Il Cinema Ritrovato 2016: Unsere hohen Lichter

Zum Abschluss unserer Texte aus Bologna eine Übersicht unserer Highlights vom Festival und einige Schlussworte. Zur Übersicht noch mal unsere Tagebucheinträge:

Barbara Bouchet

Modern Times

Heiß wie ein Vulkan

Pferde schwimmen in Farbe

Feuer, Wasser und die schwarze Stadt

I Pugni in Tasca

My Way

PATRICK

les portes de la nuit

Mehr noch als das Kino bleibt von Bologna das Erleben einer Kinokultur. Dabei begegnet man nicht nur in Bologna einem interessanten Paradox: Die Liebe zum Kino wird oft durch ein einzelnes, unbewegtes Bild ausgedrückt. Warum? Tragen diese Screenshots, Poster und Fotos in sich das Versprechen oder Geheimnis ihrer Bewegung? Sind sie unserer Erinnerung doch ähnlicher als das Laufbild? Oder ist das Laufbild nur so fest zu halten? Wie die Erinnerung. In Bologna ist dieses Bild das Schlussbild aus Modern Times. Es ist doppelt verewigt und restauriert. Es zu sehen, löst die Erinnerung an die Bewegung selbst aus.

Ansonsten drei dieser Erinnerungen, die mich so schnell nicht verlassen:

Der Rauch abgefeuerter Pistolen in Flesh & the Devil von Clarence Brown. Er dringt aus dem Off links und rechts in das stumme Bild, Silhouetten erstarren und bewegen sich und wir wissen einen langen Augenblick nicht, wer lebt und wer stirbt; nur wer liebt.

Ein anderer Rauch im Nebel von Les portes de la nuit von Marcel Carné. Eigentlich bleibt von diesem Film weniger als ein Bild. Was bleibt, ist ein Gefühl; man träumt und kann mit dem Leben gar nicht gegen diese Träume ankämpfen. Im Nebel verbinden sie sich.

Schwindel in I pugni in tasca von Marco Bellocchio. Die Kamera zu nah.

ANDREY

touchez-pas-au-grisbi

Dreimal sehe ich in Bologna die „allererste“ Kinovorführung, das Lumière-Kurzfilmprogramm, das am 28. Dezember 1985 im indischen Salon des Grand Café in Paris lief. Einmal beim Eröffnungsabend vor Casque d’Or, digital auf Riesenleinwand und mit Livekommentar von Thierry Fremaux, einmal in der Lumière-Ausstellung in DVD-Qualität an die Wand projiziert, später auf der Piazzetta Pasolini vor Jean Epsteins großartigem Coeur fidèle, von einem historischen, handgekurbelten, lärmenden Projektor gespielt, im originalen Kleinformat, ruckelnd und zuckelnd wie man es sich vorstellt. Die Atmosphäre eines cinephilen Himmels. Arbeiter verlassen die Fabrik. Ein Baby wird gefüttert. Der Gärtner mit dem Schlauch kriegt eine kalte Dusche. Ein Soldat scheitert lustig an der Pferdbesteigung. Kinder springen in die Gischt. Eine Stadtansicht. Botschaften aus einer Zeit, als es noch keine schlechten Filme gab. Dass das alles passiert ist, ist eine unheimliche Gewissheit. Immer wieder schauen Leute in die Kamera, und ich fühle mich zuweilen an Youtube-Clips erinnert. Das Wesen der Schaulust hat sich nicht verändert, nur das Staunen ist dahin, und das Wissen um die Singularität jeder einzelnen Aufnahme. Wird man in 100 Jahren einen Laptop aufstellen und dem entzückten Publikum Katzenvideos präsentieren?

Die letzte Einstellung von Jacques Beckers Montparnasse 19, einer in vielerlei Hinsicht klischeehaften Künstlerbiografie, deren brutales Finale mich dennoch getroffen hat, hallt nach. Der mephistophelische Kunsthändler Morel (gespielt von Lino Ventura) hat soeben dem Tod Modiglianis beigewohnt – einem Tod aus Hoffnungslosigkeit, wie einem der Film nahelegt. Jetzt ist er in einer dunklen, kargen Wohnung. Zuhause bei Modiglianis Verlobten, die vom Ableben des Malers noch nicht weiß. Er bietet ihr an, sämtliche Bilder ihres Mannes zu kaufen. Bald werden diese sehr viel wert sein, auch das ahnt sie nicht. Die glückliche Fügung treibt ihr Tränen in die Augen, endlich etwas Abgeltung für alle die Mühen und Entbehrungen. „Ich verstehe“, sagt Morel, und beginnt dann völlig unvermittelt, die Gemälde einzupacken, mit schnellen, schroffen Bewegungen, ein kurzer Blick auf jedes Bild genügt ihm, als würde er Ersatzteile am Fließband prüfen, während die Kamera auf ihn zufährt und die Musik – wie eine melodramatische Version von Mihâly Vigs Soundtrack zu A torinói ló – anschwillt bis zur Unerträglichkeit. So dreht man das Messer in der Wunde um. Becker ist ganz allgemein ein Filmemacher klarer, starker, glatter, harter Gesten – trotzdem fällt mir, denke ich an Touchez Pas Au Grisbi, immer wieder das Adjektiv „süß“ ein. Irgendwas am Bild Jean Gabins und René Darys, die als alternde Gangster zuhause an trockenem Brot herumknabbern, lässt mich an Jarmusch und Kaurismäki denken.

