Die Fahrt in den Raum ist ein lauernder Tiger

An manchen Tagen stellt man sich die Frage, warum einen ausgerechnet das Kino verführt hat.

(Eigentlich stellt man sich diese Frage jeden Tag, denn man verliebt sich immer wieder neu)

Ich glaube immer wieder mal, eine Antwort für mich gefunden zu haben. Heute und gestern ist diese Antwort: Die Fahrt in den Raum. Damit meine ich jene Entscheidungen der Kamera, näher zu gehen, etwa zu suchen, einzudringen. Es ist in diesen Bewegungen, in denen die Illusion geboren wird, hier kommt es zur Berührung meiner Augen mit der Leinwand. Es gibt ganz unterschiedliche Ausprägungen einer solchen Fahrt. Es gibt seit jeher den Phantom Ride, jene Methode, in der wir uns mit der Kamera auf einem sich bewegenden Fahrzeug befinden und mit ihr in die Welt, die Welt des Films fahren. Hier versteckt sich die Möglichkeit einer Reise ohne Bewegung, das bewegungslose Driften ist ein Träumen in den Augen des Kinos, ich kann völlig unbeweglich sein, krank und verfault und doch mit der Kamera in die weite Welt hinaus. Es reicht mir manchmal nicht, wenn diese weite Welt durch einen Schnitt plötzlich vor mir liegt. Ich muss den Weg spüren, sehen, hören. Ich habe viel über die Züge und Phantom Rides bei Hou Hsiao-Hsien geschrieben, aber der ultimative Phantom Ride seines Kinos ist gar kein Phantom Ride und findet sich in Goodbye, South Goodbye, eine lange Motorradfahrt auf einer schmalen Bergstraße. Es ist deshalb ein so gelungener Phantom Ride, weil er sich selbst in seiner Bewegung verliert. Bei einem solchen Phantom Ride geht es nicht um das Ziel der Bewegung, die Bewegung selbst ist das Ziel. Bei besseren Griffith Filmen wie Way Down East verlegt sich diese Bewegung sogar in die Montage, die wie Eisschollen durch die Filme treiben. Ist es also die Bewegung durch den Raum, die mich verführt?

Oder ist es vielmehr die Zeit, die in diesen Raum geschrieben wird? Filmemacher wie Belá Tarr oder Jia Zhang-ke arbeiten beständig mit dieser Verzeitlichung der Bilder. Bei ihnen bedeutet eine Fahrt in den Raum auch nicht zwangsläufig eine Fahrt nach vorne. Sie kann seitlich verlaufen wie zu Beginn von Sátántangó, sie kann sich diagonal-schwenkend vorwärtsbewegen wie häufig in Still Life. In diesen Kamerabewegungen sammeln sich die Geschichte, die Politik und die Poetik der Figuren und ihrer Umgebungen. Vor allem sind es wohl die Erinnerungen. Es gibt aber eine ganz andere Frage an solche Bewegungen, die man mit der berühmten vorletzten Einstellung in Michelangelos Antonionis Professione: reporter diskutieren kann. In der Szene dreht sich die Kamera durch ein Gitter hindurch um 360 Grad und lässt wichtige Handlungen Off-Screen passieren, obwohl man sich fragen kann, ob das entscheidende Element der Szene nicht die Bewegung der Kamera selbst ist. Die Frage lautet, ob solche Kamerabewegungen ein distanziertes Schauen des Filmemachers bedeuten, in dem die autonome Kamera sozusagen die Freiheit der Auswahl des Blicks beleuchtet oder ob wir in diesen Bewegungen die Bewegung der Seele des und der Protagonisten nachempfinden, eine Zustandsbeschreibung, die eben mit Filmemacher wie Tarr an der Zeit hängt, bei anderen an der Sinnlichkeit, spirituellen Erhebungen, Erotik und Lust oder doch dem kinematographischen Selbstzweck, einer Masturbation der Bewegung (wie bei Hou Hsiao-Hsien, obwohl dieser auch gerne mit der Geschichtlichkeit arbeitet). Die fließende Kamera ist also ein Ausdruck innerer Zustände und der Macht der Sichtbarmachung zugleich. Sie vermag eine Erfahrung der Gefühle zu geben (das gilt immer wieder auch für Statik) und gleichzeitig hinter den fragilen Schleier blicken, der diese Gefühle verbirgt.

