The past is just a prologue: Daughters of the Dust von Julie Dash

„I am the whore and the holy one. I am the wife and the virgin. I am the silence that you cannot understand.“ 

In Julie Dash’s Daughters of the Dust bewegen sich scheinbare Gegensätze aufeinander zu, wird die Erfahrung von Zeit elliptisch und Stillstände vollziehen sich im Einklang mit Aufbrüchen. Mit ihrem Spielfilmdebüt forderte die New Yorkerin in den 1990er Jahren Sichtweisen auf Erzählstrategien des Mainstreamkinos heraus und regte eine Erweiterung von kritischen Ansätzen mit dem Kino und seinen Akteur*innen an. Ihre Inspiration zog sie vornehmlich aus der Literatur von Schwarzen Frauen wie Paule Marshall (ihr Roman Praisesong for the Widow bildet eine Grundlage für den Film) oder Toni Morrison, sowie aus der eigenen Familiengeschichte.   

Wir schreiben das Jahr 1902 in South Carolina: eine Gullah-Gemeinschaft lebt seit Generationen auf einer Insel, auf die ihre Vorfahr*innen als Sklav*innen aus Westafrika verschleppt wurden und die Teile von ihnen nach der Abschaffung des Sklavenhandels weiter belebten. Einige von ihnen, so besagt eine über Generationen weitergetragene Erzählung, begingen kurz vor Ankunft des Bootes auf der Insel angesichts der ihnen bevorstehenden Gewalterfahrungen, Suizid. Der Film bezieht sich hiermit auf reale Ereignisse des Jahres 1803, legt den Fokus seiner Szenen aber auf deren Nachwirken in Zusammenhang mit Mythen, Traditionen und Gewohnheiten einer Familie.

Die Peasant-Familie, um die sich Daughters of the Dust dreht, pflegt Kultur und Traditionen der afro-amerikanischen Gullahs, die sie in Freiheit und identitätsstiftender Abgrenzung zu ihren weißen Unterdrücker*innen durch neue Vergemeinschaftungen herausbildeten und weitergaben. Gullahs, oder Geechee, so verrät die Recherche, sind eine ethnische Gruppe mit westafrikanischen Vorfahr*innen an der Küste von South Carolina und den nahegelegenen Inseln.  Der Film setzt mit dem Besuch bereits abgewanderter Mitglieder auf Ibo Landing ein und dreht sich von da an um verschiedene Momente vor der gemeinsamen Emigration weiterer Personen der Peasant-Familie. Während sich ein Großteil der Nachfahr*innen bereit macht, Richtung Festland aufzubrechen, entscheidet sich Nana, die Matriarchin der Familie, auf Ibo Landing zu bleiben. Die Geschichte der Peasants, ihre Herkunft, die Seelen der Ahnen, das kollektive Trauma der für viele tödlichen Überfahrt und der erlebten Gewalt erlangt durch Nana Omnipräsenz. Die Lebenden müssten Kontakt mit den Toten halten, erklärt sie ihren Nachfahr*innen, genauso wie die Bande zwischen Alt und Neu niemals abreißen solle. Alt und Neu, Jung und Alt, Festland und Insel, Erinnern und Vergessen, Linearität und Ellipse treten in Daughters of the Dust miteinander in eine Symbiose, die binäres Denken, symbolische und vermeintlich logisch gegensätzliche Paare in Frage stellt.

Aus diesen Verflechtungen meine ich auch das Aufgreifen eines Bewusstseins für Geschichte zu erkennen, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitbestimmt. Nana spricht auf eine spirituell oder religiös inspirierte Weise von den Seelen der toten Vorfahr*innen und weiht die Jüngeren in das Gefühl einer Kollektivität ein, die Lebende und Verstorbene eint – vergesst eure Wurzeln nicht. Dash lässt die Reflexion über die Vergangenheit aber nicht nur dialogisch einfließen, sondern kreiert auch eine Erzählstruktur, deren Logik in keiner Steigerung liegt, sondern auf Gleichzeitigkeiten aufbaut. Sie findet visuelle Übersetzungen für die Darstellung der mentalen Übertragung kollektiver Erfahrungen und transgenerationaler Traumata sowie bleibender, sichtbarer Folgen von Unterdrückung, deren konkrete und symbolische Spuren sich fortschreiben: So weisen Nanas Hände dunkle Spuren von der Zwangsarbeit auf der Indigoplantage auf und ihr Baumwollkleid ist blau gefärbt.

Der titelgebende Staub bildet in Form der Sandkörner den Inselboden, das Zuhause der Peasants und kann auch als Symbol für die Nebulosität der Familienerinnerungen verstanden werden. Während Nana Peasant an ihren Erinnerungen festhält und sich einer Emigration verweigert, möchte die jüngere Yellow Mary die Gedanken an ihre Vergewaltigung in eine Box sperren, um sich für einen Neuanfang von der Vergangenheit zu befreien. Daughters of the Dust stellt indirekt die Frage, ob das Durcharbeiten von individuellen und kollektiven Erinnerungen oder das Vergessen Aufbruch und Befreiung ermöglichen und ob wir uns neu erfinden können, wenn wir unser Leben an einen anderen Ort versetzen. Dashs Film öffnet den Raum für Gedanken und visualisiert das non-hierarchische Treiben seiner Figuren kurz vor einem Aufbruch, der ohne Vergangenheit keine Zukunft hat – „the past is just a prologue“. 

Daughters of the Dust ist einer der ersten US-Langspielfilme einer afro-amerikanischen Frau mit einem Kinostart und ist aktuell auf MUBI zu sehen: https://mubi.com/films/daughters-of-the-dust