Auch niederschmetternd: Der Schluss von Vasilij Ordynskijs Četvero, düsteres Tauwetter: Ein Held, der keiner ist, stirbt umsonst, und ein Ersatz ist schnell gefunden. Da helfen auch die Farbe und der beschönigende Voice-Over nichts, der Zynismus ist nicht zu übertünchen. Ein Film, der sich vehement dagegen sträubt, das zu tun, was die Zeit von ihm verlangt. Das Negative findet sich überall, in allen Ländern und fast allen Epochen, in den genannten Beispielen wie auch in den erstaunlich finsteren Gesellschaftsporträts der Laemmle-Junior-Universal-Jahre (gegen Afraid to Talk kann House of Cards einpacken), in der existentialistischen Hysterie von „Les Abysses“ (den ich nicht ausgehalten habe, aber nicht vergessen werde), in der iranischen Dämmerung von Ebrahim Golestans Khesht o Ayeneh. Aber wenn man wieder an die Lumières denkt, fragt man sich, ob die Negativität im Kino erst erfunden werden musste, ob das Kino nicht von Natur aus positiv ist. Denn diese Filme freuen sich über alles, was sie sehen, weil sie nur das ansehen, was sie freut. Eigentlich: Sollte nicht jeder Film aufhören wie Modern Times, laut Peter von Bagh das vollkommenste Bild menschlichen Glücks, das je auf Film gebannt wurde? Aber dann gäbe es Taipei Story nicht mit seiner fantastischen Edward-Hopper-Schlusseinstellung. Und bei einem Festival wie dem Cinema Ritrovato will man sich nicht entscheiden müssen.

IOANA

taipei-story

Gesehen und wiedergesehen

Cœur fidèle von Jean Epstein

Le quadrille von Jacques Rivette

Khaneh Siah Ast von Forough Farrokhzad

I pugni in tasca von Marco Bellocchio

Taipei Story von Edward Yang

Modern Times von Charlie Chaplin

Les portes de la nuit von Marcel Carné

Fat City von John Huston

Casque d’or von Jacques Becker

Flesh and the Devil von Clarence Brown

•Filme von Gabriel Veyre

Touchez pas au grisbi von Jacques Becker

Shin Heike Monogatari von Kenji Mizoguchi

A house divided von William Wyler

The kiss before the mirror von James Whale

(1 regret – Ugetsu Monogatari nicht wieder gesehen zu haben, aber wir haben ihn auf Film gesehen)

RAINER

last-tango-in-paris

Der prägende Moment in Bologna war für mich eine Zäsur. Als mich der stete Wechsel zwischen unerbittlicher Hitze und Klimaanlagen dahinraffte und mich fast drei Tage außer Gefecht setzte. Davor hatte ich bereits einige sehr gute Filme gesehen: Marnie von Alfred Hitchcock (als Technicolor Vintage Print), Le Trou von Jacques Becker, der apokryphe Vingarne von Mauritz Stiller, die faszinierenden Reisebilder des Lumière-Kameramanns Gabriel Veyre aus Mexiko; The Wild One von Laszlo Benedek hat mich sogar die Ikonizität Marlon Brandos besser verstehen lassen. Als ich mich aber dann am dritten Tag meiner krankheitsbedingten Pause spätabends zu Last Tango in Paris schleppte, in der Hoffnung die zwei Stunden zu überstehen, ohne ohnmächtig zu werden, war das eine überwältigende Erfahrung. Aus dem stickigen, fiebrigen Appartement in die fiebrigen Bilder des Films (sind sie tatsächlich fiebrig, oder war das meiner Tagesverfassung geschuldet?): Liebe, Verzweiflung, Erotik, Butter – danach musste ich mich gleich wieder hinlegen. Der nächste und letzte Tag beginnt mit dem Korruptionssumpf einer amerikanischen Großstadt (Afraid to Talk von Edward L. Cahn) und endet mit einem Schusswechsel im Schneesturm (McCabe & Mrs. Miller von Robert Altman). Nach der Zwangspause sind diese Filme viel klarer in Erinnerung, als ich es von Filmen, die ich Festivals sehe, gewohnt bin. Die Freude darüber wieder im Kino sitzen zu können hat das Gefühl von Festival-Fatigue ausgestochen. Hoch lebe Bologna (und seine Tagliatelle) und Butter!