Der Schuss danach: Professione: reporter

Der Schuss danach: Professione: reporter

Einzig der nervöse Zustand scheint mir in der Montage besser aufgehoben, aber ein Schnitt nimmt ihm auch das Erdrückende der Zeit. Das Fiebrige, Nervöse, Panische zeichnet sich weniger dadurch aus, dass man die Zeit verliert wie in den schnellen Schnitten, die manche Filmemacher dafür verwenden, sondern gerade dadurch, dass die Zeit nicht aufhört, nicht unterbrochen wird, sich nicht verändern lässt. Das Fließende müsste also verstört werden. Hier kann der Ton eine enorme Rolle spielen, denn auch er bewegt sich durch die Zeit und den Raum. Carl Theodor Dreyer hat mal geäußert, dass ein Verständnis für die Existenz von Tönen, die immer existieren auch in dramatischen Szenen wichtig wäre. Es geht also darum, dass man das Flugzeug am Himmel auch hört, wenn man stirbt, es geht um eine Unaufhaltsamkeit der Welt und eine individuelle Nichtigkeit im Strom der Zeit. Töne dringen beständig in die Räume ein und das Kino tut gut daran, das zu dokumentieren statt – wie so oft im industriellen Kino – das Drama zu isolieren.
Die Gleichzeitigkeit der Dinge wie sie auch in einer statischen Einstellung, die sich durch den Raum bewegt, findet, nämlich jener Tischszene in Cristian Mungius 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile ist entscheidend für die Wahrnehmung des Kinos. Hände und Stimmen greifen in den Kader, sie oszillieren zwischen On- und Off-Screen, unser Blick wird gelenkt, aber er wird mitten im Chaos gelenkt. Es geht hier um die Kontrolle des unkontrollierbaren Lebens. Dieses Gefühl erweckt sich bei mir nur, wenn das Leben auch dort ist, das Leben auf Film. Erst dann machen Dinge wie Framing, Sound-Design oder Lichtsetzung Sinn. Es geht nicht darum, einen Dialog oder ein Gesicht aus dem Film zu nehmen und es nach vorne zu holen, sodass wir es alle sehen können, es geht darum das Gesicht oder den Dialog im Film so zu inszenieren, dass wir sowieso dort hinsehen, auch wenn wir in jeder anderen Ecke auch etwas spannendes sehen würden. Ähnlich verhält es sich in der Malerei, nur dass es im Film die Macht der Bewegung gibt.

Die Zufahrten in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson (wie in jedem seiner Filme) sind pures Kino. Sie existieren exakt zwischen der absoluten Kontrolle eines Filmemachers im Stil eines Stanley Kubricks und der völligen Offenheit der Welt. In diesen Fahrten in den Raum offenbaren sich die Sicherheit eines manisch ausgelöschten Zweifels (Kubrick) und die Essenz dieses Zweifels selbst (Tarkowski). Anderson zelebriert den Rausch der Bewegung, um im Gesicht einer Emotion zu landen. Aber auch die Fahrt selbst berührt schon die Wahrheit und die Hintergründe dieser Emotion. Was hier etwas abgehoben klingt, soll eigentlich nur heißen: Eine Kamerafahrt auf ein Objekt zu, erzählt immer zur gleichen Zeit, von dem, was es filmt und von der Fahrt selbst. Was bedeuten diese Fahrten? Sind sie der neugierige Blick, der schweifende Blick, der suchende Blick, der täuschende Blick, sind sie ein Blick? Oder sind sie tatsächlich eine Penetration, eine Aggressivität, ein Tabu wie Jacques Rivette das über Gillo Pontecorvo geschrieben hat. Es ist mit Sicherheit so, dass man nicht immer auf etwas zufahren sollte, oder? Man muss vorsichtig sein. Für das rustikale Sehen schienen mir immer Schnitt oder Zoom geeigneter. Eine Zufahrt ist etwas zerbrechliches, sie ist wie das erste Wort an eine schöne Frau, der erste Kuss, die Zehenspitzen im kühlen Wasser nach einem langen Winter. Genau darin liegt ihre Schönheit. Sie kann zugleich vom Zögern und der Vorsicht des Kinos erzählen als auch von der Überzeugung und dem Mut. Wenn ein Filmemacher Fahrten ganz bewusst und nicht andauernd einsetzt wie beispielsweise Manoel de Oliveira oder Apichatpong Weerasethakul (unterdrückte Gefühle als perfektes Interesse für eine Kamerafahrt, die zugleich entblößt und bekleidet?), dann wirkt der Einsatz dieser Stilistik wie der mutige Schritt in ein neues Leben oder ein erster Atemzug nach einer Dürre. Einen ähnlichen Effekt erzielen Filmemacher immer wieder mit Musik, die erst spät im Film einsetzt. Beispiele hierfür wären Jauja von Lisandro Alonso und El cant dels ocells von Albert Serra. Die Kamerafahrt in den Raum ist wie ein lauernder Tiger. (wenn sie richtig eingesetzt wird: bewusst, behutsam, zärtlich, gewaltvoll).

