wirtschaftsräume (Detroit) aufzuwerten. Viele Städte in Europa werden mittelfristig nachziehen. Glückspiel ist zunehmend sozial anerkannt. Aus der Perspektive der Hotelbesitzer heißt das: Neue Casinos an neuen Orten gelten nicht als Konkurrenz, sondern helfen, den Markt zu erweitern.

Zweitens: Noch immer wächst Las Vegas, die Wachstumsprognosen wurden seit 20 Jahren wiederholt nach oben korrigiert. Das heißt: Menschen ziehen nach Las Vegas, pro Monat durchschnittlich 6 000. Die Leute, die hier Arbeit suchen, kommen aus dem früheren Jugoslawien ebenso wie aus Kolumbien, von den Philippinen ebenso wie aus dem Iran.

Die Gewerkschaften sind in Las Vegas stark und handeln einen Arbeitnehmeranteil am Wachstum aus. Sie setzen sich ein für gerechte Löhne und Sozialleistungen und übernehmen vor Ort sehr wichtige Aufgaben: Sie propagieren eine kulturell pluralistische Form von Bürgerschaft. Und sie versuchen, in ihrer Politik keinen Unterschied zu machen zwischen regulären und undokumentierten Arbeitern.

Diese beiden völlig heterogenen Räume, der der Verausgabung und der der Arbeit, werden in diesem Film gegeneinander untersucht. In Las Vegas zeigt sich diese Gegenüberstellung im Extrem. Insofern hier ein globales Phänomen sichtbar wird, hat dieser Film aus deutscher Sicht eine Relevanz.

Form

Grundlage der Erzählungen in diesem Film sind genaue Analysen von Las Vegas und Interviews mit den Protagonisten. Die Form aber ist sehr einfach:

Man sieht in diesem Film in ruhigen, präzisen Bildern die Stadt. Die Erzählungen werden mit voice over vorgetragen. Beides verschränkt sich zu einem komplexen filmischen Gefüge.

Wie filmt man Las Vegas? Es ist unumgänglich, mit filmischen Mitteln auf das extreme Stadtbild von Las Vegas einzugehen. Einerseits sind die auf dem Strip auf etwa 5 Kilometern aneinander gereihten Hoteltürme monströs.

Bei Tageslicht und bei Nacht erscheinen sie völlig unterschiedlich. Die Front der Hotels zum Las Vegas Boulevard hin ist komplex. Die Hinterseiten sind rein funktional, mit Hochgaragen und Entlastungsstraßen.

Wir wollen in genauen bildlichen Untersuchungen die räumlichen Eigentümlichkeiten und Schwellen, Zonen und Funktionen, etwa die Angestelltentrakte im Hintergrund, herausarbeiten. Die Hotels wirken wie riesige Krankenhäuser. Wir werden die Arbeiter bei ihrer Arbeit begleiten.

Der architektonischen Extremform des Las Vegas Boulevard und seiner Megaresorts stehen endlose Einfamiliensiedlungen gegenüber. Sie stellen ein vollkommen anderes Raumkonzept dar. Las Vegas ist eine horizontal in die Wüste ausgestreckte Millionenstadt. Manches ist typisch auch für andere Städte des Sunbelt – der Süd- und Südweststaaten der USA. Wir werden die Einwohner bei ihren Bewegungen durch die Stadt begleiten.

Diese Form haben Laura Horelli und Gerhard Friedl in ihren je eigenen bisherigen filmischen Arbeiten erprobt. Für beide war unabhängig voneinander die Aneignung und implizite Kritik herkömmlicher Formen des Dokumentarischen wichtig. Es geht um das Verhältnis von Sprache und Bild.

Treatment

Mit Mitteln der Villa Aurora Los Angeles haben die dortigen Stipendiaten Laura Horelli und Gerhard Friedl im Dezember 2007 in Las Vegas eine Reihe von Interviews mit verschiedenen Leuten geführt. Sie sind mit für dieses Projekt interessanten Persönlichkeiten in Kontakt gekommen.

Dabei sind die Grundlagen für einen Dokumentarfilm entwickelt worden.

Diese Begegnungen sind Ausgangspunkt für das Drehbuch und weitere Drehvorbereitungen. Anstelle eines Treatments finden sich hier inhaltliche Fragestellungen. Es werden konkrete Erzählungen von Einwohnern in Las Vegas sein, mit denen auf diese Fragen geantwortet werden wird.

Wer sind die Protagonisten des Films? Wir suchen etwa 10 Personen in Las Vegas. Das sind Angestellte mit verschiedenen Berufen in den Megaresorts, Leute, die teils in Las Vegas aufgewachsen sind oder hierhergekommen sind, um hier zu arbeiten. Welchen Begriff von Bürgerschaft haben sie? Wie wichtig ist ihnen, ihrer politischen Stimme Nachdruck zu verleihen? Wie stehen sie zur gewerkschaftlichen Arbeiterorganisation? Wie erinnern sie die durchaus diskontinuierliche Geschichte von Las Vegas?

Wie kann man die exzessiven architektonischen Formen beschreiben? Immerhin stehen in Las Vegas die größten Hotels der Welt. Die Architektur von Las Vegas soll faszinieren. Das heißt auch: sie soll zwar sichtbar sein, aber nicht eigentlich zu sehen. Diese Architektur macht ratlos. Dem Design der Hotels liegt jeweils ein Thema zugrunde. Ägypten, Venedig, Sahara. In Form von Architainment, unterhaltender Architektur, nicht ganz ernst gemeint, und mit einem Plot, einer Story oder einem Thema versehen. Dem Design des Bellagio liegt die Legende eines italienischen Grafen zugrunde, der vor 80 Jahren in die Mojave Wüste gekommen sein soll, um im Wüstenklima seine Gesundheit zu schonen. Das Bellagio wäre sein Palast.

Die Gesetze, Hausordnungen und die Definition der Räume sind an der Architektur ablesbar. Der Gestaltungsprozess basiert auf der analytischen Untersuchung der Besucherströme. Architektur wird aber auch nach dem Prinzip von trial and error gebaut. Las Vegas ist Architektur im permanenten Wandel. So wurde vor dem Luxor-Hotel ein „Nil“ eingerichtet, und die Hotelgäste mussten zunächst mit einer Barke zur Reception übersetzen. Das war zu kompliziert, der Nil ist weg. Rem Koolhaas hat im Venetian einen Museumsraum für das Guggenheim Las Vegas eingerichtet. Noch während der ersten Ausstellung wurde das Museum geschlossen. Die Faszination der Hotels ist berechnet, die Gebäude sind in ihren Dimensionen faktisch; es ist nachgerade unmöglich, gegen diese Faktizität eine kritische Position anzubringen.

Wie stehen Poparchitektur und die in den Megaresorts erbrachten Dienstleistungen im Verhältnis? In Las Vegas stehen mehr als in der Hotellerie üblich und mit enormem Aufwand hergestellt zwei vollkommen heterogene soziale Räume einander gegenüber. Der Raum der Gäste/Spieler und jener der Dienstleister, Portiers etwa, Zimmermädchen, Köche usw. Im Glitzern und Blinken der Gebäude wird vergessen gemacht, dass hier Arbeit verrichtet wird. Gast/Spieler und Dienstleister stehen dem gemäß in einer Nichtbeziehung zu einander.

Als das MGM Grand (größtes Hotel der Welt) eröffnete, haben sich für die achttausend angebotenen Stellen einhunderttausend Personen beworben. Während dem Gast ein first class service zu einem mittleren Preis geboten wird, verdienen die teils ungelernten Arbeiter, ob Parkservice, Zimmermädchen, Croupier, ein Mittelklasseeinkommen. Angestellte können schon nach zwei bis drei Jahren ein Eigenheim erwerben.

Zugespitzt formuliert könnte man also sagen: Es begegnet sich da eine soziale Klasse – Gast und Dienstleister – selbst. Die Hotelangestellten werden im Lohn aufgewertet, ihre Tätigkeiten selbst verlangen keine besonderen Fertigkeiten. All das finanziert sich über die im Glückspiel erzielten Profite. Anders gesprochen: damit dieser Transformationsprozess von Geld – Geld ‚ in seiner Direktheit (der Gast gibt Bargeld ohne eigentliche Gegenleistung ab) dem Geschröpften nicht augenfällig wird, sind verschiedenste, überflüssige Dienstleistungen vorgeschaltet. So gesehen werden die Dienstleister, voneinander durch verschiedene Uniformen zu unterscheiden, eigentlich Teil der Verblendung. Aus Sicht der Gewerkschaften sieht das freilich anders aus.

Was besagt der Erfolg der Gewerkschaften in Las Vegas? In den USA hat sich die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Angestellten seit den 1950er Jahren halbiert, heute ist der Grad an Organisiertheit in den USA niedriger als in irgendeinem anderen vergleichbaren Wirtschaftsraum (etwa 17%). Anders in Las Vegas: Die Gewerkschaften, insbesondere die Culinary Union Local 226 (mit 60 000 Mitgliedern), haben erfolgreich für die Arbeiter einen entsprechenden Anteil an den Profiten der Casinos als Lohn ausgehandelt.

Ihr Wachstum steht in direktem Zusammenhang mit dem Wachstum der hospitality industry. Dabei hat sich die sehr offensive Politik der Gewerkschaften seit 20 Jahren vor allem auf eines ausgerichtet: neue Mitglieder anzuwerben.

Andere Vorhaben, wie Lohnaushandlungen und soziale Begünstigungen, waren dem nachgeordnet. Auffällig ist die Fokussiertheit und Diszipliniertheit der Gewerkschaften und die Aufmerksamkeit gegenüber neuen Mitgliedern mit Führungsqualitäten. Die Gewerkschaften sind in den Resorthotels überaus präsent. Ein Grund des Erfolgs ist das Prinzip der shop stewards: das sind regulär Beschäftigte, die zwischen Angestellten und niederem Management bei Beschwerden oder Problemen vermitteln. Von hier aufwärts hält die Gewerkschaft einen komplexen Apparat zur Aushandlung mit dem Management bereit.

