Il Cinema Ritrovato 2023: Cinema Libero – freies Kino?

Ritrovato – wiedergefunden hatte mich das Festival in Bologna dieses Jahr nach meinem allerersten Besuch im vergangenen Juni. Wir beide waren um ein Jahr gealtert. Stolze 37 Ausgaben hat das Event in der Emilia-Romagna nun hinter sich gebracht. Ein Erfahrungsschatz, den ich selbst noch nicht mein eigen nennen kann. Ich fand mich auch dieses Mal von früh bis spät am häufigsten in den nach großen Namen benannten Spielorten und Sälen (Cinema Lumière, Sala Mastroianni und Sala Scorsese), in (dem für CinemaScope konzipierten) Cinema Arlecchino und im Cinema Jolly ein. Wohlgemerkt neben dem – wir wissen es alle und wie könnte es anders sein – Gustieren diverser Köstlichkeiten. Bologna und Essen sind nicht voneinander zu trennen. Am besten gibt man sich dem Genuss unter den Arkaden hin, die vor der Hitze der Sonne und der Frische der Klimaanlagen zugleich schützen. Oder man zerfließt dort symbiotisch mit einem Gelato. Auch auf dem kleinen Platz vor der Cineteca hat sich neben dem Eingang verlockend ein Eiswagen positioniert. Im Nachhinein lese ich, dass sich die zentrale Piazetta Pier Paolo Pasolini, die eben jenen Anker zwischen den verschiedenen Räumlichkeiten der Cineteca bildet, auf einem ehemaligen Schlachthofgelände befindet. Ich muss an die Wiener Arena denken und an den Tod. Während hier früher der Tod zuhause war, versucht man ihn heute gewissermaßen aufzuhalten. Den Tod des Kinos, meine ich, den wir im Gegensatz zu unserem eigenen eher hinauszögern können: Indem man das Kino zelebriert, wiedergefundenen, reparierten Streifen nach präzisen Eingriffen ein neues Leben ermöglicht und sie von der Cineteca aus weiter in die Welt hinausreisen lässt. Die Fluktuation und der Austausch wirken hier einige Tage lang dem Tod entgegen. Doch nicht nur die Filme selbst, auch die Protagonist*innen derselben und die Besucher*innen des Festivals befinden sich in Bewegung. Zielgerichtet oder ziellos, nach neuen Orten, nach einem vertrauten Anker oder nur nach (filmischen oder kulinarischen) Zwischenhalten suchend, wechseln sie zwischen den immer gleichen Cinemas und Gässchen hin und her.

Selbst wollte ich, aus Wien angereist und auf der Suche, am Cinema Ritrovato auch Neues für mich entdecken. Ungesehenes habe ich genug im Programm erspäht, doch sehnte ich mich danach zuallererst Filme kennenzulernen, deren Macher*innen mir nicht vertraut waren und die meinen gewohnten Blick erweitern, infrage stellen, vielleicht herausfordern könnten. Meine Aufmerksamkeit galt neben den „Sorelle del cinema“ („Sisters of Cinema“) wie der Drehbuchautorin Suso Cecchi D’Amico, der Kamerafrau und Regisseurin Elfie Mikesch, der Hollywood-Pionierin Dorothy Arzner oder der Stummfilm-Schauspielerin Dianne Karenne, also besonders der Cinema Libero Sektion. Seit 2013 widmet die Cineteca dieses Programm Filmen, die sich „true to their spirit of innovation and discovery“ zeigen, um der Tendenz entgegenzuwirken, dass „cultural differences“ immer mehr verschwinden und Stile sich einander angleichen, so die Ankündigung 2013, dem ersten Jahr des Schwerpunkts. Doch die Geschichte des Cinema Libero reicht eigentlich weiter als nach 2013 zurück: Unter dem Namen Mostra Internazionale del Cinema Libero hatten Bruno Grieco, Gian Paolo Testa, Cesare Zavattini und Leonida Repaci 1960 ein Filmfestival in Poretta Terme gegründet, das eine Alternative zu Venedig und zu der allgemeinen Marktgetriebenheit von Wettbewerbsfestivals bieten sollte. Es bestand bis in die 1980er Jahre, bis es vom Cinema Ritrovato abgelöst und nach Bologna verlegt wurde. Cinema Libero, freies Kino also. Aber freies Kino – was ist das eigentlich?

Heute gibt es wohl so viele Filmfestivals wie nie zuvor und „frei“ Filme zu produzieren, ist, hat man Zugriff auf Produktionsmittel und -wissen, so günstig möglich wie nie zuvor, der Einstieg ist niederschwelliger denn je. Aber wie frei können das Kino oder Filme in all ihrer Komplexität aus zunehmenden Verstrickungen und Abhängigkeiten in einem Netz aus staatlichen und privaten Förderungen sein? 

Unabhängig produziert und sich selbstausgebeutet = freies Kino? 

Müsste der Sektionstitel nicht mit einem Fragezeichen ergänzt werden –  „Cinema Libero?“  -, um zu implizieren, dass Schaffensprozesse, Distributions- und Archivierungsgeschichten bei jedem Film neu ergründet werden müssten? Wie frei sind wir als Zuschauer*innen in unserer Filmwahl? Ist es nicht eine der Besonderheiten des Kinos, dass wir anderen Perspektiven als der eigenen näher kommen können, um deren Sicht auf die Welt mitzuerleben? Oder wollen wir nur den Personen zusehen, die unserem eigenen Lebensraum am nächsten sind? Was ist mit den Geschichten, die über unseren eigenen Horizont hinausgehen? In unserer globalisierten Welt findet Kulturtransfer hauptsächlich vom West to „the Rest“ statt. Als westlich bezeichnete Gesellschaften und ihre Geschichten dominieren unsere Kinos und Watchlists. Der Kulturtheoretiker und Soziologe Stuart Hall beschreibt in „The West and the Rest“ wie Europa mit seinem Konzept von West und Nicht-West und den damit verbundenen Attributen und Weltvorstellungen seine eigene Einzigartigkeit und Überlegenheit manifestiert und sich gegenüber den als anders erachteten Kulturen abgrenzt. Mir scheint gerade das Kino ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Frei sind wir als Teil des Kino-Apparats nie, frei verfügbar sind vor allem jene Filme nicht, die nicht Teil der westlichen Kulturdiskurses und Distributionskreislaufs sind. Cinema Libero – vielleicht finde ich eher Filme darunter, deren Geschichten und Akteur*innen um Freiheit kämpfen.

Meine Cinema Libero-Programmwahl richtete sich – hierin beschränkte sich meine Wahlfreiheit – natürlich auch nach den angebotenen Spielzeiten: Yam Daabo von Idrissa Ouedraogo (Burkina Faso 1986), Al-Makhdu’un von Tewfik Saleh (Syrien 1972), Aham Al-Medina von Muhammad Malas (Syrien 1984), The Senegalese Actuality Films von unterschiedlichen Filmemachern aus den 1960er und 1970er Jahren, Bushman von David Schickele (USA 1971) und Ceddo von Ousmane Sembène (1977). Letzterer blieb mir besonders in Erinnerung, weshalb ich kurz davon berichten möchte. 

Das Screening von Ousmane Sembènes Film Ceddo wurde von einer Einführung seines angesichts des vollen Cinema Jolly Saals sichtlich gerührten Sohnes Alain Sembène begleitet. Ousmane Sembène, aufgewachsen im von Frankreich kolonisierten Senegal, wird oft als „Vater des afrikanischen Kinos“ bezeichnet, unter anderem da sein 18-Minüter Borom Sarret als einer der ersten Spielfilme gilt, die außerhalb des afrikanischen Kontinents gezeigt wurden. Er gehört einer Generation von Filmemacher*innen der Subsahara an, darunter auch Diop Mambéty und Désiré Ecaré, die mit der Erlangung der politischen Unabhängigkeit einen postkolonialen Filmblick auf die Welt warfen. Viele der Werke aus der Zeit nach dem offiziellen Ende einiger Kolonien werden heute in Archiven in Ländern außerhalb Afrikas aufbewahrt, sodass nur wenige in Bildungseinrichtungen in Afrika zugänglich sind.