Il Cinema Ritrovato Tag 7: My Way

 pola

  • Ich freue mich jeden Tag, weil ich auf diesem Festival bin (vielleicht wäre ein cinephiles Paradies aber doch ein wenig analoger), schimpfe jeden Tag auf die Universität Wien und schaue die Teilnehmer der FIAF Summer School neidisch an (hoffentlich wird sie in den nächsten Jahren billiger)
  • Die Kurzfilme von Ebrahim Golestan, über die Andrey schon geschrieben hat, scheinen mir mit den Filmen von Humphrey Jennings sehr eng verwandt zu sein
  • Die Aufmerksamkeit für Schauspieler/Stars und ‚ikonische Momente‘ der Filmgeschichte ist hier genau so akut wie jene für das Unbekannte der Filmgeschichte und das scheint mir gut so.
  • Aus dem sehr verlockenden durch-peculiarities-glücklich-flanieren Modus werfen mich am gewaltigsten I pugni in tasca, Taipei Story und die drei Kurzfilme von Jacques Rivette raus, die wie eine Ohrfeige funktionieren und mich zu anderen Fragen in Bezug auf Film zurückbringen.
  • Eine Wunde am Fuß bleibt mir als Erinnerung daran, dass ich Cœur Fidèle wieder sehen durfte und ich hoffe, dass sie nicht heilt.
  • Vor A Countess from Hong Kong werden unschätzbare Aufnahmen von Set gezeigt. Das Screening ist von Gesprächen über wie Marlon Brando eine schlechte Castingsentscheidung war umgeben, aber seine Widerwilligkeit gegenüber Chaplins Art mit Schauspielern zu arbeiten und seine mürrische Figur scheinen ein perfect match zu sein.
  • Ich denke oft an One-Eyed Jacks und an die hochkomplizierten Lösungen, die Brando findet, um seinen Hintern ständig im Bild zu haben. Er ist auch der einzige Schauspieler in engen Leggins, während alle anderen weitere Hosen tragen. Letztendlich frage ich mich, ob nicht alle interessantere Kadrierungen des Films aus diesem Grund enstanden sind, aber ich weiss sofort, dass ich mich wenigstens ein wenig täusche.
  • Flesh and the Devil schmilzt mir lüstern auf den Pupillen wie Garbo in den Armen ihres Liebhabers
  • Warum gibt es im Programmheft Sondermarkierungen für analoge Projektionen und nicht für digitale, wenn angeblich 60% der Projektionen analog sind? Markiert man die Ausnahme oder die Regel? Ist es traurig, dass ich mich darüber freue, dass die Spalten noch analog/digital sind und nicht, wie in Rumänien, 2D/3D?
  • In Le Quadrille von Rivette gibt es vier Menschen in einem Raum. Zwei Frauen und zwei Männer, einer von ihnen ist Jean-Luc Godard. Was hauptsächlich passiert, ist ihr Dasein. Durch die Blickrichtungen der Figuren und das Ändern der Kameraperspektive kommt es zu einer elaborierten Verwirrung betreffend Raum und Beziehungen zwischen den Figuren. Ich muss ihn wieder sehen.
  • Ich bekomme einen überfeministischen Flash von Pola Negri in Woman of the World und laufe durch die Stadt mit einer Peitsche, um Männer zu schlagen
  • Das letzte Screening auf dem Piazza Maggiore: Wegen technischer Probleme gibt es eine Verspätung von fünfzehn Minuten oder mehr. In dieser Zeit wird, zu meinem Schrecken, unter anderem Sinatras My Way gespielt. Neben der Bühne, auf einer abgegrenzten kleinen Fläche, stehen sehr viele Menschen und ich verstehe nicht, wer sie sind. Es geht los, Gian Luca Farinelli (scheint es mir nur, oder führt er sogar Screenings ein, die gleichzeitig anfangen?) hält eine Rede. Zunächst kommt eine Pianistin auf die Bühne, um die Fotos von Festival, die auf der Leinwand zu sehen sind, musikalisch zu begleiten. Auf einem Foto sind Christoph Huber und Olaf Möller in einem Kino zu sehen, ich frage mich, ob sie wissen, dass das ganze Piazza-Publikum (wenige Zuseher wegen Fußbal) sie angeschaut hat und wenn ja, ob sie es lustig finden. Mächtig. Die vielen stehenden Menschen kommen auf die Bühne. Ich erfahre, dass es die Volunteers sind und freue mich, weil man sie vorstellt. Volunteers sind wunderbar. Die Pianistin verlässt die Bühne, die Fotos auf der Leinwand enden und Gian Luca  Farinelli holt die Tochter von Vittorio De Sica auf die Bühne. Sie wird als charmante Frau eingeführt. Die Volunteers wissen nicht, ob sie die Bühne verlassen sollen oder nicht, sie zögern bis jemand ihnen ein Zeichen macht. Die Tochter von Vittorio De Sica hat dem Publikum drei Bilder von ihrem Vater gebracht (als Kind, auf Hochzeitsreise, am Set von Ladri di biciclette), man kann sie auf der Leinwand sehen. Sie begleitet die Bilder mit zwei-drei Familienanekdoten. Nach ihr kommt ein wunderbarer langspitzbärtiger Mann auf die Bühne. Er sagt seinen Namen und dass er aus Iowa kommt (was er mehrmals wiederholen wird). Er beschreibt wie Bouquet d’illusions von Georges Méliès, Vorführfilm des Abends, wiederentdeckt und restauriert wurde. Er sagt, dass wir das erste Publikum sind, das den Film nach mehr als hundert Jahren sieht (an die genaue Zahl erinnere ich mich nicht, aber es war überwältigend) . Ich bekomme Gänsehaut und einen Knoten in meinem Hals. Ein fragwürdiges Schicksalsgefühl, das mich an den wundervoll rauchigen und tranceartigen Les portes de la nuit erinnert, dringt in mich ein und ich bin wieder davon überzeugt, dass ich da bin wo ich sein muss. Ich vergesse, dass das vielleicht der Fall ist für viele Filme, die auf dem Festival zu sehen sind, letztendlich ist Il Cinema Ritrovato genau und auch das. Ich schaue das einminütige Entköpfung- und Kopfersetzungsspiel von Bouquet d’illusions glücklich an. Traurig weil beide Filme digital projiziert werden, werde ich erst als Fat City anfängt und ich mir vorstellen kann, dass er wesentlich anders aussehen sollte. Er bringt die ganze vage Burlesque des Abends zu einem abrupten Schluss und lässt mich das Festival mit einer für meine Seherfahrung wichtige Entdeckung schließen. Fat City ist stark genug, um von den überschwänglichen Reaktionen auf das Elfmeterschießen, die von allen Seiten der Piazza Maggiore ausströmen, nicht gestört werden zu können.

Il Cinema Ritrovato Tag 6: I Pugni in Tasca

Der 6. Tag in Bologna stand im Zeichen dreier unvergesslicher Screenings, von denen ich mich auf eines fokussieren will. Die anderen beiden seien zumindest genannt: Les Portes de la Nuit von Marcel Carné, ein Film im Nebel eines traumartigen Netz des Schicksals und Flesh & The Devil von Clarence Brown in einer atemberaubenden Kopie und mit einem Fieber, bei dem das Licht beständig von Schattenspielen gestreichelt wurde. Den verstörenden Höhepunkt setzte aber Marco Bellocchios famoser Debütfilm I pugni in tasca. Ein solcher Schlag ins Gesicht, dass es der einzige Film in Bologna für mich blieb, bei dem das Publikum nicht applaudierte.