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Die erste Einstellung in Man Hunt von Fritz Lang, mehr eine Kranfahrt denn eine Zufahrt und doch beides zugleich: Eine Aufblende und ein Titel: „Somewhere in Germany- shortly before the War“ und schon bewegen wir uns durch ein für Deutschland eher untypisches Gestrüpp, ganz so als wären wir in The Thin Red Line von Terrence Malick, Gräser fassen in unser Augen, sie neigen sich im Wind der sich bewegenden Kamera. Nebel steigt auf vom Boden, die Mitte des Bildes ist erwartungsvoll leer, eine unerträgliche Spannung und Konzentration liegt in den Sekunden. Sonnenlicht drückt durch den dicken Wald und Nebel, die Kamera richtet sich langsam auf den Boden, als würde sie Spuren suchen. (eine ähnliche Einstellung zu Beginn eines Films findet sich in The Big Lebowski von den Coen-Brüdern). Eine fließende Blende und nun entdecken wir tatsächlich eine Spur auf dem Boden, eine menschliche Fußspur auf sandigem Untergrund. Die Kamera bewegt sich kontinuierlich in der gleichen Geschwindigkeit weiter und eine weitere fließende Blende bringt uns zum Held des Films, einem Jäger im Wald, einem lauernden Tiger (wir denken an Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul, aber trauen uns nicht zu sprechen, ob der greifbaren Spannung, die uns auch an die Fahrt des Bootes in das Lager von Brando in Apocalypse Now denken lässt mit Trommeln aus der Ferne und einem Tiger im Film). Die Kamera und der Jäger verharren, sie blicken sich um, ein leichter Schwenk. Ein Geräusch. Der Jäger weicht zurück und hält sich an einem Baum fest. Die Kamera schwenkt leicht nach unten. Sie hat ihre Beute, den Helden längst im Visier, sie ist im Vorteil. An dieser Stelle schneidet Lang zum ersten Mal in einen POV seiner Hauptfigur, also just an der Stelle, an der er diese gefunden hat. Erst die Kontroller durch die Fahrt hat den Weg frei gemacht für eine bewusst-klassische Montage. Wie der Jäger selbst hat sich die Kamera durch den Wald herangepirscht. Viele Filme beginnen bei der Jagd, viele Filme beginnen mit einer Fahrt.

Man Hunt von Fritz Lang

Man Hunt von Fritz Lang

Die besten Filme finden ihre Beute nie. Sie streifen umher, lösen sich wieder, sehen etwas, sehen nichts, wollen etwas sehen, sie sind zu weit weg, zu nah, sie haben eine richtige Position, sie warten, sie suchen, sie schlafen, sie bewegen sich und bewegen sich und bewegen sich und irgendwann schießen sie uns direkt ins Herz.

Milieustudien: Batang West Side von Lav Diaz und Putty Hill von Matthew Porterfield

Manchmal programmiert der cinephile Zufall zwei völlig unabhängige Screenings in kurzer Abfolge, die dann beginnen, miteinander zu sprechen, als hätte sie jemand absichtlich hintereinander in einen Tag projiziert. Ein solches Doppel hielt jener späte, milde Februartag bereit, an dem das Österreichische Filmmuseum ihre wundervolle Eigenrestaurierung des ersten Mammutfilms von Lav Diaz, Batang West Side spielte und ich zuvor in den privaten Genuss von Matthew Porterfields Putty Hill gekommen bin. Zwar bin ich der Meinung, dass sich fast zwischen allen Filmen Parallelen aufzeigen lassen würden, aber in diesem Fall waren sie doch äußerst prägnant und boten einen Einblick in unterschiedliche filmische Strategien zur Erforschung eines Milieus und zur Entstehung von kontemplativen Stimmungsbildern zwischen subjektiver Wahrnehmung und fiktionalen Wendungen.