Zugleich bemühen sich die Organisatoren um eine gute Beziehung zu den Managern der Hotels, intern ist aber auch die Rede vom „Feind“. D. Taylor, Schatzmeister und Stratege der Culinary Union meint: „Die Unternehmen denken in Weltmärkten, Gewerkschaften denken lokal“. Die Culinary Union verfügt über eine eigene Research-Abteilung, die Veränderungen auf der Arbeitgeberseite (etwa Änderung der Eigentümerverhältnisse) genau beobachtet und daher sehr früh politische Maßnahmen zur Durchsetzung von eigenen Interessen platzieren können.

Welche Funktionen haben die Gewerkschaften in Las Vegas? Aus Sicht des Urbanen ist Las Vegas ein Problemfall. Es gibt kaum öffentliche Orte, wo auf breiter Basis Einwohner der Stadt zusammenkommen würden. Die Culinary Union erfüllt hier eine Rolle, die für Gewerkschaften in den USA geschichtlich immer wieder charakteristisch war, auch vor dem Hintergrund eines traditionell immer großen Zuzugs von Arbeitern etwa aus Europa, Mittel- und Südamerika und aus Asien: Die Culinary Union propagiert eine kulturell pluralistische Form von Bürgerschaft. Damit hat sie eine auf machtvolle Weise eine kollektive Stimme ins Gemeinwesen eingebracht. Dies ist eine gesellschaftlich integrierende Neudefinition dessen, was Bürgerschaft sein kann. Das bezieht sich auch auf die Haltung der Culinary Union gegenüber den nicht dokumentierten Arbeitern in Las Vegas, deren politische Position sie abzusichern suchen.

Wem gehört Las Vegas? Interessant hier ist die Frage, wie sich die Eigentümerverhältnisse in den letzten 50 Jahren entwickelt haben. Es war ursprünglich Geld aus illegalen Geschäften, mit dem Benjamin Siegel hierhergekommen ist, um einen neuen Typus von Casino zu entwickeln, der für die nächsten 35 Jahre typisch war. Die vielen kleinen und mittelgroßen Hotel-Casinos waren in den Händen einiger Familien. Später war es Risikokapital (Junk Bonds), mit dem in völlig neuen Größenordnungen geplant und gebaut werden konnte. Wall Street hat das Glückspiel als reguläres Geschäft erkannt. Ein ungleich größerer Typ von Architektur hat sich entwickeln können. Heute sind die wichtigsten Megaresorts im Eigentum von folgenden Konzernen: Harrah’s Entertainment, MGM Mirage, Las Vegas Sand, Boyd Gaming und Wynn. Traditionell haben neben der Erlaubnis zum Glückspiel auch die niederen Steuern und die geringen Investitionen in Infrastruktur aus Las Vegas einen besonderen Ort gemacht. Politik und Hotelindustrie haben dabei immer sehr eng miteinander zusammengearbeitet.

Woher kommt diese zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Glückspiel? In Nevada war Glückspiel seit den 1930er Jahren gesetzlich erlaubt – heute ist es dies in einer Mehrzahl von Ländern der USA. Niedergegangene Wirtschaftsräume wie Detroit sollen so aufgewertet werden, es werden Hotel-Casinos in Boston, Connecticut und New Orleans geplant. Macao wird zur größten Spielerstadt Asiens aufgebaut. Glückspiel ist global geworden und ein seriöses Geschäft. Was sagt diese neue Akzeptanz aus zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüchen? Welche Vorstellungen waren davor maßgeblich? Es gibt historisch mehrere Stufen. Der Erfolg der Casinos in den 50er Jahren hat wesentlich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den USA nach der großen Krise anfangs der 30er Jahre und mit dem zusätzlich verfügbaren Einkommensüberschuss zu tun. Damals galt Glückspiel mehr noch als heute auch als Verausgabung. Die große Wende zur politischen Akzeptanz von Glückspiel ist mit dem Bau des Mirage 1989 zu datieren, und mit einer strategischen Ausweitung des Zielpublikums, nun werden alle gesellschaftlichen Schichten angesprochen.

Von der Perspektive des Gesetzes aus: wie hängen Gesetz und Geschäft zusammen? Gesetz ist, wie man an Las Vegas erkennen kann, ortsbildend. Diese Produktion von (sozialem) Raum werden wir am konkreten Beispiel der Hotels-Casinos untersuchen. Dabei wollen wir Gesetz nicht nur als staatlich-soziale Grundlegung untersuchen, sondern auch im Sinne von Private Property, Hausordnung, Verhaltensmaßregeln, komplexen Kommunikationsprozessen und Vorgaben innerhalb der Casinos und unter den Angestellten an den verschiedenen Orten der Gebäude. Glückspiel hatte etwas Exterritoriales. Interessant nebenbei: Las Vegas ist im Kern auch außerhalb der Zeit. In Casinos gibt es weder Fenster noch gibt es Uhren. Alles ist darauf ausgerichtet, dass man sich vergisst. Im Durchschnitt spielen Menschen in Las Vegas 6 Stunden am Tag, sie bleiben 3 Tage. Las Vegas war die erste Stadt, in der Geschäfte, Supermärkte, Einzelhandel und dergleichen für 24 Stunden verfügbar waren.

Mandalay Bay Hotel

Harmon Avenue, Las Vegas

Employment Office, Las Vegas

 

Baustelle Downtown Las Vegas, ehemaliges Ambassador East Motel

 

Culinary Union Gewerkschaftsgebäude, Mittagspause während der Organisation von Vorwahlen im Dezember 2007

Schwalle und Hoffnung: Ein Gespräch mit Alexander Horwath

Haben Peter Konlechner und Peter Kubelka im Österreichischen Filmmuseum jahrelang definiert, was und wie Film sein kann, hat ihr nun scheidender Nachfolger Alexander Horwath, den wir einige Jahre seines Schaffens in Wien beobachten konnten, für uns vor allem und darüber hinaus gezeigt, was Kinoliebe ist und wie sie sich äußern kann. Valerie und Patrick haben ihn zum Gespräch in seinem legendär verqualmten Büro getroffen. Es ging um seine vorletzte große Retrospektive, die derzeit unter dem Titel „Europa erzählen“ Bilder Europas vorschlägt, seine Auffassungen zum Kuratieren und die Entwicklungen der Filmlandschaft.

Sans toit ni loi von Agnès Varda (© Österreichisches Filmmuseum)

Sans toit ni loi von Agnès Varda (© Österreichisches Filmmuseum)

Patrick Holzapfel: Bei dem Titel der Schau „Europa erzählen“ scheint es sehr einfach, zunächst über Europa nachzudenken. Wir wollten uns aber erstmal auf das Erzählen konzentrieren und von dir wissen, was das eigentlich ist oder sein kann in diesem Zusammenhang, das Erzählen von Europa? 

Alexander Horwath: Das ist für mich nicht weit hergeholt, sondern steht in Verbindung mit einer sehr frühen, zentralen Entscheidung im Arbeits- und Findungsprozess dieser Schau. Zunächst entstammt dieses Thema oder dieser Fokus einem interessanten Gespräch, das ich mit einem befreundeten Filmemacher hatte. Ihm ist Europa sehr viel wert und er fragte sich und mich, warum es für europäische Filmemacher so viel schwieriger zu sein scheint, Europa als Erzählstoff zu fassen, als für amerikanische Filmemacher bezüglich der USA. Vielleicht stimmt das auch gar nicht, aber das war der erste Samen und hat mich ins Nachdenken über diese Thematik gebracht. Von Anfang an gab es also diesen Fokus aufs Erzählen, zum dem natürlich auch eine literaturgeschichtliche Dimension kommt. Das führt dann zu etwas anderen Ergebnissen, als wenn es um Bilder, ums Zeigen von Europa ginge – wenn also die Initiative von einem Gespräch mit einem Maler oder einer Fotografin ausgegangen wäre, die vielleicht andere ästhetische Pfeile abgeschossen hätten. Zum anderen wurde mir dann beim Nachdenken über diese Schau bewusst, dass eine Einschränkung auf, ich sage das jetzt banal: „Spielfilm“, dem Projekt gut tun würde. Natürlich könnte man meinen, dass es aufregender wäre, die Gattungen des Films zu kombinieren, aber da hatte ich schlicht die Sorge, dass ich überhaupt zu keiner annehmbaren Linie oder Linien finde. Also ist es mir, auch praktisch gedacht, klüger erschienen, dem Akt des Erzählens zu vertrauen und das noch weiter einzuschränken auf das abendfüllende Erzählen. Ich hatte auch Varianten am Anfang, in denen einzelne Kurzfilme im Programm waren, aber habe mich dann dagegen entschieden. Der abendfüllende Spielfilm war und ist, so wie der Roman, eine Artikulationsform für künstlerisch denkendes Tun, die sehr verbreitet ist – und ich wollte mir ansehen, was eigentlich im Zuge dieser Rahmung entstanden ist. Und so hat sich das dann zusammengefügt. Am Ende gab es auch zwei Ausnahmen, zwei dokumentarische Arbeiten: Nämlich D’Est von Chantal Akerman und Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? von Gerhard Friedl. Ich bin dann immer dafür, auch den besonderen Impulsen zu vertrauen, die sich von einem Konzept lösen. Manchmal ist einfach eine bestimmte Farbe in der Palette nötig, und wenn diese Farbe von zwei Filmen ausgeht, die man Essayfilme nennen könnte, dann soll mir das auch Recht sein. Das berührt ja etwas Grundsätzliches bei der kuratorischen Arbeit: das Verhältnis zwischen sogenannter Strenge und Klarheit eines Konzepts und sogenannter Offenheit gegenüber unreinen Teilentscheidungen. Ich versuche meistens, beiden Teilen gerecht zu werden und damit natürlich nie einem der beiden zur Gänze. Aber ich wollte mir eben nicht primär das „Bild Europas“ vor Augen führen, sondern die Bewegung des Erzählens. Das könnte auch damit zu tun haben, dass ich mir immer unsicherer werde – das mag am eigenen Älterwerden liegen oder an einigen Jahren der Enttäuschung –, ob diese Bewegung im gegenwärtigen oder auch zukünftigen Kino eine Chance hat. Das Erzählen im Modus Fernsehserie trifft offenbar auf größeres Interesse. Aber wie ist steht es mit der Option, diesen Kontinent weiterhin in dem Modus zu erzählen, in dem es der Spielfilm getan hat? Da bin ich mir offen gesagt etwas unschlüssig. Wie viel Luft ist da noch drinnen? Die Schau zeigt zwar Filme bis 2012, mit Tabu von Miguel Gomes als jüngstem Beispiel, und natürlich sehe ich hin und wieder neue Filme, die ein Teil der Schau sein könnten, aber es ging schon auch darum, eine ziemlich große historische Kraft zu zeigen, deren Überlebensfähigkeit ich skeptisch beurteile. Was nicht heißt, dass ich nicht mehr an das Kino glaube oder irgendwelche absoluten Aussagen tätigen will. Es gibt einfach eine Skepsis. Diese Filme in der Schau hatten ja auch alle eine Lebendigkeit, und ihre Kraft hatte damit zu tun, dass es ein ebenso lebendiges Publikum gab. Manchmal hatten sie am Anfang vielleicht kein Publikum, wie zum Beispiel Sierra de Teruel oder La règle du jeu, aber sie hatten eine Kraft in sich, die dann vielleicht zwanzig oder vierzig Jahre später zur Wirkung kam. Diese Kraft scheint mir erwiesen und die hat auch mit dem historischen Gegenüber, also mit der Publikumsseite zu tun. Meine Skepsis richtet sich dementsprechend ebenso an das fragliche künftige Gegenüber wie an die Filme selbst. Ich weiß nicht mehr ganz, an wen sich die neueren Filme richten. Abgesehen davon, dass sich Filme nicht an jemand Spezifischen, an ein „Zielpublikum“ richten müssen, entfalten sie sich trotzdem nur mit einem Gegenüber. Diese aktuelle Unsicherheit, die ich spüre, hat viel mit politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu tun – und das war dann wohl auch ein Motiv dieses „Erzählens von Europa“.