In den destruktiven Bewegungen des Films gibt es drei Aggressoren: Die Krankheit, die Begierde und das Nichts. Alle drei sind in sich gebrochen. Eine Begierde, die ins Nichts einer Krankheit läuft. Eine Krankheit, die das Begehren nach dem Nichts weckt. Ein Nichts, das sich in krankes Begehren flüchtet.

Fists in the Pocket

Es geht um eine bürgerliche Familie ohne Vater. Ihr Niedergang und alles, was verboten ist. Ein psychotischer Sog bei dem jedes Lachen ein Schrei ist und jedes Schreien ein Lachen. Das grausame an I pugni in tasca ist die Ausweglosigkeit, die der Film mit beständigen Nahaufnahmen und Schwenks betont. Alessandro (gespielt mit verstörender Zerrissenheit und Leichtigkeit von Lou Castel) will das Leiden seiner kranken Familie beenden. Er will alle umbringen, die auf dem Weg zum Glück stören. Seine Mutter ist blind, außer einem Bruder leiden alle an Epilepsie. Alessandro versucht den Führerschein zu machen, um seine Familie und sich selbst bei einem Autounfall umzubringen. Als er bei der Prüfung scheitert, tut er trotzdem so, als ob er bestanden hat und fährt mit allen außer seinem erfolgreichen Bruder zum Grab seines Vaters. Er schreibt einen Abschiedsbrief, aber tut es zunächst nicht. Alessandros erfolgreicher Bruder liest den Abschiedsbrief, aber nach einem kurzen Moment der Panik will er lieber mit seiner Freundin schlafen. Es gibt immer wieder Aufbegehren und Müdigkeit. Einer Tat folgt der Schlaf. Man sitzt faul neben dem Grab. Man hat Lust auf Sex in der Panik. Wenn die Gewalt dann wirklich kommt – und sie kommt – dann wirkt das fast passiv. Es gibt keinen Knall, sondern vor allem die Stille vor und nach der Tat.

Von Anfang an legt Bellocchio in die destruktive Wut des Films eine Zärtlichkeit. Sie lässt alles erzittern und in sich zusammenbrechen. Die titelgebende Faust in der Tasche erschlafft ständig, um sich wieder neu zu formieren. Dabei regiert etwas krankhaftes in den Figuren (nicht nur Alessandro), dass man nur schwer benennen kann. Ein Trieb, eine Unzufriedenheit und eine Frustration, die gleichermaßen eine inzestuöse Lust ist. Ein wenig muss man dabei fast an Bertoluccis The Dreamers denken. Das heftige an I pugni in tasca ist jedoch, dass hier niemand träumt. Vielmehr wird man – wie das so ist bei Bellocchio – moralisch gebrochen. Mit Sicherheit kann man nicht sagen, dass die Gewalt, die der junge Mann gegen seine eigene Familie richtet nicht zumindest in philosophischer Hinsicht gerechtfertigt ist, sogar ein Akt der verzweifelten Liebe ist. Sie ist sanft und brutal und ähnelt damit den epileptischen Anfällen, die solange brutal sind bis Alessandro sanft am Kopf berührt wird von seiner Schwester. Bis sie es nicht mehr tut und ihn leiden lässt. Dieser philosophische Ansatz wird vom Film selbst vorgeschlagen, wenn sich Alessandro in einer frühen Szene des Films in Vollendung in ein Schwert auf seinem Bett stürzt und wir davon ausgehen müssen, dass er sich umgebracht hat. Ein erster Schock, doch in der nächsten Szene lebt Alessandro. Wir müssen verstehen, dass der Film mehr einem mentalen Bild gleicht, einer Zustandsbeschreibung zwischen Krankheit, Begehren und dem Nichts. Wenn wir den Film als Nachfolger des Neorealismus eines De Sicas oder Rossellinis (die zu diesem Zeitpunkt bereits mit anderen Dingen beschäftigt waren) betrachten, fällt der Angriff auf die humanistischen Moralvorstellungen dieser großen Filmemacher auf. Nicht umsonst gilt der Bellocchio dieser Tage als Seelenverwandter von Pier Paolo Pasolini, dessen Teorema von einer ähnlich poetischen Familiendekonstruktion erzählt, weniger ins Gesicht, weniger in den Magen.

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Pasolini bezeichnete den Stil von Bellocchio einmal als Prosa im Vergleich zur Poesie von Bertolucci. Darüber lässt sich streiten. Sicherlich kommt Bellocchio mehr über den Inhalt, aber die erdrückende Nähe der Bilder von Alberto Marrama und die zum Teil abstrakte Art der Montage, die sich zwischen die Schwenks drückt, erinnert doch sehr an die Nouvelle Vague. Figuren betreten den Bildausschnitt immer wieder verzögert und spielerisch. Zum Beispiel bei der Beerdigung der Mutter, als die Schwester von Alessandro von unten ins Bild rückt. Aus dieser Art der Inszenierung entsteht dann ein Freiheitsgefühl, das derart heftig mit dem Inhalt kollidiert, dass man durchaus von Poesie sprechen kann. Keine elegische Poesie, sondern eine bizarre, brüllende Poesie der Notwendigkeit.