Batang West Side beginnt als Stimmungsbild einer bewegungskargen Trostlosigkeit. Isolation, Einsamkeit und das ewige Schweigen des kalten Schnees, der fast unablässig vom New Jersey-Nachthimmel fällt. Lav Diaz betrachtet zunächst philippinische Existenzen an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Dort hat sich die Sehnsucht nach dem amerikanischen Traum in die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat verkehrt. Eine Heimat, die viele der Figuren mit und wegen Gewalt hinter sich lassen. Damit verlieren sie auch ihre Identität. Der Film zeichnet dies sehr deutlich anhand der Figur, des in einem Todesfall im Drogenmilieu ermittelnden Polizisten, Juan Mijares, der fast alles änderte, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen: Aussehen, Namen, Lebensstil. Die West Side Avenue ist bevölkert von solchen Gesichtslosen, Heimatlosen bei Diaz, der angesprochene Schneefall, der New York in einen Winterschlaf hüllt, hat etwas meditatives, betörendes, aber in ihm erzählt sich auch eine Kälte und eine Differenz zwischen den USA und Südostasien. Das Volk ist in einem Winter gelandet, der so sehr für die Entfernung zur Heimat steht wie sonst vielleicht nur die Sprache, die Diaz oszillierend zwischen Englisch und Tagalog bedient und durch die er Wunden zwischen den Figuren und auch innerhalb der Figuren etabliert, die kaum schließbar sind. Wie so oft wird Heimat durch jene fühlbar, die sie verloren haben beziehungsweise durch jene, die wandern. Das nachdenkliche Nichts, das sich vor allem in den vielen Straßenszenen des Films findet, erinnert in Stimmung und auch im Framing der einsamen Stadtlandschaft New Jerseys an News from Home von Chantal Akerman. Statt Briefwechsel mit der Heimat und Vergangenheit gibt es bei Diaz Träume und Psychologie. Verdrängung scheint gar nicht erst möglich in diesem Milieu. Und so scheint es nur konsequent, dass eine hypnotische Musik mit philippinischen Klängen die Bilder heimsucht. Sehr subtil und selten, aber sie hallt wie ein Echo durch den gefrorenen Schnee auf dem nächtlichen Asphalt.

Batang West Side2

Ähnlich trostlos trägt sich auch Putty Hill durch Baltimore. Wie in Batang West Side geht es um das Ableben eines jungen Mannes im Drogenmilieu. Dort wo Diaz eine entschleunigte Thrillerhandlung als Vorwand für seine Milieustudie einsetzt, bedient sich Porterfield der Ästhetik des dokumentarischen Filmschaffens. Es wäre allerdings zu einfach, wenn man behauptet, dass Porterfield so tut als wäre er eine Dokumentation, obwohl er eine Fiktion ist und Diaz so tut als wäre er eine Fiktion, obwohl er eine Dokumentation ist. Vielmehr – und das gilt sowieso für jeden wertvollen Film in gewisser Hinsicht – sind die fiktionalen sowie die dokumentarischen Elemente hier Mittel um zu einer Wahrheit zu gelangen. Diese Wahrheit hängt bei Diaz deutlich mehr an philosophisch-politischen Fragen nach einer philippinischen Identität und Vergangenheitsbewältigung als bei Porterfield, der sich mehr auf eine Gesellschafts- oder Generationsstudie der Gegenwart besinnt. Beide Filmemacher jedoch studieren ein Milieu in ihren Werken, indem junge Menschen oft orientierungslos driften und sich zwischen hoffnungslosen und hoffnungsvollen Ansätzen verlieren. Putty Hill ist ein durch und durch verlorener Film. In sehr klaren Bildern folgt man verschiedenen Personen in den Stunden vor der Beerdigung des 24-jährigen Cory, der an einer Überdosis Kokain gestorben ist. Zwischen Paintballspielen, Tatoostudios, ungepflegten Rasen neben desinteressiert in der Landschaft stehenden Häusern und Hinterhöfen entsteht auch hier das Stimmungsbild einer geografischen Zone, die sich tatsächlich – und das scheint mir das zu sein, was diese beiden Filme so relevant für ihr Medium macht – über ihre Stimmung und damit auch die intime Wahrnehmung der Filmemacher definiert. Putty Hill ist ein Film voller kleiner Inseln (der Jugend), indem das Trauma nicht wie bei Diaz aus narrativen Verweisen entsteht, sondern tatsächlich auf den Gesichtern der Figuren. Im Umgang mit dem Tod liegt eine unschuldige Unbeholfenheit, die derart verschwimmt mit dem Alltag und dem „Weiterleben“, dass man sich beginnt zu fragen, wo ein Raum für Emotionen sein soll und sein darf.