L'Espoir von André Malraux (© Österreichisches Filmmuseum)

L’Espoir von André Malraux (© Österreichisches Filmmuseum)

Valerie Dirk: Beim Stichwort Unsicherheit möchte ich gleich einhaken. Es wird ja sehr viel von Splitterhaftigkeit im Programmtext gesprochen, die Splitterhaftigkeit des europäischen Erzählkinos im Gegensatz zum einenden Narrativ des amerikanischen Kinos. Inwiefern drückt sich denn darin diese Unsicherheit aus?

A.H.: Ich verstehe die Frage gut, sie hängt sicher mit einer gewissen „self-fulfilling prophecy“ zusammen. Ich hätte natürlich genauso gut Filme aussuchen können, in denen der deutliche Versuch des Geeinten oder Einenden im Vordergrund steht. Das gilt für die Erzählstrategien der Filme wie auch für deren Begriffe oder Visionen von Europa. Meine Erfahrung seit über drei Jahrzehnten hat mir aber gesagt, dass diese Art des Kinos selten befriedigend ausfiel; ich habe mir immer gedacht, dass das im amerikanischen Kino stimmiger gelöst ist. Ich denke da an diverse Versuche eines europäischen Genrekinos oder diese „Europudding“-Tendenz, also Anläufe, um Europa produktionstechnisch zu einen. Man macht mehr und mehr Filme, in denen viele Nationen mitwirken oder in denen ein Ensemble an Schauspielern auftritt, das verschiedene dieser Fragmente Europas repräsentiert. Die Sachen, die mir aus diesem Bereich bekannt sind, sind von sehr bescheidener Schlag- oder Aussagekraft. Mit „self-fulfilling prophecy“ meine ich das, was mir am europäischen Kino am stärksten und überzeugendsten vorkommt, nämlich eher die „rissigen“ oder offeneren Ästhetiken und Erzählweisen. Filme, die den BetrachterInnen viel Raum geben, wo man von den Filmemachern eingeladen wird, etwas erst zusammenzusetzen. Ich glaube, dass ich die Größe des europäischen Kinos entlang dessen wahrnehme, was es besser oder anders kann als das amerikanische Kino. Das liegt auch daran, dass ich zunächst mit dem amerikanischen Kino sozialisiert wurde. Mein Begriff von Kino war zuerst, im Großen und Ganzen, von populären amerikanischen Filmen geprägt. Und Alternativen dazu habe ich dann zunächst als nicht-amerikanisch wahrgenommen. Aber als ich dann mit 17, 18, 19 Jahren, also gar nicht so früh, begann europäische Filme zu sehen, habe ich das auch als eine wertvolle Form von Opposition betrachtet. Wenn man einen Ursprung der eigenen Kinoliebe sucht oder festmachen will, auch wenn man mit Ursprüngen vorsichtig sein sollte, dann wäre das in meinem Fall das Populärkino der USA. Das Aufregende dann im Weiterforschen ist zu sehen, was es bedeutet, wenn Renoir oder Rossellini Spielfilme machen oder Reisender Krieger, der mich begleitet, seit ich ihn mit 18 oder 19 zum ersten Mal im Fernsehen gesehen habe. Insofern kann ich die Frage nicht wirklich beantworten. Ist das europäische Kino per se so „splitterhaft“ oder ist das ein Ergebnis meiner Art von Nähe zum europäischen Kino? Vielleicht ist dieser Ansatz auch meine Antwort an den Filmemacher, der an der Erzählbarkeit Europas im Kino zweifelte. Seine These war eigentlich, dass man damit nicht durchkommt. Die Amerikaner kommen gewissermaßen durch mit ihrem Mythos, mit ihrer auf wenige Begriffe und Bilder fokussierten nationalen Erzählung. Vielleicht besteht unsere europäische Antwort dann eben aus diesen Fragmenten und der Offenheit.

P.H.: Nur weiß das europäische Kino um diese eigenen Eigenschaften?

A.H.: Das ist natürlich ein großes Problem der EU-Filmpolitik. Auf der einen Seite weist man immer auf die lokalen Kräfte und das Regionale hin, aber wenn sich dann auf der anderen Seite zeigt, dass daraus ein großes, wucherndes Bündel von Dingen wird, dann erkennt man auch, dass man damit am Massenmarkt nicht groß reüssieren wird. Also erfindet man recht künstlich ein angebliches Massenkino europäischer Herkunft und Identität, dessen Gestalt meist eine läppische Nachahmung der amerikanischen Erzählmodelle, Genres oder Identifikationsangebote ist. Und das ist doch langweilig, da war mein Reflex immer, dass ich lieber zum Schmied gehe, als mich mit dem Schmiedl abspeisen zu lassen. In meinen filmpolitischen Ausflügen argumentiere ich auch immer, dass man akzeptieren sollte, das europäische Kino nicht so „verkaufen“ zu können wie das amerikanische. Und ich bin recht froh, dass in Österreich noch Filmentstehungs- und Filmförderungsmilieus existieren, die nicht dieses verrückte Spiel spielen, das sich zwischen Frankreich, Deutschland und anderen immer wieder abgespielt hat, nämlich diese Idee einer B-Version des amerikanischen Kinos, die sich kultivierter vorkommt als das Original. Das bringt nichts. Es wäre besser, auf Produktionsbedingungen zu achten, in denen die Kraft einzelner KünstlerInnen, die „verschroben“ sein mögen und eben auch „Fragmentarisches“ produzieren, weiterhin unterstützt wird. Aber natürlich braucht es auch die, die das dann sehen. Und so etwas kann man nicht durch Filmpolitik oder Förderungen herbeiführen. Das heißt, man muss sich vielleicht einer Realität stellen, in der die Entwicklungen unserer Gesellschaft und ihrer Formen von Interaktion wegführen vom Kino in seiner Form als abendfüllender Spielfilm; dass diese Form also vielleicht langsam historisch wird. Ich wollte nicht, dass diese Filmschau als kulturpessimistisch verstanden wird, aber aus meinen Antworten kann man vielleicht erkennen, dass es einen Hauch davon gibt. Wie wäre es, wenn das Publikum für europäisches Kino, so wie man es lange Zeit rezipiert hat, irgendwie ausrinnt? Dann wäre diese Retrospektive eine Rückschau auf die Großartigkeit einer Kunst- und Erzählform auf diesem Kontinent im 20. Jahrhundert.

Pasażerka von Andrzej Munk (© Österreichisches Filmmuseum)

Pasażerka von Andrzej Munk (© Österreichisches Filmmuseum)

P.H.: Hängt diese Rückschau auch ein wenig an deinem persönlichen Abtreten aus deiner Position hier im Filmmuseum?

A.H.: Das will ich gar nicht abstreiten. Ich wollte sehr gern noch ein paar Dinge machen, bevor ich hier aufhöre. Zum Beispiel wollte ich unbedingt noch die Schau „Der große Grant“ über vier Komiker (W.C. Fields, Hans Moser, Totò, Louis de Funès) realisieren, und im September wird es ein paar kleinere Dinge geben, die mir wichtig sind. Es gibt heute ein bisschen die Tendenz, sich vor „zu großen“ Thematiken zu hüten, um den Kanon-Verdacht zu vermeiden, aber ich dachte mir bei diesem Europa-Thema: Wenn, dann jetzt. Daher stammt dann vielleicht auch dieser zurückschauende Gestus, der eben mit meinen sechzehn Jahren Arbeit hier zu tun hat. Vieles in diesem Programm haben wir schon gezeigt, oft mehrfach, aber ich wollte ganz bewusst Dinge, die ich für ganz zentral, aber noch nicht ausreichend gewürdigt halte, ein weiteres Mal in dieses Spiel bringen. Mein Denken über Kino und Europa ist schlichtweg mitgeprägt von diesen Markierungen, und es käme mir ganz falsch vor, Filme wie Pasażerka von Andrzej Munk oder eben Reisender Krieger von Christian Schocher da nicht mit reinzunehmen, nur weil das Filmmuseum diese beiden Filme schon viermal in meiner Amtszeit gezeigt hat. Bei mehreren dieser Filme haben wir uns auch erfolgreich bemüht, sie für die Sammlung zu erwerben, das ist auch ein wichtiger Aspekt. Etwa 50% der Werke in der Schau stammen aus der Sammlung des Hauses. Das ist also auch ein Schaufenster für Dinge, die das Filmmuseum in letzter Zeit oder schon lange vorher erworben hat. Wir haben z.B. ganz zu Beginn meiner Zeit hier eine Munk-Retrospektive gemacht  und uns seither darum bemüht, Pasażerka zu erwerben. Irgendwie ist das jahrelang an verschiedenen Konstellationen gescheitert, aber jetzt ist es Regina Schlagnitweit tatsächlich gelungen, für diese Schau eine neue Kopie zu erwerben. Das freut mich sehr. Rückschau also auf meine Tätigkeit hier und auf etwas Größeres, 100jähriges, dessen Kräfte sich derzeit stark verändern.