Wenn das Leben selbst zur Tortur wird, schreit dieser Film mit der Coolness einer gemeinsamen Nacht mit Sonnenbrillen. Man muss schon schwer schlucken, wenn man lachen muss (mancherorts gilt der Film als schwarze Komödie, vielleicht ist er nur so ertragbar?) im Angesicht dieser Ausweglosigkeit. Krankheit ist hier wirklich ein schwarzer Fleck, ein Virus. Der Film ist wie diese Krankheit. Zynismus ist hier nicht einfach eine Jugendkrankheit. Hier ist alles unheilbar. Dabei gelingt es Bellocchio in jeder Sekunde nicht in die billige Provokation zeitgenössischer, dem Nihilismus naher Filmemacher zu fallen, sondern eine Ehrlichkeit an den Tag zu legen, die zur Nacht seiner Figuren wird. Womöglich ist es gar nicht so wichtig, mit was der Film aufräumen will, gegen wen er sich richtet. Wichtig ist eher das Gefühl einer auf Film gebannten Zärtlichkeit der Destruktion.

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Il Cinema Ritrovato Tag 5: Feuer, Wasser und die schwarze Stadt

Das Cinema Ritrovato ist ein cinephler Vergnügungspark, in dem man von Vorführung zu Vorführung taumelt wie ein kleines Kind, stets begierig nach der nächsten Attraktion, ganz egal, ob einem die letzte gefallen hat oder nicht, ob der Verstand schon in den Seilen hängt und um Erbarmen bettelt, ob man überhaupt noch sieht, was sich auf der Leinwand abspielt – die Augen wollen immer mehr, verzaubert von der Überfülle des Programms stürzen sie uns in einen hemmungslosen Sichtungsrausch, der mitreißt und verdattert wie die Karussell-Szene in Jean Epsteins Coeur fidele, eine dekadente Kinoverkostung, bei der jeder von allem probieren will, aus Wollust und Neugierde, aber auch aus Angst, dass es irgendwann keinen Nachschlag mehr gibt. Denn der Zirkus ist nicht ewig in der Stadt, die Zeit ist beschränkt, und die zahllosen Titel im Katalog buhlen allesamt lautstark um die Gunst potentieller Zuschauer: Nimm mich! Hereinspaziert! Das hast du so noch nicht gesehen! Nahezu jedes Screening verspricht, etwas Besonderes bereitzuhalten. Ein eben erst geborgener Schatz aus den hintersten Ecken eines Nationalarchivs! Der Technicolor-Vintage-Print eines unumstrittenen Klassikers! Die frisch restaurierte Fassung eines verkannten Meisterwerks, mit Live-Orchesterbegleitung und Expertenvorrede! Viele Sektionen locken mit dem Reiz des Unbekannten: Alternative Filmgeschichten, verstaubte Perlen, vergessene Talente. Und auch wenn sich der Budenzauber zuweilen in Schall und Rauch auflöst und man den Saal mit der Frage verlässt, ob das eben Gesehene wirklich Gedenken verdient hat, auch wenn man das wachsende Übergewicht digitaler Projektionen beanstanden kann, so träumt man doch jede Nacht von der Utopie, das Programm in seiner Gesamtheit verschlingen zu können – das Kino ist hier nach wie vor ein fremder Kontinent, der danach schreit, entdeckt zu werden.

Hier wüten auch Stürme: Etwa am Ende von William Wylers A House Divided , als der ganze aufgestaute Weltenhass der titanischen Vaterfigur sich imposant zu tosenden Wassermassen auftürmt. Ein sonderbares, aber ausgesprochen eindringliches Psychodrama. Ungewöhnlich das Setting: Ein Lachsfischerdorf im Nordwesten Amerikas. Das Leben ist hart. Die naturalistischen Arbeitsalltagsaufnahmen sorgen dafür, dass man das wirklich glaubt, vielleicht sogar spürt, selten wähnt man sich in Studiokulissen. Über allem thront in einem Haus auf einem Hügel Seth Law (Walter Huston, der Vater von John, damals vor allem als Theaterschauspieler bekannt). Ein großer Mann, dessen Wort Gesetz ist für seine Fischergesellen und vor allem für seinen sensiblen Sohn (Kent Douglass), der sich nichts sehnlicher wünscht, als diese öde Gegend zu verlassen. Doch der Vater lässt ihn nicht ziehen. Der Tod der Mutter, mit deren Begräbnis der Film beginnt, als wäre es der Auftakt zu einem Requiem, hat ihn nur noch härter gemacht. Da hat sich jemand seiner Autorität entzogen, ohne ihn zu fragen. Da ist nun ein Verlust, der ihm zu schaffen macht, aber er darf sich keine Blöße geben. Alle müssen wissen, dass seine Souveränität und Männlichkeit intakt ist. Houston spielt Law als jemanden, für den die Virilität zur Neurose geworden ist. Es gibt eine Reihe von starken Szenen, in denen seine Selbstbestätigungslust sich auf brutale Weise Bahn bricht. Ein rabiates Wrestling-Match in eine Bar, später einen ausgelassenen irischen Hochzeitstanz. Law bestellt sich eine Frau aus dem Katalog, zunächst nur, weil er jemanden zum Kochen braucht, aber weil die Dame jung und hübsch ist, hofft er auf einen zweiten Frühling. Als er herausfindet, dass sie seinem Sohn zugetan ist, bricht ihm dass die Beine – buchstäblich. Jetzt kriecht er in stolzer Erbärmlichkeit über den Boden und droht weiterhin, als wäre nichts passiert. So dringlich ist Hustons Performance, dass er selbst im Rollstuhl seine Mitschauspieler in den Schatten stellt, und nie als Bösewicht erscheint, sondern stets nur als durch und durch Verzweifelter. Und dann kommt das unglaubliche Finale, purer Expressionismus, eine letzte Konfrontation in strömendem Regen, Flucht der jungen Liebenden aufs Meer, dessen finster-furiose Wogen selten so bedrohlich wirkten wie hier, und als die Wolken sich verziehen, hat sich der Ödipus-Komplex von selbst aufgelöst.