Putty Hill Porterfield

In Batang West Side zersplittert sich unsere Wahrnehmung der Zeit nicht nur aufgrund der schieren Laufzeit (302 Minuten) des Films, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen Zeitebenen auf denen Diaz seine eigentlich sehr kohärenten Geschichten erzählt. Im Stil eines Noirs gibt es Flashbacks, aber Diaz ist auch Traumlogiken und surrealistischen Verweisen nicht abgeneigt. Das Fragmentarische bei Porterfield dagegen ist ganz wie in Pine Ridge von Anna Eborn etwas Nicht-Erzähltes, Unfertiges, Spontanes. Der ganze Film gleicht mehr einem Eindruck, der keine linearen Nacherzählungen zulässt, sondern von Anfang an auf eine Erkundung ausgelegt ist. Ein unsichtbarer Dokumentarfilmer beobachtet die Menschen und stellt ihnen unaufdringliche Fragen. Durch ihn kommt auch jene Frage der subjektiven Kamera in den Film, die auch bei Diaz eine entscheidende Rolle spielt. Über sie stellt sich nämlich auch die Frage nach der Wahrheit. Der Dokumentarfilmer in Putty Hill ist die Kamera selbst und eine unsichtbare Stimme. Sie zeichnet sich durch Unaufdringlichkeit aus und einen respektvollen Abstand, der zugleich eine Nähe erzählt, da jede Öffnung, jeder Blick mit einer inneren Reaktion verwechselt werden kann statt mit einem Spiel. Die Kamera wird von den gelangweilten, ratlosen oder verzweifelten Personen adressiert oder ignoriert, sie wird zu einem Teil dieser Welt, einem Stilmittel, um Wahrheit zu behaupten und sie womöglich auch zu finden.

Die subjektive Kamera in Batang West Side dagegen eine Analogie zwischen der Ermittlungsarbeit eines Polizisten und der Suche nach Wahrheit eines Filmemachers. Sie wird sowohl als Point-of-View der dokumentarischen Kamera als auch dem Blick des Polizisten eingesetzt. Häufig schwenkt oder bewegt sich die Kamera tatsächlich suchend durch verlassene Räume oder leere Straßen, wir folgen Blicken und blicken selbst und immer wieder überlagern sich die subjektiven Blicke des Ermittlers mit jenen eines Dokumentarfilmers, der durch die nächtlichen Straßen streift, fast gleich einem Nightcrawler, mit den ethischen Fragen von Wahrheit und Lüge. Das Kino ist hier ein Blick, dem man sehen will, um glauben zu können, dem man glauben muss, um sehen zu können. Der Filmemacher als Ermittler eines Milieus und einer Wahrheit dieses Milieus. Löst sich diese Suche bei Porterfield in jener unklaren Rätselhaftigkeit auf, in der sie begonnen hat, so bleibt uns bei Diaz die Schonungslosigkeit einer Wahrheit, die jede Trostlosigkeit verdrängt, indem sie diese verstärkt. Beide Filme fragen also nicht nur was wir dort sehen, sondern auch wie wir es sehen. Dabei genügt in beiden Filmen kein Realismus. Vielmehr sind diese Milieustudien durchdrungen von Erinnerungen, Geistern, Ängsten und Träumen. Doch diese Elemente werden in den Filmen als Teil einer Realität verstanden, als flackerndes Licht in einem verlassenen Haus oder als nacherzählter Traum. Durch die Etablierung einer Verunsicherung gegenüber der Narration entwickeln die beiden Filmemacher eine Brüchigkeit und Verletzlichkeit, die sich auch auf ihre Protagonisten auswirkt.