Ceddo – damit ist auf Wolof, die Umgangssprache des Senegals, die Gruppe der Außenseiter*innen eines Dorfes benannt, die sich als Nicht-Muslim*innen mittlerweile in der Minderheit befinden. Denn König Demba War stellt sich auf die Seite des Imam und befürwortet eine Islamisierung der dörflichen Gemeinschaft. Aus Protest entführen einige Ceddo Dior Yacine, die Tochter des Königs. Die christlich-französischen Kolonialherren verlieren gegenüber dem Imam an Macht, führen aber ihren Sklavenhandel weiter. Ceddo spielt in einem Zeitraum von wenigen Stunden und in einem einzigen Dorf und seiner Umgebung. Auch die Handlung bildet eine Einheit: meist lauschen wir Gesprächen, die mal als politische Verhandlungen zwischen Herrschern und Bewohner*innen ihre Funktion erfüllen, mal persönliche Bedürfnisse und Meinungen preisgeben. Trotz dieser Einheit umspannt der zugrunde liegende Religionskonflikt über die konkreten Szenen hinaus mehrere Jahrzehnte und geht über das im Film repräsentierte Dorf hinaus. Die Kritik an religiösen Überzeugungen, die über Demokratie und Freiheit gestellt werden, repräsentiert neben dem Aufzeigen der Ausbeutung durch weiße Kolonialisatoren eine Grundproblematik afrikanischer Geschichte und Lebensrealität. Sembène richtet seinen Film an ein afrikanisches Publikum und betonte auch, nachdem Ceddo 1977 erschienen war, die vernachlässigte, wesentliche Rolle der Frau für Gesellschaften Afrikas. Der Kern der Konflikte hält als weiter andauernde Problematik an, sowohl was die Religionen, Machtansprüche als auch die Geschlechterdiskriminierung betrifft. Führen in Ceddo vor allem Männer das Wort und Frauen werden ohne Umschweife im Gegenzug für eine Flasche Wein als Sklavinnen verschenkt oder als Mittel zum Zweck politischer Taktik genutzt, übernimmt doch am Ende die Tochter des Königs Dior Yacine die entscheidendste Handlung. Als Entführte muss sie an einem Schattenplatz abwarten, wie die Verhandlungen über ihr Schicksal ausgehen. In keinem Moment wirkt sie wie ein um Hilfe ringendes Opfer, sondern eher als wäre sie jederzeit zum Sprung bereit. Ich möchte das Close-Up auf Dior Yacine und ihren direkten Blick in die Kamera in der letztem Szene des Films nicht unerwähnt lassen. Während seiner zweistündigen Laufzeit zeigt uns der Film bis dahin kaum Gesichter in Großaufnahme, sondern betont viel mehr durch seine (Halb-)Totalen und Amerikanischen Einstellungen das Kollektive statt das Individuelle der Konflikte. Nun blickt Dior Yacine in die Kamera. Ihr Blick signalisiert Entschlossenheit. Ihr Blick füllt das Bild aus, nimmt es vollständig ein. Dass am Ende die Tochter des Königs die für das Dorf einzig wesentliche Entscheidung trifft, verstehe ich als Aufbruch und als Gegenschuss zum Besitzanspruch der Kolonialherren und ihrer Kollaborateure. Doch ob das kurze Vakuum der Befreiung von einer Herrschaft mit Freiheit gefüllt werden kann, lässt sich nur erahnen. Der Blick auf die Geschichte lässt Freiheit nur in Träumen, nicht jedoch in der Realität wahr werden. Sembène findet einen Ausdruck, um vom Kam pf für Freiheit zu erzählen. Es ist der Kampf gegen Unfreiheit durch und in den Bildern des Films. Es ist der Ausdruck von Entschlossenheit in Dior Yacines Gesicht sich selbst und zugleich uns als Publikum von der vierten Wand zu befreien, die der Film bis dahin aufrecht erhält. Ob wir nun nach Freiheit in der Produktion, der filmischen Form oder der Handlungen der Figuren suchen, stets kann sie nur als temporär oder für einen Teil der Gesellschaft gelten. Oder?

Verschwundene Notizen zu Wolfgang Staudte

Wenn ich ins Kino gehe, ist das Notizbuch in der Regel ein treuer Begleiter. Vor allem dann, wenn ich mehr als einen Film sehe. Gelegentlich sammeln sich darin Tickets, die beim Aufschlagen immer aus den Seiten herauszufallen drohen. Die meiste Zeit ruht es anteilnahmslos in der Tasche unter dem Sitzplatz. Sein schwarzer Einband macht sich im Dunkel des Saals unsichtbar. Oft denke ich beim Schauen daran, woran ich mich später noch einmal erinnern will. Man könnte denken, es liegt wohl deshalb nahe, sich während des Films Notizen zu machen. Aber selbst wenn ich es tue, stößt diese merkwürdig akademisch geprägte Disziplin im gleichen Moment auf ein gewisses Unbehagen – als wolle man den Film mit einem voreiligen Urteil bezwingen. Meist sind diese unleserlichen Bemerkungen im Nachhinein sowieso nutzlos und dienen höchstens dazu, die Eindrücke bloß in der richtigen Chronologie zu ordnen. Dann doch besser direkt nach Verlassen des Saals? Auch dann ist selten der richtige Zeitpunkt. Entweder ist es Erschöpfung oder die Suche nach Ablenkung, die sich auf einmal in den Weg stellt. Als würde man versuchen, mit Aufblenden des Saallichts, die angespannte Aufmerksamkeit zu verteiben, fällt es mir schwer direkt im Anschluss einen klaren Gedanken zu fassen. Meist denke ich erst einige Stunden oder Tage später wieder an den Film, der nun allerdings ein ganz anderer ist. Manchmal halte ich diese Gedanken fest, oft vergesse ich sie wieder. Lose Wortfetzen, die zunehmend ihre Bedeutung verlieren, niederzuschreiben, wird so mehr und mehr zum Zwang. Noch nie habe ich mich jedoch gefragt, weshalb ich diese Notizen wirklich sammle.

Einige Tage sind jetzt vergangen nachdem ich vier Filme von Wolfgang Staudte beim diesjährigen Il Cinema Ritrovato sah. Das nachleuchtende Bild in meinem Gedächtnis hat sich mittlerweile vernebelt. Meine Notizen sind spärlich bis gar nicht vorhanden – die Gründe sind bekannt. Seltsam fließen die Filme jetzt ineinander. Schon beim Sehen suchte ich nach verbindenden Elementen. Nach etwas, das Orientierung schafft in Wolfgang Staudtes so umfassend wie unübersichtlichem Œuvre. Bis ich die Filme sah, war mir seine Bedeutung kaum bewusst. Ein paar seiner Filme kannte ich aus der Kindheit. Seine sonderbare Stellung als Grenzgänger im geteilten Deutschland in doppelter Hinsicht spielte damals aber keine Rolle. Auch wenn die Filme, die ich sah, unterschiedlicher nicht hätten sein können, schienen sie alle zur Beschreibung einer fragilen, unwirklichen Gestalt, der eines Grenzgängers, hin zu drängen.

Das Lamm, ein DEFA-Film gedreht im Schatten der Metallwerke des Ruhrgebiets, verfolgt einen eigenbrötlerischen Jungen auf Abwegen durch eine Nacht gemeinsam mit seinem Tier. Die Erfahrungen, mit denen er konfrontiert wird, bilden das ganze Spektrum einer Nachkriegsgesellschaft ab, die sich eigentlich auf dem Weg zum Wirtschaftswunder befindet. Das ist für Staudte aber zweitrangig. Wichtiger ist offenbar, dass sich der eigensinnige Junge gleich seinem Tier am Ende in das Kollektiv – also in die Gemeinschaft und nicht vorangig die Gesellschaft – einreiht. Die Rebellion greift diesen Impuls auf, aber wendet ihn augenblicklich ins Gegenteil. Gerade noch, wenn der Kriegsinvalide Andreas Pum integriert zu sein und seine Rolle gefunden glaubt, stößt ihn die Gesellschaft ab wie einen Fremdkörper. Zu Unrecht sitzt er im Gefängnis und verliert alles was ihm blieb. Sein unausgefülltes Leben endet schließlich an seinem untröstlichen Arbeitsplatz – von Versöhnung keine Spur. Der Film Zwischengleis beschreibt das Leben einer Person mit einer ähnlichen Biografie: Eine Frau die mit ihrem Trauma aus Kriegszeiten ringt, wird tot unter einer Brücke aufgefunden. Ihr Selbstmord stellt die Ermittler vor ein Rätsel. Allmählich rollt der Film vergangene Episoden auf, als wären sie Erinnerungen eines Lebens, das immer nur am Rand aber nie im Mittelpunkt gelebt wurde. Der Film versucht so, dem Trauma in all seinen widersprüchlichen Facetten ein Gesicht zu geben und doch bleibt er in bestimmten Weise undefiniert. Wie eine Antwort darauf verschwindet auch im Film Heimlichkeiten eine Frau auf bis zuletzt ungewisse Weise. Wie in den Filmen zuvor verkörpert der Film einen untergründigen diffusen Zustand, der die Menschen und das zeitgeschichtliche Geschehen zusammenhält. So spielt die Handlung am Goldstrand, also gerade dort, wo der politische Osten mit dem Westen gemeinsam während des Kalten Krieges seine Ferien verbringt.