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Was liebt das Kino mehr, Wasser oder Feuer? Die Flammensymphonie, die Ebrahim Golestan in seinem Kurzdokumentarpoem Yek atash (A Fire) inszeniert, ist jedenfalls nicht weniger überwältigend als Wylers wilde Wellengänge. Die fragmentarische Aufzeichnung der Löschung einer entzündeten Ölquelle im Iran, 1958. Der Hitzegeysir schießt in die Luft, und die Leinwand lodert lichterloh, man weiß sofort wieder, warum DCPs nie ein Ersatz sein können für Filmkopien. Man beginnt zu schwitzen, und nicht nur wie in Bologna üblich, aufgrund der schlechten Belüftung und mörderischen Temperaturen im Saal. Golestan hat Respekt vor der mühsamen, langwierigen Prozedur und ihren ausführenden Organen, filmt jeden Arbeitsschritt mit der gleichen empathischen Aufmerksamkeit. Aber ebenso scheint er sich der Faszination des Feuers nicht entziehen zu können, dem flirrenden Farbspektakel, dessen glühende Turbulenzen die wüste Umgebung verfremden, so dass man sich hin und wieder in einer rostroten Mad-Max-Marslandschaft wiederfindet.

Golestan ist ein Autor, Produzent und Filmemacher, der das prärevolutionäre Kino Irans entscheidend mitgeprägt hat, das Festival widmete ihm eine kleine Schau. Unter anderem zeichnet er mitverantwortlich für Forough Farrokhzads legendären Khaneh siah ast (The House is Black), der hier in einer hervorragenden Kopie zu sehen war, wenngleich ohne Untertitel. Farrokhzad und Golestan verband eine private und professionelle Beziehung. In seinem filmischen Hauptwerk Khesht o ayeneh (Brick and Mirror), dessen restaurierte Fassung heuer (digital) in Bologna gezeigt wurde, spielt sie eine kleine Rolle, legt als verschleierte Frau einem Taxifahrer ihren Säugling auf die Rückbank, fordert in so heraus, Verantwortung zu übernehmen. Das Haus ist in Brick and Mirror nicht schwarz, dafür aber die Stadt. Am Anfang fährt der Taxifahrer Hashem (Zackaria Hashemi) durch ein dunkles Teheran, im Radio läuft ein Hörspiel, dessen (von Golestan selbst eingesprochene) mythologische Menetekel sich über die urbanen Nachtbilder legen wie Travis Bickles Voice-Over über New York in Taxi Driver. Auf der Suche nach der Mutter des Babys irrt Hashem durch freudlose, schwarz-weiße Cinemascope-Gassen, trifft Verlorenen und Verrückte in einem Labyrinth der Hoffnungslosigkeit. Dann landet er in einem verrauchten Café, wo süffisante Intellektuelle Schaum schlagen und Dampf plaudern, ohne Perspektive oder wahre Leidenschaft. Schließlich nimmt er das Kind mit zu sich nach Hause, wo seine Geliebte wartet. Sie will es adoptieren, doch er sträubt sich, er kann nicht, er hat Angst vor den Nachbarn, deren böse Blicke hinter den Vorhängen lauern. Es ist eine Atmosphäre vager Angst, lähmender Unentschlossenheit und verhinderter Nähe, die sehr stark an Antonioni erinnert, auch wenn die politische Allegorie hier viel deutlicher zum Vorschein kommt. So wie das Private ins Soziale gebettet ist, ummantelt Golestan eine ausgedehnte, klaustrophobische Sequenz in Hashems Apartment, in dem das Paar vergeblich versucht, sich zu verstehen (der Abwechslungsreichtum der Auflösung dieser Passage ist beeindruckend), mit kafkaesken Vignetten aus dem Leben der Marionetten, Gesellschaftsporträtminiaturen, die allesamt Orientierungslosigkeit signalisieren. Kulminationspunkt dieser befremdlichen Bestandsaufnahmen ist eine Szene gegen Ende des Films, in der Hashems Geliebte (die im Übrigen als Einzige an die Möglichkeit einer Befreiung glaubt), ein Waisenhaus besucht. Golestan stürzt sich in eine Montage der vergessenen Kinder in ihren Krippen, ihrer ungelenken Bewegungen und formlosen Laute, wippenden Köpfe und schnappenden Hände, eine kaputtes Bildgedicht zwischen Groteske und Entsetzen, Symbolismus und Sinnlichkeit, das schließlich in einer wuchtigen Kamera-Rückfahrt mündet, in deren Trägheit sich die tiefste Trauer offenbart.

Il Cinema Ritrovato Tag 4: Pferde schwimmen in Farbe

Am Vorabend stolpern wir in eine Restauranteröffnung und schnappen uns formidable Pizzastücke umsonst, das Licht in den schmalen Gassen ist gemalt, jemand brüllt laut vor dem Kino, als Italien gegen Spanien gewinnt. Ab und an winkt sogar Regen, der dann doch nicht wirklich kommt. Außerdem verschlägt es uns in die Bibliothek, in der so viele Buch- und DVD-Schätze liegen, dass man einfach zuschlagen muss. In den Pausen sitzen wir auf den Millimetern Schatten, die bleiben, die schrumpfen, die schmelzen. Jemand holt ein glühendes Eis. Die Klimaanlagen fühlen sich an wie Fieber.