P.H.: Du hast jetzt eine Lesart der Schau angeboten, die mir oder unserem Blog an sich sehr nahe ist, also mit filmpolitischer Einbettung und so weiter. Allerdings finde ich in dem Fall dieser Schau tatsächlich, dass sie nicht zuletzt aufgrund der Europa-Thematik sehr aktuell ist und eben nicht nur eine Rückschau und eine Kinogeschichte, sondern ein Politik darstellt. Das finde ich sehr spannend und vor allem in Verbindung mit den Filmen, die in der Schau sind, die von nicht-europäischen Filmemachern gemacht wurden, die also von „Außen“ kommen. Da frage ich mich dann nicht nur, wann ein Film europäisch ist, sondern auch, wann er von Europa erzählt.

A.H.: Ich habe am Anfang sogar zwei Listen geführt. Auf der einen waren quasi echte europäische Produktionen und auf der anderen waren Filme von Menschen aus anderen Kontinenten, die von Europa erzählen. Da kommt man dann sehr schnell drauf, dass wenn man zum Beispiel mit An American in Paris von Vincente Minnelli anfinge, eine Schau zusammenstellen könnte, die das komplette Gegenteil erzählen würde. Da würde dann aber nicht Mr. Arkadin oder Mr. Klein drinnen sein, sondern zum Beispiel amerikanische Musicals wie Funny Face. Es war mir wichtig, dass es da keine Reinheit bezüglich des Ursprungs gibt. Aber viele Filme, die von anderen Kontinenten auf Europa blicken, unterstützen nicht unbedingt diese These, diese Erzählungen von Europa, die mir wichtig waren. Und natürlich hast du Recht damit, dass diese Erzählungen im gegenwärtigen Europa, spätestens mit dem Brexit, noch einmal eine andere Dimension gewinnen. Letzten Sommer, während des FIAF-Kongresses in Bologna, sind unsere britischen Freunde tagelang niedergeschlagen auf der Piazza Maggiore gesessen und wollten gar nicht mehr heimkehren. Diese Niedergeschlagenheit hat der Schau dann den letzten Schub gegeben. Im Lauf des Sommers habe ich dann Tomas Zierhofer-Kin von den Wiener Festwochen getroffen. Ich hätte die Schau sowieso gemacht, aber ich habe ihn gefragt, ob die Wiener Festwochen da als Partner mit dabei sein wollen. Natürlich schwingt da vieles mit, was wir in den letzten zwei Jahren in Europa und der ganzen Welt erleben mussten. Es sind ja auch mehrheitlich Filme, die einen jetzt nicht total glücklich aus dem Kino entlassen. Das ist mir schon bewusst. Andererseits habe ich die fast närrische Hoffnung, dass man, wenn man sich dieser Schau in einem größeren Maße aussetzt, so etwas wie Stolz oder einen neuen Glauben an Europa gewinnen könnte.

Die letzte Chance von Leopold Lindtberg (© Österreichisches Filmmuseum)

Die letzte Chance von Leopold Lindtberg (© Österreichisches Filmmuseum)

P.H.: L’Espoir, Hoffnung scheint ein gutes Wort dafür.

A.H.: Ja, genau. Ein großes Wort natürlich. Aber deshalb habe ich im Einleitungstext auch so Begriffe wie ‚Espoir‘ oder ‚Promesse‘ betont, nicht nur weil es Filmtitel sind, sondern weil es wirklich um Versprechungen geht. Die Gründung der EU und die Nachkriegsdiskurse haben uns ja ein Versprechen gegeben und eine Hoffnung ausgedrückt. Man kann natürlich sagen, dass das hohle Begriffe sind, die Politiker immer verwenden, aber ich wollte sie lieber ernst nehmen und fragen, wo sie sich zeigen im filmischen Schaffen, in den Narrationen, die dieser Kontinent hervorgebracht hat. Heute sind wir ja gerne so ironisch gegenüber allem, und ich bemühe mich, das nicht zu sein, wo ich nur kann. Also schaue ich mir diese Versprechen, diese Utopien mal genauer an. Dass das auch mit schwierigen Gefühlen bei manchen dieser Filme verbunden ist, ist klar. Wenn man aus Le diable probablement herauskommt, dann wird man nicht unbedingt die große Hoffnung für Europa gewinnen, das ist mir klar. Aber wenn man zum Beispiel sieht, wie in Le diable probablement, in einer Zeit, in der die ökologische Bewegung noch weit nicht jene Präsenz hatte wie heute, mit Robert Bresson jemand kommt, der alles andere als ein Message-Filmemacher ist und einen jungen Mann als Protagonisten in dieser Post-68er Stimmungswelt wählt, der Suizid begeht, und das im Film aber mit der Zerstörung der Natur zusammenhängt, dann ist das ein Weg aus diesem illustrativen Kuratieren herauszukommen. Letzteres hieße,  die wichtigen Themen und Diskurse in Europa seit den 1920er oder 30er Jahren herzunehmen und sie möglichst punktgenau mit Filmen abzubilden. Nichts interessiert mich weniger als diese Methodik. Es geht eher darum, aus Filmen, die ich für zwingend oder begeisternd halte, erst die Diskurse herauszulösen, die dann eine Rolle spielen werden. Dazu braucht man keine „Themenfilme“, sondern man kann diese Begriffe aus Filmen wie Le diable probablement gewinnen.

V.D.: Du sagst, dass dich das illustrative Kuratieren nicht interessiert. Trotzdem sind in der Schau einige Punkte vertreten wie Geschichte, Geld, oder Bewegung über Grenzen, die dann in fast allen Filmen immer wieder auftauchen auf die eine oder andere Art und Weise. Außerdem geht es sehr viel um Freiheit und Aufklärung. Das mit der Aufklärung interessiert mich sehr. Was hast du dir dabei gedacht? Am Ende des Programmtexts steht ja: „50 Filme für die kommende Aufklärung“.

A.H.: Ja, ich habe vielleicht keine Hoffnung in ein zukünftiges europäisches Kinopublikum, aber ich habe Hoffnung, dass sich unserer Jetzt-Zustand verändern kann. Der ist doch genauso wenig das Ziel der Geschichte wie die vollends aufgeklärte oder kommunistische Gesellschaft das Ziel der Geschichte sein kann. Es gibt kein Ziel der Geschichte, das irgendwann einmal erreicht wird. Dieser Moment, der in meinem bisherigen Leben sicher der deprimierendste Moment ist bezüglich der Weltlage und der gesellschaftlichen Umstände, ist auch nicht der Endpunkt. Wenn da also am Ende steht „die kommende Aufklärung“, dann soll das nichts anderes sein ein kleiner Beitrag zur Überwindung der gegenwärtigen Situation. Es geht darum, dass ein Blick auf die jüngere Geschichte dessen, was Europa bereits erzählen konnte, und auf was es bereits zählen konnte, sich lohnt. Ich glaube nicht, dass sich Historisches 1:1 wiederholt, aber jegliche Schärfung hinsichtlich zukünftiger Möglichkeiten geht aus einer historischen Analyse hervor. Das ist für mich die einzig denkbare Weise des Fortschritts oder eben der Befreiung aus scheinbaren Sackgassen. Natürlich ist eine kommende Aufklärung eine Behauptung, aber sie ist auch die Angabe eines Ziels. Ich bin Anhänger davon, dass wir aus dem extrem unaufgeklärten Zustand, in dem sich momentan nicht nur die europäischen Gesellschaften befinden, eine zweite, fünfte oder hundertste Aufklärung anstreben sollten. Ich verstehe dieses Programm als ein Mosaik von Möglichkeiten, wo man ansetzen könnte. Es soll auch zeigen, dass es sehr wohl Alternativen gibt. Das sind nur Filme, keine Staatsgebilde oder Verfassungen, aber als Filme sind es erkennbare und relevante Vorschläge. Wir dürfen halt nur nicht dem Gedanken anhängen, historische Erfahrungen oder Begriffe 1:1 zu übertragen. Die Frage ist immer: Wovon lernt man? Und was braucht es, damit das Gelernte überhaupt nutzbar gemacht werden kann in der aktuellen Situation? Das ist das Allerschwierigste – die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und da gehöre ich zu den Millionen von Überfragten. Aber es braucht erstmal das Material. Wenn man nicht einmal daran glaubt, dass es Material gäbe für eine kommende Aufklärung, dann soll man sich gleich aus der Existenz verabschieden.

Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? von Gerhard Friedl (© Österreichisches Filmmuseum)

Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? von Gerhard Friedl (© Österreichisches Filmmuseum)

V.D.: Und wie kommen jetzt solche Begriffe wie Geschichte, Geld und Grenzen zu Stande in deiner Arbeit an einer solchen Schau?