An die Grenze zu gehen, bedeutet bei all diesen Filmen wohl kaum, die Extreme auszuloten, sondern sie zu verstehen und lernen mit ihnen umzugehen. Es gibt immer wieder diese Momente in Staudtes Filmen, die sich gerade nicht auf ein dezidiertes politisches, historisches oder ästhetisches Bewusstsein stützen. Diese klandestinen Augenblicke beschreiben eine unentschlossene, zögerliche Haltung. Sie drücken sich dabei in einer ebenso verspielten wie schwelgerischen Form aus. Das kann ein erotischer Tanz sein, den das frühreife Mädchen auf einer Hochzeit mit einer flüchtigen Bekanntschaft führt (Das Lamm). Zwei Augenpaare blicken tief einander an, während alles um sie herum verschwindet. Alles das, was zuvor als mühselig und ungewiss erschien. Wenige Augenblicke später sind beide tot. Vom Unfall ist nichts zu sehen, nur zwei leblose Körper liegen im feuchten nächtlichen Gras. Dieses Bild scheint genauso ein Verweis zu sein, auf die tote Frau zu Beginn des Films Zwischengleis. Sie ist unversehrt, nichts deutet auf die Gewalt eines Sturzes hin. Erst die letzten Einstellung offenbart dieses Geheimnis. Sanft, wie ein Laubblatt sinkt die Kamera kreiselnd von der Brücke zu Boden. Schließlich überblendet das Bild in die schier endlose Pirouette einer Eiskunstläuferin. Watteweicher Traum und steinharte Realität sind bei Staudte nie weit von einander entfernt. Es handelt sich dabei immer um Momente des Ausbruches. Plötzlich kann sich mittels eines Traums das gutbürgerliche Etablissement in einen surrealistisch überhöhten Gerichtssaal verwandeln (Die Rebellion). Staudtes Filme werden in diesen Momenten unvermittelt moralisch. Wo Verzweiflung herrscht, bleibt immer noch eine Spur Hoffnung erhalten. Leichtfertig ließe sich dies als Verkitschung hinstellen, jedoch in jedem dieser raren Bilder scheint sich für einen Wimpernschlag das Schicksal von den Figuren zu trennen und ihnen einen anderen Ausblick zu ermöglichen. Es wirkt fast so, als wolle sich Staudte gegen etwas auflehnen, das er anders nicht zu beschreiben weiß.

Immer wieder, wenn ich an diese verträumten, selbstvergessenen Bilder denke, merke ich, dass sie sich leicht verschieben und sich mir ihr Kontext nicht mehr ganz erschließt. Ich wünschte, ich hätte mir genauer notiert, was ich in ihnen gesehen habe. Allerdings frage ich mich, ob sich diese Bilder dann überhaupt so benennen oder beschreiben ließen. Oder würden sie nicht eher Gefahr laufen, zwischen analytischen Stichworten zu verschwinden, wie es den Menschen in den Filmen letztlich erging? Staudtes Film Heimlichkeiten handelt von dieser merkwürdigen Ungewissheit im Besonderen. Die Bilder ergeben zwar das ansehnliche Panorama eines Urlaubsparadieses, aber sie scheinen nicht recht zueinander gehören zu wollen. Jede Spur verliert sich im Sand. So konventionell Heimlichkeiten daherkommen mag, ist es vielleicht Staudtes radikalster Film, weil sich eine trügerische Normalität zu erkennen gibt. Das rätselhafte Verschwinden greift um sich, als würde jemand ein Stück der Wirklichkeit dem Zusammenhang entreißen und verstecken wollen. Jedes Bild wird damit automatisch zu einer Frage. Vom Verschwinden lässt sich so nicht absehen. Man könnte denken, Wolfgang Staudte versucht in diesen Filmen das Verschwundene zu bewahren.

Nachdenken über Fluchtweg nach Marseille

Ingemo Engströms und Gerhard Theurings Film ist vielleicht einer dieser Filme, der immer nur einem kleinen vertrauten Kreis Menschen wirklich ein Begriff ist. Sie teilen die Erfahrung, diesen einen Film gemeinsam in der Vergangenheit gesehen zu haben, der sich so sehr mit ihrer damaligen eigenen Gegenwart verknüpft hat, dass er nun nur noch eine Erinnerung darstellt. Irgendwann verblasst diese jedoch, weil sie von neuen prägenden Ereignissen überlagert wird – wie auch dieser Film. So verstauben die Erinnerungen, rücken aus dem Horizont der eigenen Wahrnehmung und werden schließlich zu romantischen Erzählungen, womit ihnen ihr gegenwärtig-aufblitzender Kern verloren geht. Mich beschäftigt nun seit einiger Zeit der Gedanke, was es bedeutet, einen Film wieder zu entdecken und zu restaurieren – sowohl für mich als auch für andere. Es drängt sich bei mir der Eindruck auf, die Suche speise sich aus Märchen der vergangenen Zeit und die Entdeckung sei dann nur doch  Bestätigung, ein Teil dieser fortgeschriebenen Erzählung gewesen zu sein. Die Frage, warum wir danach suchen, wird dabei unbewusst unterdrückt, denn Vergegenwärtigung ist in erster Linie mühsam. Der Film Fluchtweg nach Marseille nimmt sich diesem Gedanken an und macht ihn zu seinem eigenen.

Mit einer brüchigen Stimme referieren Engström und Theuring bei der Präsentation der restaurierten, digitalen Fassung bei der diesjährigen 35. Ausgabe von Il Cinema Ritrovato. Sie lesen vom Blatt in einem Duktus, der in seiner Stringenz und Klarheit, wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Während der Restaurator Martin Koerber die Einmaligkeit aufgrund der raren Zeitzeuginnen dieses Dokuments hervorhebt, schmunzeln Engström und Theuring still und verlegen, als würden sie für einen Moment einen Gedanken teilen. Sie sind selbst Zeugin und Zeuge einer vergangenen Zeit, doch anstatt dies herauszustellen, sprechen sie lieber von Anna Seghers und Walter Benjamin. Noch einmal zitiert Theuring die Sätze aus Benjamins letzter Arbeit „Über den Begriff der Geschichte“, die er unvollendet hinterließ, als er sich auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Gestapo im spanischen Portbou an der französischen Grenze das Leben nahm. Dann verdunkelt sich der Raum, der eher Konferenzsaal als einem Kino ähnelt und der Film nimmt seine Bewegung auf.

Diese Bewegung nimmt allerdings ihr baldiges Ende, als die englischen Untertitel stoppen. Murmelnde Aufregung verteilt sich zwischen den Reihen. Der Film muss angehalten werden, der Projektor neugestartet. Eine Pause, sengende Hitze und einen Kaffee später, beginnt der Film von Neuem. Das unausgesprochene Einverständnis mit dem Kino, das in diesen Tagen in Bologna wie ein Ritual zelebriert wird, ist verloren gegangen – ist gebrochen, ebenso wie die raunende Ahnung, die diesen Film umgibt. Das Publikum verhält sich jetzt anders, es ist vielleicht pikiert, aber auch desillusioniert, was die Erfahrung von Geschichte im Kino als eine Geschlossene betrifft, gerade an dem Punkt, an dem die Vorrede des Films endet.

Schnell gerät die Unterbrechung unter dem dicken Mantel der Erzählung allerdings wieder in Vergessenheit. Der Erzählung, die eher dem Anhäufen von Gedanken entspricht und von der suchenden Bewegung durchkreuzt wird. Wiederholende Fragen in leichten Variationen treiben die Bewegung an. Wo sind wir? Der Film versucht sich so, Orientierung im Dickicht unbeschreiblicher Erfahrungen zu verschaffen. Darin sucht er nicht nach einem Bild, sondern vor allem nach Sprache. Die Bilder, die der Film zeigt, besitzen dahingehend keinen Ausdruck. Eher ließe sich sagen, sie materialisieren die Suche: Meist in Fahrten direkt aus dem Auto aufgenommen oder in Panoramaschwenks, tastet die Kamera eine Landschaft nach hinterlassenen Spuren ab. So sehen wir Flüsse, die von Brücken überquert werden, Ruinen zerstörter Städte, deren Bewohner ermordet wurden und immer wieder Straßen, die sich durch die Umgebung schlängeln. Der Film nähert sich so allmählich der titelgebenden Chiffre des Romans von Anna Seghers Transit an, jedoch ohne dies für sich zu beanspruchen. Wie Engström und Theuring zu Beginn klarstellen, handelt es sich nicht um eine Adaption, sondern um ein Leitmotiv. Das könnte so viel heißen, dass sie allenfalls Seghers Schriften verwenden, um sich an etwas anzunähern, das dem zwar abstrakt erfahrbar vorhanden ist, aber sich ebenso von seiner Konkretisierung distanziert. Auf einmal erscheinen die Namen des Regiepaars und der erste Teil des Films nimmt sein Ende.