Ioana und Rainer sind begeistert von einigen Chaplin-DVDs. Im Hintergrund kauft Patrick ein. (Foto: Lorenzo Burlando)

Patrick beschließt, dass sein nicht vorhandenes portugiesisch genug ist, um dieses Buch über João César Monteiro zu kaufen. Rainer schaut. (Foto: Lorenzo Burlando)

Zeit und Raum, die für das Kino so entscheidend sind, verlieren auf einem Festival oft an Bedeutung. Die Zeit ist das Kino, der Raum ist das Kino. Man wird förmlich initiiert und mitgerissen von dieser Bedeutung des Kinos, die erschreckend und doch erwartbar größtenteils (jenseits der Screenings am Piazza Maggiore) am breiten Publikum vorbeifliegt. Die Kinos sind übervoll, ja, es gibt große Begeisterung, ja, aber es ist eine cinephile Insel, man gehört gewissermaßen zu den Auserwählten, die verstehen wie wichtig das ist, was man da sehen kann. Zum Beispiel ein Besuch des deutschen Kaisers in Istanbul 1917, der im Rahmen einer kleinen Schau für das türkische Filmarchiv gezeigt wird. Oder aber mein persönlicher Liebling auf dem bisherigen Festival, ein Fundstück von purer Simplizität und Anmut. Die Kinemacolor-Restauration einer Soldatenübung aus dem Jahr 1912 mit dem Namen Plotoni nuatatori della III divisione cavalleria comandata da S.A.R. il Conte de Torino. Darin sieht man Soldaten, die mit Pferden einen Fluss überqueren. Die Kamera schwimmt mit ihnen, die Pferde streiken oder planschen, man verliert sich ähnlich wie im Kino von Jean Vigo in der reinen Freude dieser Bewegung. Luca Comerio heißt der Filmemacher, der die ersten farbigen Dokumentarfilme Italiens realisierte. Die Welt der Vergangenheit bewegt sich in Farbe. Dieses Wunder wirkt auf mich hier in Bologna noch viel stärker, als wenn man bewegte Bilder an sich sieht. Denn diese Farben war schon verloren. Es ist nicht einfach nur das Abbilden der Welt, sondern das Wiederherstellen einer bereits verlorenen Abbildung. Ich würde diese eigentlich logische und bekannte Arbeit gelassener hinnehmen, würde ich nicht derart von ihr begeistert sein. Es ist gewissermaßen eine Wiedergeburt dieser Bilder der vergangenen Welt. Die Einfachheit des Ganzen ist gleichzeitig die Komplexität. Man könnte sagen, dass die Gebrüder Lumière, denen auf dem Festival sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, hier nach wie vor als Erinnerung dienen und eigentlich vor allem als Manifestation für das, was das Kino zu Leisten im Stande ist. Das große Drama, die Gefühle, sehr gerne, aber dieses Zeugnis über die Welt (das dann im Fall des türkischen Filmarchivs nur per Zufall mit dem Verweis “useless“ auf der Filmrolle überlebt) ist ein Hauptbestandteil einer Kinogeschichte, ohne die wir die Weltgeschichte deutlich weniger verstehen können. Wenn man sich die zeitgenössische Bilderflut ansieht, dann kann das Kino gar nicht mehr diese Rolle spielen. Heute sind badende Pferde, die eben auch in Baignade de chevaux, gedreht von Lumière-Kameramann Gabriel Veyre, vorkommen eine Sache der Sozialen Medien. Der Unterschied liegt leider in der flüchtigen Bedeutungslosigkeit dieser Bilder heute und der schweren Bedeutsamkeit dieser Bilder damals. Was wir brauchen würden, wäre ein sondierendes Archiv für die Bilderflut unserer Zeit. Damit nicht alles verloren geht. Aber die Bedeutung liegt auch in der Art und Weise, in der diese Bilder hergestellt werden.

João César Monteiro filmt.

Rainer dazu mit passenden Gedanken zur Lumière-Ausstellung:

Bevor der Lagerkoller in unserem viel zu kleinen Appartement zuschlägt, und wir uns alle gegenseitig nachts mit Klappspaten erschlagen, müssen wir noch einige Worte über die Lumière-Ausstellung verlieren, die parallel zum Festival in einer angenehm kühlen Kellerpassage in der Nähe des Piazza Maggiore zu sehen ist. Zum einen ist bemerkenswert, wie hier auf begrenztem Raum für eine temporäre Ausstellung sehr viel besser mit Ausstellungsstücken des Pre-Cinema umgegangen wird, zum anderen welche Poesie an Stellen entwickelt wird, wo man sie nicht erwarten würde. So werden auf Filme der Lumières aus unterschiedlichsten Orten der Welt Seite an Seite mit aktuellen Webcambildern der gleichen Orte. In diesem Kontrast wird deutlich wie wertvoll diese Aufnahmen der Brüder und ihrer Kameramänner als Dokumente aus einer Zeit sind, als die Welt noch nicht mit Bildern gesättigt war. Auffällig auch das heutige Städtebilder meist aus erhöhter Perspektive aufgenommen werden. Die Kameraposition hat sich der größeren Geschwindigkeit des Alltagslebens angepasst, nur mit diesem Abstand wird noch das wenige Leben fassbar, dass bei den Filmen der Lumières immer zum Greifen nahe erscheint und frivol auf der Leinwand tanzt (Autoabgase und Stahl tanzen nicht).

Ein auf die Wand gedrucktes Zitat von Maurice Pialat fasst die Qualitäten der Lumières sehr treffend zusammen: diese Filme haben bereits alles, was wir vom Kino erwarten und präsentieren es mit einer Einfachheit, die heute oft verloren gegangen ist. Freilich kann man diese Einfachheit leicht mit Primitivität verwechseln, aber es wäre ein Fehler die Brüchigkeit dieser Filme, ihre fehlende Geschlossenheit als Mängel zu bekritteln. Es sind gerade Filme wie Repas d’Indiens, die scheinbar scheitern, in denen das Kino der Lumières ihre größte Macht ausstrahlt. Da sitzt eine Gruppe von Indios im Halbkreis vor der Kamera, die Sombreros tief ins Gesicht gezogen und dahinter beginnt ein weißer Mann in schwarzem Anzug zunächst verhalten, schließlich wild, zu gestikulieren. Er möchte die Männer dazu bringen aufzublicken – in die Kamera –, ihnen die Hutkrempen aus dem Gesicht schieben. Ich stelle mir die Frage, warum diese Szene nicht einfach wiederholt wurde, oder warum sie überhaupt entwickelt und gezeigt wurde. Die Antwort damals wird nicht so anders gewesen sein als heute: erst das Eingreifen des Manns macht diesen Film interessant, erzählt in seinem Scheitern eine Geschichte, die von weit größerem Interesse ist, als die sozialanthropologische Dokumentation eines Abendessen einer Indio-Familie.