A.H.: Das kam eigentlich erst im zweiten oder dritten Schritt. Die Arbeit hat nicht mit diesen drei Leitbegriffen begonnen. Ich weiß nur, dass wenn eine Schau eine gewisse Stimmigkeit hat, dann ist es mir ab einem bestimmten Zeitpunkt möglich, solche Linien selber zu erkennen und sie dann auch zu benennen und dem Publikum anzubieten. Aber ich habe keinen dieser Filme quasi nachträglich hineingenommen, nur weil er einem solchen Teilthema entsprechen würde. Es war mir ab einem bestimmten Punkt klar, dass diese Linien bei der Vermittlung dessen helfen würden, welches Europa ich meine. Ich habe nicht so viel neu gesichtet für diese Schau. Manches habe ich gezielt und zum ersten Mal angeschaut, einiges wieder gesehen. Das ist alles ein wenig so wie eine Landkarte. Manche Orte sind besetzt und dann fragt man sich, in welchem Verhältnis diese Orte zueinander stehen. Auch bestimmte AutorInnen-Positionen finde ich da wichtig. Zum Beispiel Jean-Luc Godard. Wir hatten jetzt drei Jahre in Folge im Frühjahr Retrospektiven zu Godard. Heißt das jetzt, dass man der vom Kulturbetrieb verlangten Logik der Abwechslung folgt und damit eine Pause macht? Das wäre ein falsches Argument. Ich bin der Meinung, dass diese Schau einen Godard-Film braucht. So wie sie einen Rossellini-Film braucht, der naheliegenderweise Europa 51 heißt oder, mit La Règle du jeu, einen Renoir-Film. Bei Godard gab es naheliegende Kandidaten wie Film Socialisme oder Allemagne Neuf Zéro. Das wäre aber zu illustrativ gewesen. Und dann bin ich auf Masculin Féminin gekommen, und zwar über Lina Wertmüllers I basilischi. Das ist ein Film, den ich erst vor drei Jahren entdeckt habe, obwohl wir ihn in der Sammlung haben. Meine Liebe zum Kino von Lina Wertmüller ist beschränkt, was ihr sogenanntes Hauptwerk der 1970er Jahre betrifft. Sie ist also keine Filmemacherin, von der ich glaube, dass sie in einer solchen Schau unbedingt vertreten sein muss. Aber Peter Konlechner hat in seiner Carte Blanche im Jahr 2014 diesen Film ausgewählt und da habe ich ihn gesehen und war wirklich begeistert. Ich war dann auch fassungslos über meine eigene Ignoranz diesbezüglich. Es ist einer jener Filme, die nicht die große politische Geste in sich tragen. Er spielt in einem Kaff und bleibt mehr oder weniger in diesem Kaff. Niemand würde auf den ersten Blick sagen, dass das ein „Europa-Film“ ist. Aber er hält eine Situation junger Menschen fest, die an diesem Ort recht wenige Außenimpulse empfangen, wie Amerikanisierung, Globalisierung, Medialisierung; das ist dort eine Art mildes Gefängnis, wo aber viele gar nicht weg wollen. Und dazu dann die „Kinder von Marx und Coca-Cola“ im Paris der 1960er Jahre zu sehen, Jugendliche, die sich an alle Impulse ranhängen, an Amerika, an Pop und so weiter, fast im selben historischen Moment, das finde ich sehr spannend. So kamen Masculin Féminin und I basilischi zusammen. Ich habe bei diesen Assoziationen dann auch mehr und mehr gehofft, dass ich zwei Filme wie diese beiden auch wirklich nacheinander zeigen kann. Solche Hoffnung ist meistens illusorisch, wenn man sie auf eine ganze Schau anwendet, da steht meistens irgendeine praktische Realität dagegen, weil zum Beispiel nicht alle Filmkopien zu jedem beliebigen Zeitpunkt verfügbar sind. Aber da in diesem Fall vieles aus der eigenen Sammlung kommt und wir das mit den Leihkopien gut regeln konnten, hat es tatsächlich durchgängig geklappt. Es gibt 25 Abende mit jeweils 2 Filmen, die miteinander sprechen. Natürlich man fragt sich, ob man manchmal, um das Konzept einzuhalten, Nachbarschaften erzeugt, die keine sind. Das mag schon sein. Aber am Ende habe ich mich zu meiner eigenen Überraschung sehr wohl gefühlt mit all diesen Paarungen. Mir ist sehr bewusst, dass nur wenige Menschen zwei Filme am Tag sehen werden. Die Zahl jener, die so etwas regelmäßig tun, wird jedenfalls nicht größer, glaube ich. Aber vielleicht kennt man ja schon einen Film und schaut sich dann den anderen an und stellt so Verbindungen her. Dabei geht es auch nicht darum, dass man sich in erster Linie über die Frage der Paarung Gedanken macht. Ich verstehe mich nicht als allzu didaktischer Kurator. Es geht mir darum, dass man starke Erfahrungen machen kann, eben auch mit einer Paarung, wie zum Beispiel Mr. Arkadin von Orson Welles und Mr. Klein von Joseph Losey, die starke ästhetische Differenzen enthält. Und dann kommt so ein Film wie La Question humaine von Nicolas Klotz, ein Film der mich begeistert, seit ich ihn vor zehn Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Der hat keinen besonderen Status im cinephilen Milieu, aber für mich ist das einer der politisch härtesten und klarsten Filme der jüngeren Zeit. Und er hat zum Thema „Geld“ eine besonders auffällige Nähe, so wie eben Mr. Klein oder David Golder oder mein liebster Fassbinder, In einem Jahr mit 13 Monden. Auf einmal gibt es also auf dieser Landkarte mehrere Filme, die Ökonomie und das Kapital thematisieren. Der Boden für diese Leseangebote der Schau sind die Werke selber. Und beim Begriff der „Freiheit“, die in Eurer vorherigen Frage anklang, bin ich von etwas ausgegangen, das Harun Farocki einmal in bestechender Klarheit gesagt hat. Nämlich dass das starke Streben nach einem möglichst freien Warenverkehr und Kapitalfluss kein rechtliches Äquivalent hat, was die Bewegungsfreiheit von Menschen betrifft. Was das bedeutet, sehen wir in den letzten Jahren, aber man muss dazu gar nicht Fuocoammare oder ähnliche aktuelle Kinoreflexe zeigen, man kann schon aus Filmen wie Die letzte Chance von Leopold Lindtberg oder Topio stin omichli von Theo Angelopoulos sehr viel mitnehmen. Es geht um das ungleiche Verständnis von Freiheiten. Hier gibt es eine Flüchtlingsdiskussion, dort eine Freihandelsdiskussion.

La Règle du jeu von Jean Renoir (© Österreichisches Filmmuseum)

La Règle du jeu von Jean Renoir (© Österreichisches Filmmuseum)

V.D.: Gehen und Geschichte stehen ja im Kontrast mit Narrativen, die man aus den USA kennt. Ich glaube ja, dass wenn man von außen auf Europa schaut, dann sieht man zuerst die Geschichte.

A.H.: Das Gewicht der Geschichte, ja.

V.D.: Wie zum Beispiel in Playtime mit dieser Postkartengeschichte, die dann in so Spiegelungen existiert. Und das Gehen ist ja etwas, was in Amerika in dem Sinne eigentlich nicht existiert.

A.H.: Ein Grund, dass ich das unter „Gehen“ subsumiert habe, ist auch recht simpel – es beginnt ebenfalls mit „Ge“, und ich habe solche Alliterationen ganz gern. Aber der zweite Grund ist tatsächlich dieser Kontrast zum Fahren, das wir ja hier vor einigen Jahren schon mit einer zweiteiligen Schau beleuchtet haben. Natürlich fahren die Leute auch in Europa sehr viel. Ich meine also insgesamt eher eine Bewegung, über Grenzen hinweg. Aber im Gehen drückt sich etwas spezifisch hiesiges aus, weil die Distanzen kleiner sind. Und man kann sich irgendwie nicht so gut vorstellen, dass hunderttausend Syrer an der US-Ostküste landen und dann nach Minneapolis gehen. Hier in Europa ist das anders. Nach diesen Motiven, wie dem des Gehens, habe ich dann mit Regina Schlagnitweit auch die Fotos für das Programmheft ausgewählt. Ich denke dabei immer auch an Sandrine Bonnaire in Sans toit ni loi. Sie bricht die Konvention nicht, indem sie sich in ein Auto setzt, sondern sie fängt an zu gehen.

P.H.: Ich tue mir sehr schwer damit, Sachen wie Geld oder Gehen an einen Kontinent zu binden. Zum Beispiel denke ich beim Gehen sehr stark an viele Enden in amerikanische Filmen, etwas Chaplin oder Ford, das sind für mich mit die stärksten Bilder des amerikanischen Kinos. Auch bei Ozu zum Beispiel wird unglaublich viel gegangen.

A.H.: Ich wollte nicht sagen, dass diese Begriffe exklusiv zu Europa gehören. Sie haben sich einfach im Zuge meiner Auswahl als drei grobe begriffliche Linien etabliert. Ich würde das wirklich eher mit Bewegung als mit Gehen umschreiben. D’Est von Chantal Akerman ist da ein gutes Beispiel. Das ist ein ganz eigentümliches Fahren in diesem Film, ein Fahren, das Gehende und Stehende filmt. Ein Fahren, das sich unterbricht und in konkrete Wohnungszusammenhänge hineingeht. Die Gefahr in solchen Gesprächen, wie wir es jetzt führen, ist, dass man alles restlos zu erklären versucht, was man im Lauf der Zeit entschieden hat. Aber in Wahrheit ist sehr vieles gar nicht erklärbar, sondern stimmig. Das entspricht dem schon beschriebenen Ansatz, von Filmerinnerungen auszugehen und diese dann zu befragen im Hinblick auf ein solches Thema. Es geht darum, den Filmen zu vertrauen. Und die Präsentation dieser Filme, das ist auch Strategie und Erzählung. Das ist halt meine Erzählung über die Arbeit, der ich mich ausgesetzt habe. Und wenn ich in meinem Text zur Schau dann einen langen Absatz habe, in dem ich zwanzig Filmtitel verwende, dann ist das auch eine Reaktion auf Gedankenprozesse in der Zusammenstellung solcher Texte. Der Text hat bis zu dem Zeitpunkt einen klaren Aufbau und dann wollte ich einfach so einen Traktor der Filmerinnerungen anwerfen. Wie lässt sich ein bestimmter Teil meiner Auswahl begrifflich so kombinieren, dass etwas noch mal klarer wird. Da ändert sich dann auch der Duktus des Schreibens, das sind nicht mal ganze Sätze. Das gefiel mir dann, dass der Text fast mit diesem Schwall endet. Der gibt auch den Schwall wieder, dem man sich ausgesetzt fühlt, wenn man so ein Programm erarbeitet oder auch nur betrachtet.