Lav Diaz Batang

Dabei scheuen beide Künstler nicht davor zurück, die Albernheit einer bemühten Coolness im Kleingangstermilieu beziehungsweise die unschuldige Selbstrechtfertigung einer Andersartigkeit ihrer jugendlichen und auch erwachsenen Figuren ohne Urteil zu zeigen. Damit laufen die Filme natürlich Gefahr beim einen oder anderen Zuseher selbst als bemüht cool oder naiv anders angesehen zu werden, aber in diesem Fall ist die Suche nach einer Wahrheit, ganz wie in Hou Hsiao-Hsiens Goodbye South Goodbye, eben mit dem urteilsfreien, formal sympathisierenden Zeigen dieser Verhaltensweisen gleichzusetzen. Statt ihre eigene Position zu den Aussagen und Handlungen der Figuren zu betonen, werden diese einfach in einem festgelegten Rahmen als solche akzeptiert und Urteile oder Sympathien werden dem Zuseher überlassen. Dennoch ist es Diaz, der sich zu deutlich vehementeren Statements hinreißen lässt und insbesondere in der Figur eines drogendealenden Karaokeclubbesitzers durch Überzeichnung doch ziemlich klare politische Ideen in seine Figuren legt. Bei Porterfield gibt es nur die Idee einer Perspektivlosigkeit, die sich nicht wirklich äußert sondern, die nur so dahintreibt, in einem Swimmingpool oder bei einer Zigarette. Aber auch in Putty Hill gibt es Ausbrüche,solche die Porterfield in einen Rhythmus eingliedert (ganz ähnlich wie in seinem I Used to Be Darker); es wirkt immer ein wenig so als würde ein HeavyMetal-Artist ein Unplugged-Konzert mit Balladen geben…es könnte jederzeit aus ihm brechen. Für manchen mag diese Zurückhaltung und dieses vorsichtige Spiel mit emotionalen Ausbrüchen etwas angestrengt wirken, ich sehe darin eine kinematographische Strukturierung des Alltäglichen, des Unnützen und eine Reduktion einer Gefühlswelt, die für weit mehr steht als filmisches Selbstgefallen sondern vielmehr die Unfähigkeiten und Fähigkeiten Gefühle zu spüren und mit dem Leben umzugehen. Dabei gelingt es Putty Hill gar die Verlorenheit und Unentschlossenheit seiner Figuren zu einem formalen Prinzip des Films zu machen, der genauso zwischen den Welten fließt, unentschlossen und perspektivlos, aber dabei eben etwas Echtes findet.

Putty Hill Porterfield

In beiden Milieus, Baltimore und New Jersey spielt Raum eine essentielle Rolle. Diaz und Porterfield filmen ihre Protagonisten gegen die Hintergründe einer Welt, die nicht als Set dient sondern als eigenständiger Charakter. In häufigen Totalen nimmt der Bildhintergrund eine wichtige Rolle ein. Die Wohnblocks, der Himmel, das Licht, die vorbeidonnernde Autobahn hier, die verlassenen Bahnhöfe dort. All das erzählt von dieser Isolation oder anders: All das ist die Isolation, die auch deshalb so stark ist, weil sie einfach ist. Bei Diaz wird zwar durchaus mit narrativen Verweisen (seien es Zeugen, die durch die beleuchteten Fenster blicken oder betont erzählte Lebensverhältnisse) gearbeitet, diese verlaufen sich allerdings mit der Zeit (sie existieren in der Zeit), sodass man schlicht sieht wie man dort lebt und so direkte und indirekte Schlüsse vom Milieu auf die Figuren gezogen werden können. Die beiden Filme zeigen, dass eine Milieustudie im Film weder eine Frage des Genres noch der Form ist, sondern vielmehr eine Frage des Blickens und des Zuhörens. Beide Filmemacher arbeiten mit aus dem Milieu stammenden Darstellern, sie achten auf Sprache, Aussehen und eine Stimmung, die eben auch immer mit einer subjektiven Wahrnehmung zusammenhängt. Man könnte Batang West Side und Putty Hill auch als Studien einer Lebenserfahrung in bestimmten sozialen und geografischen Umgebungen verstehen. Der Raum für die Emotionen ergibt sich aus dem Verhältnis von denjenigen, die sehen, zu dem was sie sehen. Hier beginnen sich dann Erinnerungen, Realitäten und Vorstellungen zu überlagern und die verschwundenen Männer, beginnen deutlich mehr Verschwundenes in unsere Wahrnehmung zu spülen. Ihr Verschwinden ist eines, das auf soziale und politische Missstände aufmerksam macht, auf Kommunkationsdefizite und auf das Fehlen einer Identität.