Überwältigt und desorientiert von den Fragen sitzt man nun im Dunkeln, als unvermittelt der zweite Teil beginnt. Die Bilder des Jahres 1977 haben keine Geschichte, heißt es. Wir sind nun angekommen in Marseille, aber der Film setzt erneut eine Suche an. Eine Suche in der Stadt des Exils, die keinen Abschluss liefern wird, weil sie es nicht kann. Es läuft geradezu dem Exil zuwider, das nur am Anfang sein Ende nehmen kann. Für einen Moment folgen wir der Geschichte Walter Benjamins bis auf den Friedhof Portbous. Der Blick richtet sich auf einen Güterbahnhof und dann auf das schweigende Meer. Die ausweglose Situation, von der Benjamin in seinem letzten Brief schwermütig berichtete, prallt auf die trügerische Weite. Zwei Jahre nachdem sich Benjamin das Leben nahm, stößt die Wehrmacht an die französische Mittelmeerküste vor. In solchen Augenblicken wird sich der Film seiner eigenen Sprachlosigkeit wieder bewusst. In dem uraltem Hafengeschwätz Marseilles scheint diese unbegreifliche Geschichte verborgen zu liegen, aber sie verliert sich im Gewirr der Stimmen. Ein letztes mal stellt sich der Film die Frage: „Wo wir sind wir?“. Wir sind am Ende des Films und befinden uns im Jetzt, dem Jetzt des Jahres 1977 wie auch dem des Jahres 2021. Die Frage des Ortes ist nun eine der Zeit.

In ähnlicher Weise wie der Film um eine (seine?) Sprache ringt, geht es auch mir. Zu vieles blieb hier unerwähnt, was die Eigensinnigkeit dieses dreistündigen Werks ausmacht. Ich glaube aber, dass sich darüber hinweg sehen lässt. Dieser Film liegt seitab von jenem totalitären Anspruch, alles in ihm enthaltene aufsaugen und wiedergeben zu müssen. Fluchtweg nach Marseille verstehe ich so eher in der Form des Umgangs mit einer Landkarte. Wir sind daran gewöhnt, sie zu öffnen und uns einen groben Überblick zu verschaffen. Sich zu orientieren, sie zu lesen oder sie zu verschließen, stellt die größere Herausforderung dar, vor allem dann, wenn Wege verschwinden und neue entstehen. Ich frage mich, wie es vorstellbar ist, diesen Film zu restaurieren. Versucht sich der Film nicht vehement davon loszusagen, nur eine Zeile in der Chronologie eines Geschichtsbuch, nur eine weiterer Beitrag zum gegenwärtigen Bewusstsein zu werden? Notwendigerweise müssen Restauration und Gegenwart zueinander Distanz wahren, um für sich begreifbar, also unterscheidbar zu bleiben. Aber bei diesem Film bin ich mir nicht sicher. Kein anderer ist geeigneter und ungeeigneter dafür zugleich.

Das Untertitel-Problem hat in seiner häretischen Weise verdeutlicht, dass der Film nicht nur einfach an der Sprache operiert, sondern ebenso eine Übersetzungsarbeit leisten muss, übersetzen zwischen Sprachen wie zwischen den Zeiten. Der Film nimmt sich am Ende des zweiten Teils Walter Benjamins Gedanken zum „Autor als Produzent“ an. Er entwickelt damit rückblickend seine eigene Denkform. Es wäre in dieser Hinsicht eine Überlegung wert, der Arbeit des Restaurierens, Benjamins Überlegungen über „die Aufgabe des Übersetzers“ beizulegen. Das hieße, den Film ins Jetzt zu retten, ohne ihm ein mythisches Denkmal zu setzen. Wahrscheinlich müsse die Restauration dazu zur Sprache des Films durchdringen und diese bewahren.

Il Cinema Ritrovato 2018: Finding Water, Finding Land

Fischfang in der Rhön (an der Sinn) von Ella Bergmann-Michel

Circling, encircling, turning full circle: the not altogether lucid experience of summer. A film festival playing out in the midst of it is inevitably infected with its spirited grandeur as well as the emptiness it leaves behind. Il Cinema Ritrovato, in part due to its festival time slot and the sultry air of the Emilia-Romagna basin, but also thanks to the programming that charts new-old discoveries onto the sketching boards of all manner of visitors, remains the keeper of an (as of yet) unconquerable and somewhat irresistible meandering line leading through film history, albeit enveloped in a misty light that leaves much to the imagination. It’s hard to keep from wondering what would happen if something were to change; if, for example, a new kind of territory, be it cinematic or geographic, were to appear on the festival maps or another manner of introduction and discussion set in motion. The history of cinema may prove itself inexhaustible if we reach deep enough.

As it is, we participate in the swerving, latching onto a creature of choice and following it all along the line. And there it is, the line itself come to life in a tremor: Luciano Emmer, whose La ragazza in vetrina (1961) pursues the light by parting from it in one of the first shots. A group of miners goes underground in Holland – its members are, for the most part, Italian immigrants who left home looking for work and money to send back. Vincenzo is a new arrival and it is his gaze that propels the gut-sinking feeling as the crew drop down into the dark pits of the Earth, the bead of light above becoming smaller by the second. Their descent is planned, it is supposed to bring them something but, instead, they are buried in a mine shaft on one of Vincenzo’s first trips down. You can carry your light with you, but you can also be buried together with it. After a few days, the survivors, Vincenzo and rowdy, boisterous Federico (a magnanimous Lino Ventura) among them, are dug out by their colleagues and Federico convinces the youngster that he deserves a weekend in Amsterdam before returning to Italy, a decision he arrived at after the catastrophic accident. This is where the mermaids come in, filmed as they’ve rarely been filmed before, in real locations the likes of which we’ve hardly ever encountered.

La ragazza in vetrina by Luciano Emmer

As the two protagonists venture into Amsterdam’s red light district, it becomes clear that going down the pit can mean many things. In the film, the incredible prostitutes Else (Marina Vlady) and Chanel (Magali Noël) carry another portion of both simmering violence and hopefulness that are so essential to its spirit. Women displayed in windows and men sent into the darkness join forces for a moment, as a dreamlike idyll at Else’s tiny seaside house sends her and Vincenzo into another pursuit. The last shots see him back in the mines with a glint in his eye – the light returned. Terza liceo, Camilla (both 1954) and Le ragazze di Piazza di Spagna (1952) confirm Emmer’s essential humanism and, in view of the disturbing lack of recognition of (and writing on) his generous, vibrant filmmaking, bring this Annie Dillard quote to mind: “Emotional impact and simplicity are two virtues (…) which strike textual criticism dumb.”

F. Percy Smith at his house in 1936

What then of another find, a small jewel of botanical imagery which seems to float as the blossoms turn on their axis before the camera, colors peeling off them in slivers of green and red? The seven-minute Varieties of Sweet Peas (1911) shows F. Percy Smith, pioneer filmmaker and great naturalist whose films have recently been assembled into a collage called Minute Bodies (2017) by Stuart Staples of the Tindersticks, gently opening a box full of flowers. All that in Kinemacolor, a short-lived beauty of an early additive color process revived.

What of Ella Bergmann-Michel’s 1932 short Fischfang in der Rhön (an der Sinn), ripe with the mystery, stillness and life of water? Its transparencies are captivating; tadpoles make music with waves and fish, visual music that overflows in double exposures. Plants are reflected in the water, and dandelions and shadows filmed near the river. A cat slinks through the grass, an epitome of the unknown. All the while, a man is angling on the shore. The man ends up with a fish on his hook, the cat with a bird in its mouth. Something is awry, certainly. Something is ruthless and running amok in the crystal waters. We can’t tell where it ends or begins, since all is water, which is at once “life and a threat to life; it erodes, submerges, fertilizes, bathes, abolishes,” writes Claudio Magris.

Venise et ses amants by Luciano Emmer

And if we now do turn full circle to Luciano Emmer, we will arrive at a wonder: his non-fiction essay films. Two of these are notably located (almost) on water, revolving in and around Venice, a city that Emmer treasured since his childhood days spent there. Venise et ses amants, with Jean Cocteau reading the text, illuminates the melancholy air of many who succumbed to its charms and blended their touch and flame to that of the city, such as Keats, Lord Byron and George Sand. Their words and ghosts are reintroduced into Venice as palaces collapse their shadows into the sea in the astonishing ambition of reaching for the sand and stars all at once. But then the circle widens, opening towards the Venetian Gulf and, most importantly, the lagoon.