Le diable probablement von Robert Bresson (© Österreichisches Filmmuseum)

Le diable probablement von Robert Bresson (© Österreichisches Filmmuseum)

P.H.: Diese Art des Schreibens hat ja doch auch viel mit dem zu tun wie du programmierst, kuratierst. Die Wahl der Filme, ihre Kombination, das hat alles sehr viel mit Erfahrung und Erinnerung zu tun. Das hat sehr viel mit impulsiven Entscheidungen zu tun aus meiner Sicht. Ich mag das sehr. Aber jetzt, wo du aufhörst, stellt sich dir da nicht die Frage wie man so etwas weitergeben könnte? Wie soll denn deiner Meinung nach kuratiert werden, also selbst wenn man nicht deinen Erfahrungsschatz hat?

A.H.: Ich habe schon mit 22 Jahren begonnen, Programme zu machen. Meine erste Schau, die ich jemandem angeboten habe, war ein Programm der Filme, die Val Lewton produziert hat. Das war im Stadtkino, 1986 als Mitternachtsschiene. Zu dem Zeitpunkt habe ich wahrscheinlich ein Fünftel der Filme gekannt, die ich heute kenne, oder noch viel weniger, aber die Filme von Val Lewton habe ich ausreichend gut gekannt. Natürlich strebt man an, möglichst viel zu kennen, aber das lässt sich nicht anders bewerkstelligen als langsam aufbauend. Mein eigener Kenntnisstand ist außerdem wie bei jedem anderen Menschen durch libidinöse Neigungen geprägt. Manches ist einem näher, manches weniger. Ich kann mich bemühen, die Dinge, die mir weniger nahe sind, trotzdem zu verstehen und mehr und mehr davon zu sehen, aber ich kenne zum Beispiel im asiatischen Genrekino unendlich wenig, verglichen mit spezialisierteren Kollegen. Das Aufnahmevermögen ist halt begrenzt. Das gilt auch für das aktuelle Kino. Ich versuche da schon mitzukommen, deshalb fahre ich ja auch weiter auf Festivals, aber seit einigen Jahren habe ich das Gefühl, dass ich das einfach nicht mehr schaffe. Das ist auch kein besonderes Drama oder Trauma für mich. Das ist halt so. Das muss man mit Bescheidenheit betrachten. Und was das Weitergeben betrifft – diese Arbeit in den letzten 16 Jahren war für mich nicht nur ein Weitergeben von Werken oder Wissen an ein Publikum, sondern auch das Weitergeben bestimmter Praktiken. Wie man im Modus des Programm-Machens und Programm-Wahrnehmens Film und Filmgeschichte vermitteln bzw. auffassen könnte. Das ist eine Sache der Praxis, man muss es sozusagen tun – das Zeigen wie das Anschauen. Das geht mit Filmwissenschaft alleine nicht. Ich war und bin ja auch selber Publikum verschiedener Institutionen und habe daraus diverse Ansätze oder Ideen mitgenommen und andere zurückgewiesen. Es gibt also ein Fortschreiben, eine Genealogie. Zumindest habe ich meine Arbeit immer als Teil einer Genealogie empfunden, die auch stark von Wien und seiner Filmkultur geprägt ist. Darum finde ich die Tätigkeit hier auch so spannend und beglückend. Ich war hier lange im Publikum, habe die Szene kennengelernt und Figuren wie Peter Kubelka erlebt, bestimmte Redeweisen, Schreibweisen und Programmmatiken erlebt. Daraus konnte ich immer schöpfen, und Anderes konnte man woanders mitnehmen. Das verknüpft sich dann im Lauf der Zeit, und irgendwann kommt hoffentlich etwas Eigenes dabei raus. Diese Disziplin, an der mir viel liegt, nämlich Film Curatorship, inkludiert ja idealerweise auch ein hohes Bewusstsein von den Relais zwischen verschiedenen Generationen. Das ist insgesamt ein Metier, das im Schatten der Kunstkuratorenschaft steht und noch recht wenig reflektiert wird, gerade auch von denen, die es selber betreiben. Ich habe es als Teil meiner Arbeit verstanden, dieses Metier sichtbarer und auch „selbstreflexiver“ zu machen. Mit dem Ziel oder der Hoffnung, dass die Befassung mit Film und Filmgeschichte in den kommenden Jahrzehnten als notwendiges Element der generellen kulturgeschichtlichen Reflexion verstanden wird. Damit bin ich natürlich nicht sehr weit entfernt von jenen, die vor 70, 80 Jahren Kinematheken und filmkulturelle Institutionen gegründet haben oder die begonnen haben, ernsthaft über Film zu schreiben – fast immer mit dem Ziel einer Aufwertung. Das ist sicher auch zweischneidig. Das hat dann auch dazu geführt, dass man dem Film nur „als Kunst“ einen Wert zugestand, was meiner persönlichen Anschauung widerspricht. Aber dieses Motiv, den Film in ernsthafte kulturelle und ästhetische Debatten zu integrieren, war für jede Generation und auch für mich prägend. Ich merke auch, dass es heute wieder – mehr als vor fünfzehn Jahren – viele Diskurse gibt, die in die entgegengesetzte Richtung führen.

Alexander Horwath (© Österreichisches Filmmuseum)

Alexander Horwath (© Österreichisches Filmmuseum)

V.D.: Inwiefern?

A.H.: Wenn ich mir zum Beispiel die Verleih- und Kinolandschaft anschaue. Also die Motivlagen, die darüber entscheiden, was aktuell ins Kino kommt. Ich habe das Gefühl, dass die Motive für oder gegen die Herausbringung eines Films doch viel rückschrittlicher sind als vor 15 oder 25 Jahren. Wenn vor 20 Jahren ein Film von der internationalen Kritik einhellig als künstlerisch relevantes Statement begriffen wurde, dann war es selbstverständlich, dass sich auch in Österreich ein Verleih und Kinos dafür finden. Wenn man jetzt beobachtet, was herausgebracht wird, dann sind es andere Motiv- und Bedürfnislagen, die den Ausschlag geben. Es sind offenbar auch andere gesellschaftliche Bedürfnisse, die sich an das Kino richten. Wenn man das, wie ich, als einen Rückschritt in der Filmkultur betrachtet, muss man erst recht dafür eintreten, wieder relevante Räume für den Film im öffentlichen Gespräch zu schaffen. Ein anderer Aspekt ist das Leiden am Filmjournalismus, der mittlerweile wieder zu einem beträchtlichen Teil aus Stimmen besteht, die sich „generalistisch“ mit allem und jedem befassen, ohne von einem konkreten Feld viel Ahnung zu haben. Dafür hat sich an manchen Orten der Filmkultur aber auch eine Verbesserung eingestellt, denke ich; an den Universitäten zum Beispiel. Einerseits spricht viel dafür, dass mit dem Film jetzt dasselbe passiert wie mit anderen älteren Künsten – eine Art „Absinken“ im Mainstream bei gleichzeitigem „Aufstieg“ in die Hochkultur. Anderseits kommt mir vor, dass das Bildungsbürgertum, das für diese Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert zumindest in Europa sehr aufnahmefähig und wichtig war, auch deutlich schrumpft. Damit stellt sich die Frage, wer jetzt und künftig den gesellschaftlichen Raum bilden könnte, den der Film dann „bespielt“. Das hat natürlich viel mit dem allgemeinen Medienwandel zu tun, mit den neuen Formen der Kommunikation. Und ich habe wenig Ansätze dafür, was das bedeuten wird für die Rolle des Films in 20 oder 40 Jahren.

Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Egal ob man apokalyptischen „Ende-des-Kinos“-Gedanken oder hoffnungsvollen Fortschrittsdenkern folgt, scheint in vielen Auseinandersetzungen mit dem kinematographischen Wesen immer dessen historische, ästhetische und emotionale Vergangenheit eine Art Ideal oder Rechtfertigung zu sein. Der Blick zurück ist fester Bestandteil des Kinos. So begründete Adrian Martin unlängst seine Rückkehr in die Arbeit als freier Autor mit der Beobachtung, dass Cinephilie rückwärtsgewandt sei. Dazu zitierte er wie so oft Serge Daney: “Serge Daney once defined cinephilia as „the eternal return to a fundamental pleasure“. A pleasure whose constitution is somewhat different for each culture, each generation and, finally, each individual. But whatever it is that forms the core of the cinephile passion for any of us, it is to that, apparently, we shall return.” Filmemacher berufen sich natürlich fast zwangsläufig auf die Vergangenheit, wenn es um Einflüsse und Vorbilder geht. Sie können sich schlecht an der Zukunft orientieren und den Einfluss zeitgenössischer Filmemacher gibt man nicht gerne zu. So ist es kein Wunder, dass auch hier die Vergangenheit eine große Rolle spielt und sich bei manchem Filmemacher auch deutlich in Form und Inhalt wiederspiegelt. Nuri Bilge Ceylan ist dafür ein sehr gutes Beispiel, wird ihm doch von manchen Betrachter vorgeworfen, dass er sich sehr frei an Filmemacher wie Andrei Tarkowski oder Michelangelo Antonioni bedient. Man könnte eine ganze Liste aufstellen mit den großen Filmemachern von damals und ihrem Überleben im Werk anderer Filmemacher. Aber zum einen verkommen solche Ansätze zu unfertigen Spielereien und zum anderen ist klar, dass ein Einfluss nicht einfach nur ein Einfluss ist, er ist weder mehr noch weniger als das, ohne es jemals nur zu sein. Oft wird so getan als gäbe es die Vergangenheit des Kinos wie einen schwebenden Punkt in der Zeit völlig ohne Relation. Ein gutes Beispiel dafür hörte ich in einem Seminar zum Dokumentarfilm, in dem hintereinander Gerhard Friedls Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? und der berühmte britische Propagandafilm The Battle of the Somme gezeigt wurden und man sich begeistert auf Parallelen in der Art und Weise der Schwenks in beiden Filmen stürzte. Dabei verstehe ich, dass es diese Verbindungen gibt, aber mir fehlen die Brücken, die es ja zweifellos zwischen 1916 und 2004 gegeben hat mit tausenden ähnlichen Schwenks. Dann gibt es da Filmemacher wie Béla Tarr, von denen man immer wieder hört, dass sie sich an einer Ästhetik des Stummfilms bedienen. Das halte nicht nur ich für ziemlichen Schwachsinn, da Kamerabewegungen, Tondesign und das Schweigen in den Filmen von Tarr grundverschieden von der eigentlichen lauten, handlungsfreudigen Ästhetik vieler Stummfilme sind. Dennoch erging es mir selbst so, dass ich vor kurzem Parallelen zu entdecken glaubte, zwischen Tarr und Werner Hochbaums Morgen beginnt das Leben. Ist dieser Drang also eine Folge eines ganz anderen Drangs, der darin besteht, dass man ständig einordnen will, Brücken und Vergleiche schlagen möchte und sich sowieso ständig an seinen eigenen Seherfahrungen abarbeitet? Würde das umgemünzt auf das Kino bedeuten, dass es seit einiger Zeit ein Gedächtnis hat, das von einer solch immensen Größe ist, dass es beständig die Gegenwart durchdringt? Oder anders gefragt: Kann man überhaupt noch beziehungsweise konnte man jemals einen Film machen, der isoliert von jedweder Verbindung zur Vergangenheit des Kinos ist? Wenn man frühe und enthusiastische Theoretiker wie Jean Epstein liest, fällt einem auf, dass sie das Kino immerzu als Potenzial verstanden haben. Begeistert wird da von Möglichkeiten und Innovationen der Wahrnehmung gesprochen, die darauf warten in die Praxis umgesetzt zu werden. Heute werden nur mehr Versuche unternommen, das Kino neu-zu-denken, nicht es neu-zu-machen. Immerzu beschleicht einen das Gefühl, dass alle Wege schon gegangen worden sind, alle Ideen nur eine Wiederholung der immer gleichen und letztlich gleichermaßen scheiternden und in Kraft tretenden Utopien des Kinos sind. Dabei gleicht die Kinolandschaft dann tatsächlich einer apokalyptischen Welt, nicht weil sie völlig zerstört oder leer wäre, sondern weil man auf lauter Einzelkämpfer und Überlebenskünstler trifft, die klagen und jammern und sich von allem abgrenzen zur Gegenwart und zu allen anderen.

Serge Daney

Serge Daney

Ist das alles nicht Resignation? Als junger Mensch muss man sich schon und beständig fragen, warum man heute ausgerechnet im Filmbereich arbeiten will. Es ist eine Branche der Verzweiflung (egal ob Praxis oder Theorie), obwohl das Kino immer noch so vital scheint und auch als solches beworben wird. Nur wenn man sich umsieht, dann kann man eigentlich kaum ignorieren, dass dies eine der aufregendsten Phasen in der Geschichte des Bewegtbildes ist. Wir haben einen übermäßigen Output an Filmen, Festivals en masse und jedes Jahr große und kleine Filme, die absolut großartiges vollbringen und viele der Innovationen und Utopien des Kinos erfüllen. Ein junger Kritiker bekommt bei dieser schieren Masse und Verfügbarkeit ganz neue Möglichkeiten und eine ganz neue Wichtigkeit, da er theoretisch weitaus freier und vielschichtiger Vermittlungsarbeit betreiben muss. Für Filmemacher dagegen ist es eine unfassbar aufregende Zeit, da wir uns in lauter Übergangsphasen befinden, in medialen Übergängen, in Übergängen bezüglich des Dispositivs Kino und schließlich auch neue Vertriebsmöglichkeiten und Diskussionen entstehen. Es sollte eigentlich eine Zeit der puren Kinomanie sein, aber da gibt es einige Probleme. Die gesellschaftliche Wichtigkeit von Film wird marginaler und marginaler. Andere Medien haben die Welt überrollt. Ich spreche bezüglich der Marginalisierung von Film als Kunst. Und damit ist selbstverständlich nicht allein der Kunstmarkt gemeint, sondern auch eine Betrachtungsweise industriellen Kinos als Kunst. Fast lächerlich scheinen mir die Versuche vieler Kritiker, Filme auf ihre gesellschaftliche oder politische Relevanz hin zu analysieren. Es ist deshalb lächerlich, weil es an der völlig falschen Stelle ansetzt und die zunehmende Marginalisierung von Film eher befördert als verhindert (selbst wenn es gegenteilig gemeint ist). Der Ansatz dieser Kritiker und Vermittler ist, dass sie Filme dekonstruieren und damit aufzeigen wie diese arbeiten und was sie über uns und die Gesellschaft aussagen. Das klingt an sich nicht falsch. Nur kann ein Film heute noch was über eine Gesellschaft sagen, wenn er jenseits ihrer Wahrnehmung stattfindet beziehungsweise hilft es den Filmen, wenn man sie so betrachtet? Es scheint mir immer noch fruchtbarer sich für einen filmbezogenen, formalistischen und konstruktivistischen Ansatz stark zu machen und zwar sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Denn nur über ein Interesse und eine Begeisterung für Film jenseits seiner Thematiken und Botschaften, kann man diesen wieder ein öffentliches Gehör schenken. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Kino doch über sein Ende hinaus ist und was dies bedeuten würde. Denn was hat die Form von Film noch mit sich und uns tun?

Haben wir vielleicht bereits eingesehen, dass es keine Zukunft mehr gibt und versuchen uns jetzt alle zu retten, wir berufen uns auf die Geister des Kinos wie Apichatpong Weerasethakul oder Gilberto Perez, jene Phantome, die so fest in die Wirkung und Technik von Film einwirken, dass man sich fragen kann, ob die Vergangenheit nicht sowieso in jedem Bild wiederkehrt. Wir berufen uns auf die verbitterten Handwerker des Kinos wie Pedro Costa, auf den Surrealismus wie Bruno Dumont oder das Ende des Kinos wie Godard. Dieses traurige Gefühl einer Nostalgie ist dominant. Nostalgieabende werden veranstaltet, „alte“ Filme werden gezeigt und man betont, was für eine Besonderheit es doch ist, dass man sie noch einmal auf Film projiziert zeigen wird. Das zieht sich von Retrospektiven auf Festivals, die zunehmende Bedeutung von Il Cinema Ritrovato in Bologna bis hin zu der unglaublichen Begeisterung für die Einfallslosigkeit eines neuen Star Wars Films. Man darf sich schon fragen, ob diese ganze Glorifizierung der Vergangenheit, das Schwärmen und die Nostalgie nicht der ultimative Sieg der Hollywoodmaschinerie mit ihren Remakes und Sequels ist, die Filmgeschichte als eine Spirale, 120 Jahre Hoffen auf die Vergangenheit. Damals war alles schöner? So einfach kann es gar nicht sein, schließlich war es doch irgendwie von Beginn an klar, dass Film sich nicht vergessen kann, schließlich hat er sich selbst (neben all den anderen Dingen, die darauf zu sehen und hören sind) gespeichert. Film ist nun mal eine einzige Erinnerung an sich selbst. Nur darf man heute noch an die Utopie des Kinematographischen glauben, an jenes Potenzial unsere Wahrnehmung zu verändern und alles umzuwälzen, uns zu erfinden im Licht der Leinwand oder des Laptops? Oder ist der Weg nach vorne kürzer als der nach hinten und deshalb ist es das Zeitalter der Zyniker, der nostalgischen Brüder, die sich nicht durch ihre Weltsicht verbinden sondern dadurch, dass sie Zynismus zu einer Marke gemacht haben. Gibt es noch Möglichkeiten im Kino? Natürlich! Technische Innovationen, Reaktionen auf eine Welt, die sich zwar nie total verändert, aber immerzu so tut als ob und die bereits angesprochenen Übergangsphasen, die neues Potenzial freilegen und in extrem versierten Interpretationen wie bei Albert Serra oder in Sergei Loznitsas Maidan wirken bereits heute und deuten auf eine Zukunft des Kinos hin. Das Kino stagniert sowohl bei einem filmischen Purismus, der Film nur im Kino und an seine ursprüngliche mediale Form gebunden sieht (vor kurzem erwischte ich mich in einem Gespräch dabei zu sagen, dass die einzige mögliche Rebellion im Kino heute sei, auf Film zu drehen) als auch bei einer formalen Nonchalance, die sich nicht bewusst ist, was sie benutzt, um zu drehen oder zu projizieren und die diese Medialität und Form nicht automatisch zu einem Gegenstand des Films oder seiner Aufführung/Besprechung macht. Letzteres wäre eine Sache der Bildung und da gibt es hierzulande und überall extreme Defizite in diese Richtung. Selbst an Universitäten werden Filme nach wie vor kommentarlos gezeigt, um geschichtliche Ereignisse zu veranschaulichen. Das ist der völlig verfehlte Turn einer Vergangenheitsbezogenheit, weil er so tut als würde Film eine Welt vermitteln, obwohl Film immer in erster Linie sich selbst und einen eigenen Zugang zu einer Welt vermittelt. Man kann daraus natürlich Informationen oder Beobachtungen filtern, aber man muss sich die Arbeitsweise des Films bewusst machen. Wie die Sache auf Filmschulen oder im Bereich der Filmwissenschaften aussieht wurde an dieser Stelle schon häufiger skizziert. Man darf davon ausgehen, dass es kein größeres Interesse an einem formalen Zugang gibt, wenn, ja wenn dieser nicht geschichtlich verifizierbar ist und man ihn in Schubladen stecken kann.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Praxis darf nicht mehr einfach nur eine Selbstverwirklichung sein, es muss wieder den Idealismus einer Kinoverwirklichung geben, die sich individuell, rebellisch und abgrenzend verstehen darf, aber nicht nur mit dem egoistischen Touch einer Willkürlichkeit argumentieren sollte, sondern Fragen stellen muss an das, was da getan wird und wie es getan wird. Was man braucht sind Kämpfer für das Kino, keine Politiker, keine eingebildeten Einzelkämpfer oder Opfer eines kapitalistischen Überlebensdrangs. Das Kino braucht idealistische Realisten, die nicht zynisch sind, weil zynisch cool ist, sondern wenn dann, weil sie es wirklich fühlen. Die ökonomischen Maschinen, die uns sagen wie ein Film auszusehen hat, welcher Film besprochen werden muss und welcher gar nicht erst ins Kino kommt, müssten abgerissen werden. Sie werden es nicht. Sie sind wie eine Selbstvernichtungsmaschine. Aber ein paar Angriffsflächen bietet jedes System.