Il Cinema Ritrovato Tag 3: Heiß wie ein Vulkan

Andreas tanzt beinahe fehlerfrei den Tony Holiday Tanze Samba Mit Mir-Tanz aus Gouttes d’eau sur pierres brûlantes von François Ozon und schenkt uns damit die offizielle Hymne für Bologna. Das Apartment ist in Aufruhr nach einem langen Tag mit Mauritz Stiller, Abel Gance und vor allem der Potenz von Marlon Brando.

Wobei ich zugeben muss, dass mir die Musik, die unter den sowieso sehr gelungenen Trailer gelegt wurde sehr zusagt. Ein weiterer Filmemacher, der im Namen der Heiligen Maria und Gott sei Dank nichts auf diesem Festival verloren hat, ist Paolo Sorrentino, der den Remix dieses Liedes ja zu Beginn seines La grande bellezza über die Bilder gespritzt hat, damit man kurzzeitig vergisst wie wenig der Mann zu zeigen hat. Dennoch finde ich ihn auf dem Festival und zwar auf der durchaus gelungenen Lumière-Ausstellung, in die ich irritierenderweise als einziger der Gruppe kostenlos komme. Am Ende der Ausstellung haben Filmemacher wie Michael Cimino, Jerry Schatzberg oder Quentin Tarantino die aus der Fabrik kommenden Arbeiter nachgedreht und siehe da, den besten Clip liefert Herr Sorrentino, der die Arbeiter wieder zurück in die Fabrik gehen lässt. Hoffen wir, dass er sich der politischen Aussage seines Clips bewusst ist.

Stillers Vingarne ist wie Michael von Carl Theodor Dreyer eine Verfilmung von Herman Bangs Mikaël und tatsächlich wirkt der Film, der leider nicht vollständig erhalten ist, ein wenig wie eine verknappte Version von Dreyers Film. Gleich zu Beginn, als der ältere Maler einen Vogel beobachtet, dringt kurzzeitig ein wenig von der beachtlichen Beobachtungsgabe und wankenden Assoziationskraft Stillers hindurch, ansonsten ist es ein solider Film auf dem gewohnt hohen Niveau des skandinavischen Kinos, der 1910er Jahre. Man treibt beständig zwischen Offenbarung und Entdeckung, Kuriosum und Klassiker in Bologna. Man kann davon nur schwer genug bekommen. Hinzu kommt die enorme Zerbrechlichkeit dieser Filme. Die Wichtigkeit des Zeigens, die Wichtigkeit des Überlebens. Ioana nennt die Filmrestaurateure „Ärzte der Kunst“ und dem kann ich mich nur anschließen. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass hier die viel wichtigere Arbeit gemacht wird, als bei den Filmemachern. Denn heute scheint mir das Problem weniger zu sein, dass keine Filme gemacht werden, sondern mehr, dass die richtigen nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient haben. Hier wird sortiert, was sonst verschwindet. Vor kurzem durfte ich an einem Gespräch mit Christoph Huber teilnehmen, der äußerte, dass er Film zu sehr liebe, um selbst Filme zu machen. Heute verstehe ich weshalb.

Poster - One-Eyed Jacks_07

Am Abend sitzen wir dann in Brandos One-Eyed Jacks, der uns bereits von Festivaldirektor Gian Luca Farinelli als ein Film mit der Potenz von Marlon Brando beschrieben wird. Es ist die einzige Regiearbeit des Schauspielers und Martin Scorsese trifft es ganz gut, wenn er vor dem film per Videobotschaft ankündigt, dass der Film auf halber Strecke zwischen dem klassischen Hollywood (in Bezug auf die Produktion) und New Hollywood (in Bezug auf die Emotionalität) liegt. Ansonsten ist der Film ein Spiegel für seinen Hauptdarsteller, der sich hier so gut aussehen lässt, dass man manchmal lachen muss.

Rainer sieht bereits unter Tags The Wild One mit Brando:

Marlon hat mich angelächelt. Ich habe zurückgelächelt. Es war einer dieser Momente, für die man ins Kino geht. Das Ende von The Wild One: Marlons Johnny verlässt das Café, will endlich aufbrechen und diese amerikanische Kleinstadt, wie sich vielleicht nur in Filmen existiert, hinter sich lassen. Ein letztes Mal dreht er sich in Richtung seines Sweethearts um – und lächelt. Aber er lächelt nicht sie an, sondern mich. Es ist ein schüchternes Lächeln, als wäre er sich bewusst, dass ihm Tausende entgegenblicken. Marlon ist wie Johnny ein Draufgänger, ein Alphamännchen, doch in diesem Moment öffnet er sich. Er sieht mich an und blickt mir direkt ins Herz und ich blicke zurück und verliere mich in seinen strahlenden Augen. Er sieht mich an, wie mich sonst nur wenige ansehen, es ist fast so wie mit Setsuko. Nach dem Film erzähle ich meiner Sitznachbarin davon, sie teilt meine Erfahrung nicht, hat Marlon unter den Tausenden und Abertausenden womöglich nur mich so angeblickt?