Isole nella laguna (both films were made in 1948) roves the small islands protruding from the sea and their few remaining inhabitants, recording landscapes both disappeared and disappearing, always on the very brink of existence. Its children eat blackberries without paying heed to the bones moved there from the overflooded Venetian cemeteries, the patients of the San Clemente insane asylum cling to a grate as the camera approaches on water, though whether to keep safe or in a desire to escape will forever remain unclear. There are those who embroider and blow glass into being, as if to say the human hand can only work to create miracles in this world. Magris, writing on the nearby Grado Lagoon in his Microcosms, says it best: “Poetry is pietas, humility – closeness to the humus lagunare (…) – and the fraternal pleasure of living. The waters of that immemorial humus are dark, the batela glides calmly, the hand guiding it knows how to sculpt a face mined by the years, to etch the profile of a landscape.” This life is ancient and young and made for meandering quests. Let at least one of them be a festival of intermittent light.

Il Cinema Ritrovato 2018: Songs of Bologna

Early Spring von Yasujiro Ozu

Das diesjährige Il Cinema Ritrovato war für mich nicht nur ein Film-, sondern auch ein Musikfestival. Es begann mit den sicherlich fragwürdigen, aber dennoch nicht unsympathischen Einstimmungsperformances auf der Piazza Maggiore (eine Mariachi-Band vor Enamorada von Emilio Fernández, ein gitarrenbewehrter Pfeifvirtuose, der vor C’era una volta il West Ennio-Morricone-Hits zum Besten gab) und zog sich wie ein Orgelpunkt durch meinen ganzen Bologna-Aufenthalt, im Kino wie außerhalb. Was mir dabei besonders im Ohr blieb, waren weniger einzelne Songs oder Musikstücke als der Klang von Vergemeinschaftung.

In Filmen unterschiedlichster Herkunft und Datierung wurden Lieder gesungen, um den Zusammenhalt einer Gruppe zu stärken. Gesang gibt die Kraft, um bei der gemeinsamen Sache zu bleiben – ganz gleich, welche Sache das sein mag, egal, ob die Gruppe willentlich formiert wurde oder aus Zufallsbekanntschaften besteht. Die verschütteten Minenarbeiter, die in Luciano Emmers La ragazza in vetrina „Bésame mucho“ anstimmen, um in tiefster Not den Überlebenswillen zu stärken. Die vom Leben enttäuschten Salarymen, die in Yasujirō Ozus Sōshun beim Sake-Besäufnis schunkelnd alte Hadern plärren, um die triste Nachkriegsstimmung zu heben. Die rechtsnationalen Tatenokai, die in Paul Schraders Mishima: A Life in Four Chapters auf dem Weg zum Staatsstreich eine Ballade über Pflicht und Ehre intonieren, um sich moralisch zu wappnen.

Am lautesten tönten solche musikalischen Schulterschlüsse, kaum überraschend, in der sowjetischen Programmschiene des Festivals. Zum einen aufgrund ihrer propagandistischen Note (no pun intended), zum anderen, weil der Sowjet-Tonfilm im Jahr 1934, dem die Sektion gewidmet war, gerade richtig durchstartete und erpicht darauf war, seine mannigfaltigen Fertigkeiten wirkungsvoll unter Beweis zu stellen. Mit Garmon von Igor Savčenko fand sich sogar ein gestandenes Musical in den Reihen der Auswahl. Das eindrücklichste Gesangsmoment gehörte allerdings Yunost‘ Maksima von Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg: Dort winden Bolschewiki in zermürbender Kerkerhaft zwecks Widerstand die „Warschawjanka“ aus ihren Kehlen. Als Wärter in ihre Einzelzellen stürzen, sie mit roher Gewalt niederringen und versuchen, ihnen die Münder zuzuhalten, verselbständigt sich das Lied, erobert die Tonspur und gerät durch die Gefängnismauern hindurch zum ungreifbaren, unbezwingbaren Gespenst der Freiheit. Auch wenn das Stilkonzept aus heutiger Sicht plump emotionalisierend wirkt, hat es kaum an Kraft verloren: Zu dringlich die Brutalität der Bilder, zu wuchtig der abrupte formale Befreiungsschlag.

Die Voraussetzung solcher Sequenzen ist die Vorstellung, dass es Lieder gibt, die gekannt werden. Vielleicht nicht von allen, aber zumindest von einigen. Das schönste Beispiel dafür wäre die erwähnte Emmer-Szene: Dort kürt der von Lino Ventura gespielte Minenarbeiter bewusst „Bésame mucho“ zum Durchhaltesong, weil er annimmt, dass auch der zusammen mit ihm und seinem italienischen Kumpel verschüttete Afrikaner das Lied kennen müsste. Ein italienischer Schlager wäre doppelt unangemessen: Zum einen sind alle drei Männer Gastarbeiter in Holland, also Fremde unter sich. Zum anderen sind sie hier unten – für einen endlosen Augenblick aufs nackte Leben reduziert und eingerußt vom Kohlestaub – alle schwarz.

Ich habe den Eindruck, dass Filmszenen dieser Art immer seltener werden. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es (abseits von politischen Veranstaltungen und Fußballfanmeilen) immer weniger Lieder gibt, die von allen oder zumindest einigen gekannt werden, und zwar in einer Art und Weise, die zum spontanen, bruchlosen, kollektiven Gesang befähigt – jedenfalls außerhalb der relativ eingehegten, überschaubaren Enklave der Jugendzeit. Womöglich ist das der Grund für die Begeisterung, die dem Einsatz von Britney Spears’ „Everytime“ in Harmony Korines Spring Breakers aus vielen Ecken entgegengebracht wurde: Er weckte die Erinnerung an das gemeinschaftsstiftende Potenzial von Musik im Dunst einer zerfaserten Wirklichkeit, den Glauben, besagtes Potenzial gehöre nicht der (privaten und sozialen) Vergangenheit an. Eins ist klar: Heute muss sich jeder seine Lieder selber suchen. Oder selber machen. Und, wenn möglich, angstfrei selber singen. In der Hoffnung, dass andere einstimmen. Auch, wenn keiner richtig zuzuhören scheint.

Il Cinema Ritrovato 2018: Jetzt auch in Schwarz-Weiß

Imitation of Life von John M. Stahl

Einen besseren Eröffnungsfilm als The Apartment von Billy Wilder (gesehen im Arlecchino) hätten wir nicht wählen können. Zugegebenermaßen war die Auswahl noch ziemlich karg. Die Alternative wäre The Brat von John Ford gewesen („nicht sein stärkster Film“, wie der Einführende anscheinend sagte). The Apartment ist einer jener Filme, wie auch Some Like It Hot, die man mit den Eltern oder Großeltern an Sonntagnachmittagen oder -abenden in der deutschen Fassung ansah. Auf die man sich einigen konnte, da sie so lustig sind. Sie sind ja von Billy Wilder und mit Jack Lemmon. Ich kann mich allerdings an keine Lachsalven erinnern. Durch das diesjährige erneute Sehen des Films weiß ich auch warum. The Apartment ist zutiefst melancholisch, vielleicht sogar etwas zynisch, auf alle Fälle aber kritisch gegenüber Liebes- und Geschäftsbeziehungen in New York um 1960.

Wie mir ein Freund sagte, soll Billy Wilder auf die Idee des Films gekommen sein, da er sich nach dem Sehen von David Leans Brief Encounter beständig fragte, woher denn das Liebesnest der Verliebten komme – und wem es gehöre. Wem, wenn nicht einem ehrgeizigen, alleinstehenden und Überstunden-machenden Angestellten, der sich nebenbei noch etwas hinzuverdient/verdienen muss und so sein Apartment seinen Chefs für deren Liebeleien zur Verfügung stellt? Allerdings könnten die Stelldichein in Brief Encounter und The Apartment nicht unterschiedlicher sein. Handelt es sich bei ersterem um eine dramatische Liebesbegegnung zwischen Gleichgestellten, so wird C.C. Baxters Wohnung zum Durchlauferhitzer für die Zweckbeziehungen der Chefs mit den kleinen Angestellten. Es liegt auf der Hand, dass Baxter sich ebenfalls verprostituiert. Um der Karriere willen.