Wo könnte ein Umdenken stattfinden? Es gibt nicht viele Anhaltspunkte, aber zwei sind mir schon seit einiger Zeit zumindest als abstraktes Konstrukt bewusst. Das erste Umdenken würde die Filmpraxis selbst betreffen, es geht um ein Umdenken bezüglich der narrativen Form. In den zahlreichen Inhalt VS. Form Debatten, die man in Filmkreisen führt, kommen immer wieder unterschiedliche Zugänge zu Begriffen wie „Handlung“ oder „Geschichte“ an die Oberfläche. Ein Grund für diese porösen Grenzen ist sicherlich die Unterscheidung des „Wie“ und des „Was“ bezogen auf den Plot eines Films. Worin es eine erstaunliche Armut gibt sowohl im Kunstfilm- als auch im Mainstreambereich sind Veränderungen in der narrativen Form. Wie anders ist zu erklären, dass Non-Fiction derzeit einen so hohen Stellenwert genießt als damit, dass dort neue narrative Möglichkeiten offenbar werden? Wie anders ist zu erklären, dass ein mittelmäßiger Film wie Boyhood von Richard Linklater derart gefeiert wird, als damit, dass ein innovativer Zugang zur Produktion eines Films mit einer innovativen Erzählform verwechselt wird? Der Film gibt vor etwas Neues und Aufregendes mit der narrativen Form zu machen, tut es aber nicht. Nun mag man mir sicherlich mit einiger Berechtigung widersprechen, denn schließlich arbeiten viele Filmemacher immer wieder an interessanten narrativen Formen. Genannt seien nur Filmemacher wie James Benning, Sergei Loznitsa oder Claire Denis. Der Hunger, den man dennoch hat auf Veränderungen hängt vielleicht mit den frühen Utopien eines Jean Epstein zusammen. Denn dort wurde Kino als eine Möglichkeit begriffen, die Erfahrung der Realität sichtbar zu machen. Heute dagegen ist der bessere Film oft eine Antwort, ja ein Gegenkonzept zu dieser Wahrnehmung. Die Entschleunigung eines Tsai Ming-liang, eines Ben Rivers oder eines Lav Diaz, die mancherorts unter dem Begriff Slow-Cinema zusammengefasst wird (wieder so ein Schubladendenken), wird als Antwort auf unsere Wahrnehmung verstanden nicht als ihre Repräsentation oder gar Realität (darüber ist unser Zynismus nun wirklich schon lange hinaus). Die Mischformen spielen wohl eher unserem Zweifel und dem Versagen gegenüber einer emotionalen Abbildung der Realität in die Karten (Stichwort: spekulativer Realismus), als dass sie das Kino als Möglichkeit verstehen. Film scheint am Limit zu sein, wenn es darum geht, unsere Weltwahrnehmung wiederzugeben. Aber ist das wirklich so. Vor kurzem forderte unser Kollege hier auf Jugend ohne Film, Andrey Arnold in einem Gespräch einen Film, der ihm diese Wahrnehmung und Welt im Facebook-Zeitalter nahebringt. Nach einiger Zeit dachte ich, dass man sich vielleicht mit Chantal Akermans Toute une nuit (1982) an diese Art der Erfahrung heranmachen könnte und später vielen mir noch Michael Snows Presents (1981) oder gar So Is This (1982) ein, alles Film die über ihre Form von einer Wahrnehmung erzählen. Also wieder in der Vergangenheit suchen? Genau hier würde ein zweites Umdenken einsetzen, das damit aufhören muss zu fragen, ob ein Film alt oder neu ist. Natürlich spielen historische Gegebenheiten eine große Rolle im Umgang mit Film, man kann daraus ästhetische, produktionstechnische und politische Richtungen erkennen, analysieren und ja, einordnen, aber für die Erfahrung und Wahrnehmung des Kinos wäre es viel interessanter, wenn man einen Film in der Gegenwärtigkeit seiner Projektion oder Wiedergabe betrachtet und sich endlich eingesteht, dass das Kino, das wir heute sehen können nicht die Vergangenheit sein kann. Stattdessen schauen sich viele Zuschauer ältere Filme an, um sie mit neueren Werken vergleichen zu können beziehungsweise um die Entwicklung eines Autors nachzuvollziehen. Warum sollte es eine Entwicklung geben? Wer sagt mir in welche Richtung sie läuft? Es gibt ein immerzu gegenwärtiges Gesamtwerk. Epochen werden analysiert und als abgeschlossen betrachtet und mehr als genug junge Filmschaffende haben mir schon gesagt, dass sie sich schwer tun mit Filmen von „früher“. Wie könnte ein Medium überleben, das sich so stark mit der Vergangenheit identifiziert, wenn von ihm eine Aktualität verlangt wird, die es zwar immer hat, aber nie bezogen auf den Inhalt haben kann. Historiker töten das Kino. Vielmehr ist die Filmgeschichte doch ein Netz an Visionen, Inspirationen und Verbindungen, das immer wieder eine neue Straße offenbart und eine neue Möglichkeit über etwas zu erzählen, etwas zu beobachten oder es einfach nur zu lieben, bereithält. Wenn man die Vergangenheit des Kinos als seine Gegenwart begreift, dann kann man es wirklich kennenlernen.

Toute une nuit von Chantal Akerman

Toute une nuit von Chantal Akerman

In diesem Kino ist Nostalgie ein Gefühl, das sich im Jetzt verankert. Hou Hsiao-Hsien hat in seinem Millenium Mambo auf unfassbar geniale Weise genau diese zeitliche Verdrehung der Gefühle im Kino kommentiert. Ein Szenario in der ganz nahen Zukunft wird mit dem bedauernden Ton eines Flashbacks erzählt. Das Kino erzählt von der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Das muss sich weder in existenziellen Sci-Fi-Spielereien äußern noch in großen Gefühlen. Es darf auch eine ganz nüchterne Feststellung sein. In diesem Kino kann es nicht die Aufgabe eines Filmkritikers sein, sich exklusiv mit zeitgenössischen Filmproduktionen zu befassen, da es vielleicht Filme gibt, die über das Hier und Jetzt des Kinos und der Welt mehr sagen als Filme des Jahres 2015, die das aber gar nicht sagen müssen, weil sie für sich selbst vielleicht genug sind und damit auch genug für jede Art der Vermittlung, Programmierung und Besprechung. Ich betone, dass eine öffentliche Besprechung aktueller Filme so oder so unabdingbar ist. Es ist eher eine Frage des Umfangs und der Alternativen, aus dieser Sklavenhaltung auszutreten. Nun gibt es in dieser Hinsicht ja bereits viele Auswüchse und versuche im Internet. Nischen für Unbezahlte, Hobbies für Leidenschaftliche. Aber wenn die Kritik den Filmen folgt, dann werden weitere Schritte in diese Richtung womöglich unumgänglich. Sieht man sich an in welcher Regelmäßigkeit große Filmemacher sich in der Zwischenzeit auf vergangenes Kino berufen und dabei dessen Unvergänglichkeit betonen, sich sowohl formal als auch inhaltlich in einem Austausch mit diesem Kino befinden, dann wird es Zeit, dass man das weder als verklärte Nostalgie betrachtet noch als Romantik sondern schlicht akzeptiert, dass das Kino nur in der Gegenwart sein kann.

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Diese Vergangenheit ist kein Punkt ohne Verbindung. Ein Filmemacher, der sich an der Ästhetik von Schwenks versucht, kann daher nie nur in Relation zu einem Film aus den 10er Jahren gesetzt werden. Der Schwenk hat eine Geschichte, die kein Filmemacher ignorieren darf. Natürlich kann nicht jeder Filmemacher sehr viele Filme gesehen haben und obwohl das eigentlich verlangt werden müsste, wird er sich dieses Wissen sozusagen über einen Schneeballeffekt aneignen können, denn sieht er zum Beispiel einen Schwenk bei Visconti, bekommt er eine Ahnung eines Schwenks bei Renoir und so weiter. Das hat natürlich nichts mit dem wirklichen Dreh zu tun, wenn man im Wind steht, Hunger hat und es unheimlich schwer ist, die Schärfe zu halten. Aber was hat einen eigentlich dazu veranlasst, einen Schwenk zu machen? Welchem Gefühl folgt man, wenn man sich für eine Geschwindigkeit und eine Perspektive entscheidet? Da wir in einer Welt leben, in der das Bild schon lange die Realität überholt hat, beruht unsere Seherfahrung auf Bildern. Die Bilder eines Schwenks, bekommen wir am ehesten im Kino oder Fernsehen zu sehen. Selbst ein Filmemacher wie Lisandro Alonso, der sich ganz bewusst von den Orten, also der Realität inspirieren lässt, der seine Einstellungen mehr oder weniger organisch aus der Welt filtert, thematisiert mit einer Beständigkeit die Fiktionalität seines eigenen Werks (insbesondere in Fantasma und Jauja), dass klar sein muss, dass der Realismus immer ein Bild ist und ein Bild kann nicht einfach sterben. Mit Leos Carax, der sich immer wieder von den Ursprüngen des Films inspirieren lässt, kann man die Welt durch die Augen des Kinos betrachten. Dazu muss man aber hinsehen, nicht zurückblicken.

Jauja von Lisandro Alonso

Jauja von Lisandro Alonso