The Apartment lief unter dem Programmpunkt „Il Paradiso dei Cinefili“ in der Sektion „Ritrovati e Restaurati“, wiedergefunden und restauriert, welches der Kern des Il Cinema Ritrovato ist. Diese Betitelungen kann man ironisch lesen: Sind die Cinephilen denn schon tot und ins Paradies eingegangen? Oder sind sie dem Sündenfall entronnen, da sie nie zu dem Apfel greifen, der prall und rund vor ihnen hängt, sondern ihn nur anstarren? Ich starre gerne auf die Reihe rotbackiger Äpfel, die das Ritrovato Jahr für Jahr für uns abspielt. Es gibt unfassbar viele Apfelsorten. Äpfel sind außerdem lange haltbar, wenn man sie richtig lagert. Und wenn nicht, dann gibt es aufpolierte Äpfel, Äpfel-Hologramme? Die sind auch schön anzusehen, anfassen soll man sie ja nicht.

The Apartment bot sich uns in einer strahlenden und gestochen scharfen 4K-Digitalisierung einer 35mm-Kopie dar. Die Graustufen waren vielschichtig und die Tiefenschärfe in einigen Szenen atemberaubend. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte angenommen The Apartment sei ein „flacher“ Film, da er ja eigentlich ein Kammerspiel ist und fast ausschließlich in Räumen spielt. Aber diese monochromen Räume sind tief und voller Strukturen, die der Handlung erst ihre Substanz geben. Warum dies so ist, findet man oft erst bei der Recherche heraus. The Apartment ist einer der wenigen Filme, die in schwarz-weiß und anamorph gedreht wurde. Gibt man in einer Suchmaschine die Schlagwörter „anamorphic black-white“ ein, findet man eine Handvoll Blogeinträge, die diese Filmtechnik preisen und zugleich betrauern, dass sie kaum mehr angewandt wird. Aber auch damals waren anamorphische 35mm-Schwarz-Weiß-Filme eine Ausnahme, denn die Farbe war ja schon da, hatte ja schon so viele Filme mit zarten Nuancen, blauen Augen und teils kreischender Symbolik („Watch out for the girl in the red dress!“) ausgestattet. Nicht so in The Apartment, dessen Zusammenspiel von Vorder-, Mittel- und Hintergrund Bände spricht.

Bazin meinte, dass die Tiefenschärfe dem Bild mehr „Realismus“ verleihen würde. Emanzipatorische Wirkung hätte dies dann, wenn durch den Verzicht auf eine analytische, lenkende Montage der Blick der Zuschauer_innen wandern könne und diese somit zu aktivieren Mitgestaltern und -gestalterinnen des Filmgeschehens werden würden. Joseph LaShelle (der Kameramann des Films) setzt die Tiefenschärfe kongenial ein, um die Dramatik, die unter dem komödiantischen Spiel Lemmons schlummert, hervorzuheben. Etwa in der Szene, wo er im Vordergrund telefoniert, im Mittelgrund das Wohnzimmer des Apartments zu sehen ist und sich im Hintergrund Shirley MacLaine als Fran Kubelik nach ihrem gescheiterten Selbstmordversuch aus dem immer im Dunkeln liegenden Schlafzimmer schleppt. Das Telefonat dient dazu Mr. Sheldrake, der Miss Kubeliks „Herz“ brach, zu einer empathischen Geste zu bewegen. Die hilflose Kühle, mit der Sheldrake reagiert, wird durch die verzweifelte Hilflosigkeit Frans zum Verbrechen deklariert. Ich klage an, scheint das Bild zu rufen, aber ohne platte Sentimentalität, sondern, trotz Verzicht auf eine analytische Montage (am besten noch mit Großaufnahmen…), mit einem analytischen, humanistischen Blick auf eine Gesellschaft, die auf der Ausbeutung anderer basiert.

The Apartment von Billy Wilder

Fran Kubelik, C.C. Baxter

Das Breitbildformat lenkt außerdem den Blick auf die Bildränder. Dort fielen mir die afroamerikanischen Büroangestellten auf, die Nachrichten an die an den Tischen platzierten weißen Angestellten verteilen. Auch wenn der Fokus stets auf den (Liebes-)Dramen der Weißen liegt, so wird hier an den Bildrändern eine gesellschaftliche Gruppe sichtbar, die im Hollywood-Kino zu dieser Zeit unsichtbar ist.

The Apartment von Billy Wilder

The Apartment ist von 1960. Ein Jahr zuvor drehte Douglas Sirk Imitation of Life. Darin geht es um eine nicht mehr ganz junge, aber dem Schönheitsideal der Zeit entsprechende platinblonde Schauspielerin und alleinerziehende Mutter, die sich, mehr oder weniger aufgrund eines Zufalls, eine schwarze Haushälterin und deren sehr hellhäutige Tochter Sarah Jane ins Haus nimmt. Die weiße Frau wird erfolgreich, die „mammy“ opfert sich für Haus und Kinder auf. Vor allem ihre Tochter, die oft für weiß gehalten wird („she’s passing“) macht ihr Sorgen, lehnt sie doch ihre „eigentliche“ (?) Hautfarbe und die damit einhergehenden Repressalien vehement ab. Die Tochter flieht vor ihrer Mutter, wird Revuegirl mit exotischem Touch, but she passes as white. Ihre Mutter stirbt an gebrochenem Herzen, die Beerdigung ist exorbitant bombastisch. Die Tochter bricht am Sarg zusammen und steigt am Ende in das Auto der weißen, blonden Familie (die übrigens auch ihre Problemen hatte). Befreit von ihrer Mammy scheint Sarah Jane in den Kreis der Weißen aufgenommen worden zu sein. Sie blicken nach draußen, wo die Straßen von schwarzen Trauergästen gesäumt sind. Ein bitteres Schlussbild bei Sirk.

Imitation of Life von Douglas Sirk

Susie, Lora und Sarah Jane

Sirks Imitation of Life ist ein Remake in Eastmancolor. Eine frühere Version wurde 1934 von John M. Stahl gedreht. Über Stahl gab es beim Il Cinema Ritrovato eine Retrospektive (und seine Stummfilme werden in Pordenone gezeigt). Claudette Colbert spielt bei Stahl die weiße Lady Beatrice Pullman, Louise Beavers ihre Haushälterin Delilah Johnson und Fredi Washington (die im „Negro Actors Guild“ aktiv gegen Rassismus in Hollywood eintrat) deren Tochter Peola. Hier überwiegen die Erfolgs- und Liebesgeschichten der Weißen hinsichtlich der Screentime das existentielle Drama um den Rassismus noch stärker als bei Sirk. Und gerade deshalb funktioniert Imitation of Life von Stahl so gut.

Es wird offensichtlich, dass die Emanzipations-, Liebes- und Mutter-Tochter-Story der Pullmans, die „Yes-I-Can“ Story der attraktiven, weißen Mittelklasse-Frau ist, die, weil sie jung, attraktiv und in der Folge auch erfolgreich ist, gesehen und respektiert wird. Ja, sie arbeitet zu viel, kümmert sich zu wenig um ihre Tochter und ist mithilfe todschicker Kleidung bemüht, ihre Jugend und Schönheit beizubehalten, um ihre Tochter im Konkurrenzspiel zu besiegen (was ihr scheinbar mühelos gelingt). Doch hinter der neofeministischen Erfolgsstory, oder besser davor, dazwischen und daneben, spielt sich die eigentliche Geschichte ab. Die Geschichte, die bell hooks zu ihrem Text „The Oppositional Gaze: Black female Spectatorship“ inspirierte, der implizit auch eine Abrechnung mit dem Feminismus weißer Mittelklassefrauen ist. (I am one of them, I guess). Was tut Frau, wenn Sie komplett unsichtbar ist, wenn sie nicht einmal Fetischobjekt des patriachalen, weißen Blicks ist, wenn ihre gesamte Screentime darauf reduziert ist, sich mit komischer Stimme und übergewichtigem Körper um weiße Kinder zu kümmern oder als hellhäutige Schwarze gerade noch als exotisierte Sängerin/Tänzerin durchzugehen (was Sirk daraus macht)? Was passiert, wenn man als Zuseherin nur die (fiktiven) Lebenswelten der Weißen sieht, aber niemals etwas, was an die eigene Realität herankommen würde? Dann ist man Beobachterin der Welten, zu denen man keinen Zugang hat. Peola in Stahls Imitation of Life ist eine solche Beobachterin. Sie bemerkt sehr schnell, dass sie als „weißes“ Kind anders und besser behandelt wird denn als „schwarzes“.

Sie wächst mit einer weißen Schwester Jessie auf, die alle Vorzüge einer solchen Sozialisation genießt. Oft wird betont, dass Peola klüger sei, als Jessie. Und oft wird sie mit Bildung assoziiert. Auch der Wunsch der Mutter zu ihrer Herkunft zu stehen, die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten anzunehmen und auf ein College für Schwarze in den Südstaaten zu gehen, scheint ihr abwegig. Ja, sie ist eine gute Schülerin, aber das „passing“ scheint ihr noch immer attraktiver zu sein, als eine Ausbildung an einem all-black southern college. Lieber eine weiße Verkäuferin, als eine schwarze College-Absolventin. Nachdem ihre Mutter gestorben ist, fügt sich Peola schließlich deren Wunsch und kehrt ans College zurück. Das alles erfahren wir nur nebenbei. Es ist, als ob wir uns in einem lauten, aufregenden und mit interessanten Menschen angefüllten Raum befinden, dabei aber die Personen betrachten, die sich im Hintergrund aufhalten. Mehr macht Stahl nicht. Er scheint durch die Mildred-Peirce-Geschichte der Pullmans hindurch zu blicken auf das existentielle Drama von Delilah und Peola Johnson.

Ich habe das als progressiv empfunden. Die Mammy-Figur, die sich den Rassismen fügt, wird ehrenvoll zu Grabe getragen und eine neue Generation von schwarzen Frauen wächst mit dem kritischen Bewusstsein auf, dass sich etwas ändern muss an den Verhältnissen. Ich habe mir vorgestellt, dass Peola eine Karriere als Aktivistin macht, dass sie eine Rosa Parks wird.

Danach ist noch viel passiert, und vieles könnte noch über Imitation of Life oder die zahlreichen anderen Filme geschrieben werden, die ich in Bologna gesehen habe. Doch ich werde nicht der Versuchung verfallen, über Peter Fondas eisblaue Augen zu schreiben. Diesmal bleibe ich beim Schwarz-Weiß-Grau.

Imitation of Life von John M. Stahl

Peola und Jesse

Die Filmstills aus The Apartment stammen aus dem Videoessay „The Apartment (1960), and the Beauty of Anamorphic Black and White“ von Britt Michael Gordon für Frame of Mind: https://www.youtube.com/watch?v=7Lyw_qe6V60.

No Trouble in Paradise: Gedanken zum Il Cinema Ritrovato

Das Il Cinema Ritrovato ist ein angenehmes Festival. Man fühlt sich hier wohl. Genauer gesagt: Man fährt hier nicht zuletzt hin, um sich wohlzufühlen. Im Kino, aber auch außerhalb. Würde das Il Cinema Ritrovato in Grönland stattfinden und nicht in Bologna, würden bestimmt auch einige Menschen kommen. Aber sicherlich weniger mit dem erklärten Ziel, sich wohlzufühlen.

Im Grunde bleibt einem hier gar nichts anderes übrig. Falls man nicht beruflich da ist und sich nicht vom überbordenden Filmprogramm stressen lässt (und auch nicht vom eigenen Leben gestresst wird), drängt sich der Wohlfühlfaktor regelrecht auf. Schon beim Verlassen des Kinos springt einen Entspannung an. Die (manchmal bruzelheiße, aber meist doch eher wohlig warme) Sonne, der schlurfige Rhythmus in den Straßen, das immer mindestens nicht schlechte und auch halbwegs preiswerte Essen, all das trägt bei zu einem Nicht-mehr-groß-Nachdenken über das Wie und Warum des Festivals bei, zu einem Hineingleiten in einen reinen Urlaubs-Modus, also in das, was eine der Schienen hier als „The Cinephile’s Heaven“ umschreibt.

Was ist das für ein Himmel? Was wird hier gezeigt? Alles Mögliche, ist man zunächst geneigt zu sagen. Aber dem ist natürlich nicht so. An Bologna lässt sich ganz gut ablesen, was sich der statistische Durchschnittscinephile von heute so unter angenehmem und schönem Kino vorstellt. Das ist erstmal eines, das tendenziell eher vor 1980 entstanden ist. Oder, besser noch, vor 1960. Zuvorderst liegt der historische Fokus natürlich an den Wurzeln des Festivals in der Archivkultur (und seiner fortwährenden Bedeutung für selbige). Am Impetus, vor allem jenes Kino zu hegen, zu pflegen und hervorzuheben, das ganz akut vom Verschwinden und Vergessen bedroht ist, sprich: Filmgeschichte. Man liest es schon im Titel der Veranstaltung. Nur drängt sich hierbei die Frage auf, ob heutzutage nicht jedes Kino Filmgeschichte ist, auch rezentes und aktuelles, wenn es nicht gerade in den eigentlich sehr, sehr kleinen Kulturkanon integriert wurde, der außerhalb der cinephilen Blase existiert. Und ob dieses Kino nicht ebenso vom Verschwinden und Vergessen bedroht ist wie das von 1910. Nein, höre ich schon die Experten im Kopf! Wird schon stimmen.

Man trifft hier viele gemütliche alte Herren, gechillt vor sich hin trottende Schildkrötenmenschen, freundlich-sympathische Schwelger und Schlemmer. Nicht nur, aber doch. Wenn man nicht aufpasst, wird man Stück für Stück selbst zu einem – denn eigentlich will man es ja. Ein Hauch von Florida liegt in der Luft, von Brighton, von der Côte d’Azur und anderen Enklaven der Behaglichkeit. Nahezu jeder Text, der über das Il Cinema Ritrovato geschrieben wird, dieser eingeschlossen, ist irgendwie auch ein Werbetext.

Natürlich wird hier auch viel gearbeitet, nebenher und zwischendurch. Pläne werden geschmiedet, Abmachungen getroffen, Deals ausgehandelt, Preise verliehen, Retrospektiven konzipiert – über und unter der Hand. Etliche Besucher sind hier nicht nur zum Spaß, denn beim Il Cinema Ritrovato verwaltet sich die Zukunft der Vergangenheit des Kinos. Hier entscheidet sich wahrscheinlich mehr als anderswo, was aus dem bodenlosen Reservoir der Filmhistorie gefischt und in den Kinematheken der Welt zum Trocknen aufgehängt wird.

Wieder stellt sich die Frage: Was genau? Die Antwort scheint im Großen und Ganzen eher weich zu sein. Soll heißen: Klassisch, schön, groß, universell, studioproduziert, national, repräsentativ, zugänglich, eben: angenehm. Wiederum: Nicht nur, aber doch. Unerhörtes ist mir hier bislang nur selten zu Ohren (und Augen) gekommen. Spannendes, Interessantes, Unbekanntes, Berührendes, Beglückendes und Bezauberndes – allemal. Aber kaum etwas, das wirklich befremdet. Das Il Cinema Ritrovato ist kein Hofbauerkongress, kein /Slash-Filmfestival, auch kein Courtisane. Muss es natürlich nicht sein. Aber bei über 400 präsentierten Filmen und einem Ruf, das Festival für Filmgeschichte zu sein, kristallisiert sich hier nach ein paar Besuchen doch ein Bild davon heraus, was von den Entscheidungsträgern mit Handkuss und offenen Armen in selbige aufgenommen wird und was halt ausnahmsweise auch noch rein darf.

Dem kann man natürlich auf vielen Ebenen widersprechen: Kanonisch im strengen Sinne ist ja abseits der großen Restaurierungen doch gar nicht so viel von dem, was hier läuft. Und gezeigt werden ja auch Cinemalibero-Repräsentanten, 68er-Widerstandsfilme, etc. Überhaupt ist die Frage danach, was denn genau transgressiv, aufrüttelnd und radikal ist, eine Angelegenheit der subjektiven Individualerfahrung und des Kontextes, und warum soll nicht auch und gerade ein Melodram von John M. Stahl aus den Dreißigern jener Film sein, der formal wie inhaltlich, wenn man nur ein bisschen genauer hinschaut, alles über den Haufen wirft, Grenzen sprengt und politische Funken sprühen lässt? Stimmt alles.

Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass viele Leute enttäuscht wären, wenn sie hier in einem Jahrgang nur Guy Debord und Glauber Rocha und Ritwik Ghatak vorgesetzt bekämen. Oder nur Maya Deren und Jocelyne Saab. Oder nur Joe D’Amato und Jürgen Enz. Weil das dann doch nicht so recht zum Entspannungscharakter passen will, den das Il Cinema Ritrovato nun mal auch hat. Zur Entspannung gehört nämlich auch ein gewisses Maß an Konsens, und der wird hier sachte, aber doch, auch im Filmhistorischen aufrechterhalten. Natürlich ist es müßig, sich darüber zu beschweren. Aber ganz ausblenden sollte man es nicht.

Denn diese Engführung von Filmgeschichte und Gemütlichkeit, die hier in Bologna gelebt und genossen wird (auch von mir), hat schon etwas leicht Bedenkliches. Klar: Das Politische einer solchen Veranstaltung liegt auch daran, dass sie nicht politisch sein muss. Dass das Kino, ganz gleich welcher Art, hier einfach nur für sich stehen darf. Im Idealfall reist es dann später von Bologna aus in die weite Welt und wirkt dort seine Wunder. Aber müsste es seinen alten, staubigen Mantel dafür nicht schon hier gegen leichte Reisebekleidung tauschen?

Ich meine damit selbstverständlich nicht die fein – oftmals geradezu peinsam fein – rausgeputzten Digitalrestaurierungen, die hier vorgestellt werden und „angegraute“ Filme „zukunftsfit“ machen sollen. Ich meine eher den Zugang, der hier bewusst wie unbewusst zum historischen Kino kultiviert wird und eine gewisse Distanz zur Leinwand und zur Welt befördert. Das Il Cinema Ritrovato, auch das entnimmt sich schon dem Titel der Veranstaltung, ist letztlich eben doch ein Festival der alten Filme.

Das spürt man in den Einführungen und Katalogtexten, bei denen es immer mehr um historische Einbettung und Kontextualisierung geht als um abenteuerliche Interpretationen oder Verknüpfungen mit abgelegenen Gedankenfeldern. Das merkt man am Diskurs, der sich meistens in vom Festival abgesteckten Referenzrahmen bewegt. Auch an den Gästen, die geladen werden, um zu erzählen, wie es damals war. Natürlich gibt es Ausnahmen. Natürlich ist das für sich genommen auch gerechtfertigt und schön. Natürlich liegt die Verantwortung der Vergegenwärtigung nicht zuletzt beim Zuschauer. Dennoch: Im Endeffekt entsteht, bei aller Lebendigkeit auf der Piazza Maggiore, bei allem Enthusiasmus der zahlreichen Besucher, der Eindruck einer schleichenden Musealisierung. Besonders bei den explizit politischen Filmen mutet das seltsam an: Zu Ehren von 1968 wurden hier etwa vor einigen Vorführungen sogenannte Cinétracts aus besagtem Jahr gezeigt, schmissige, heftige, kantige, kluge wie dumme, jedenfalls agitatorische Kinopamphlete, die an die intellektuell wie real umkämpfte Gegenwart der Vergangenheit erinnerten. Ein bisschen wühlten diese circa zweiminütigen filmischen Ausrufezeichen immer auf, weil sie ihre Bedeutung in einem Hier und Jetzt so ausdrucksstark behaupten. Doch der Kontext Bolognas schien mir zuletzt immer mächtiger zu sein. Der Blick ging doch sehr schnell zurück auf: Aha, so war das damals also, das Politisch-Sein im Kino. Wäre es da nicht spannender (und gar nicht mal so festivalzerrüttend arg gewesen), neue Cinétracts in Auftrag zu geben, etwa bei brotlosen, engagierten Filmstudenten, und diese hin und wieder in „historische“ Programme einzustreuen?

Ein frommer Wunsch – diese Art von Intervention würde wohl einfach nicht passen zu diesem Festival. Schon ok, es hat sich andere Ziele gesteckt. Schade nur um das Potenzial: Hier, in Bologna, könnten Vergangenheit und Zukunft des Kinos ebenso verschmelzen wie alle seine bunten Seitenstränge, die schönen und die hässlichen, die angenehmen und die unangenehmen. Der Nährboden wäre da, eigentlich auch das Publikum. Es könnte dabei sogar halbwegs gemütlich bleiben. Nur würde es dann nicht mehr Il Cinema Ritrovato heißen, sondern einfach nur Il Cinema. Keine Sorge: So oder so werden wir nächstes Mal wiederkommen. Zum Wohlfühlen.

Il Cinema Ritrovato 2018: The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

Kenji Mizoguchis The Life of Oharu erinnert an ein tieftrauriges Märchen. Eine Art Mädchen mit den Schwefelhölzern, bloß ohne die Erlösung des Todes. Beide Geschichten handeln von der Art und Weise, wie Menschen über andere urteilen. Doch während das kleine Mädchen bei Hans Christian Andersen von ihrer Großmutter in den Himmel mitgenommen wird, merkt man im Film schon früh, dass Oharu ein solcher Ausweg verwehrt bleibt.

The Life of Oharu erzählt die Geschichte des sozialen Abstiegs der Titelheldin. Zu Beginn wird sie als junge Frau guten Standes präsentiert, die durch Unglück, aber vor allem durch die Herzlosigkeit ihrer Mitmenschen, immer weiter ins Unglück hinabsinkt. Man kommt nicht daran vorbei, sich vorzustellen, dass der Film beispielsweise bei Robert Bresson einen Eindruck hinterlassen haben muss, denn die Figur der Oharu wirkt wie ein menschlicher Balthazar.

Der Film stammt zwar aus Japan, aber beim Sehen musste ich immer wieder ans Christentum denken. Womöglich liegt das an meienr christlichen Erziehung, doch wenn man sich Oharus Geschichte ansieht erkennt man darin eine Leidensgeschichte, wie ich sie sonst eher weniger aus anderen Religionen erkenne. Obwohl Oharu gleich am Anfang des Filmes einen buddhistischen Tempel besucht, ist ihre Geschichte eher eine klassische Passionsgeschichte. Auch die Tatsache, das ausgerechnet die ärmsten Menschen dieser Erzählung, die einzigen sind, die eine Art moralische Reinheit besitzen ist ein Recht christlicher Gedanke. Tatsächlich ist Mizoguchi sowohl in seinem privaten Leben als auch filmisch eng mit dem Christentum und christlichen Bildern in Beziehung (man denke zum Beispiel an die Madonna mit Kind aus Oyuki The Virgin).

Die Tragik und Unschuld der Figur könnten aus einer feministischen Bibelerzählung stammen. Allgemein zieht sich eine spirituelle Atmosphäre durch den Film. Mit Ruhe und Distanz werden tragische Situationen im Film oftmals geradezu kalt beobachtet. Mizoguchi meidet offensichtliche formale Mittel um Emotionen zu erhöhen. Egal wie viel Unglück man sieht und wie viel Zorn dies auslöst, die Kamera fährt nicht in einem dramatischen Track-In auf ein Gesicht zu und es gibt keine sentimentale Musik, um Tränen für Oharu zu motivieren. Stattdessen gibt es meist nur Stille, oder das Wehen des Windes, und eine leicht erhöhte Kameraposition mit der auf alles geblickt wird.

Früh im Film verliert Oharu ihre soziale Stellung, weil sie beim Geschlechtsverkehr mit einem Diener ertappt wird, den sie liebt. Sie wird mit ihren Eltern ins Exil verbannt, während ihr Liebhaber exekutiert wird: Er spricht seine letzten Worte, aber sein Leiden wird beendet. Oharu hingegen muss für dieses Vergehen leiden, sie wird vom Suizid abgehalten. Sie muss mit dieser Schande leben, ohne auf Verständnis zu stoßen. Ständig wird sie an ihre Fehler erinnert. Die letzten Worte ihres Liebhabers ermutigen Oharu, niemals ohne Liebe zu heiraten und auf jeden Fall glücklich zu werden. Man ist verleitet zu glauben, dass Oharu auf den Getöteten hören wird. Doch Mizoguchi ist nicht so sentimental. Und Oharu nicht so stolz und naiv, stattdessen wird sie gebrochen, getreten, geschmäht. Man sieht eine Gesellschaft, die auf schwache Frauen hinabblickt und sich an dieser Machtstellung ergötzt. Mizoguchi klagt diese Gesellschaft zornig an.

The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

Das Tragische an der Figur von Oharu ist jedoch nicht bloß das furchtbare Ausmaß ihres Leidens, sondern der Kontrast zwischen der Art wie sie ist, und der Art, wie sie gesehen wird. Denn hier liegt womöglich die größte Ähnlichkeit zu ihrem tierischen Gegenstück bei Bresson. Wie Balthazar wird Oharu nicht für ihre Vergehen bestraft, sondern von jenen bestraft, welche die eigentlichen Verbrechen begehen. Sie wird durch die Schulden ihrer Familie schnell in die Prostitution gezwungen, in der sie erniedrigt und ständig daran erinnert wird, dass sie gekauft wurde. Sie versucht danach in „anständigeren“ Anstellungen zu arbeiten, doch ihr Ruf ist bereits ruiniert. Ihr unschuldiges Lächeln ist nichts mehr Wert. Die Männer, denen sie begegnet, sehen nicht die die Fröhlichkeit eines jungen Mädchens, sondern das einer versauten Hure. Sie projizieren ihre lüsternen Gedanken auf Oharu, die dann durch Geld oder Gewalt dazu gezwungen wird, diese Gedanken und Fantasien zu Wirklichkeit zu machen. Aber Oharu muss für dieses Verhalten der Männer büßen. Sie ist diejenige, die wiederholt entlassen wird, sich nicht mehr zeigen darf. Sie muss die Scham einer verklemmten Gesellschaft ausbaden, die sich ihre Sexualität nicht erlauben will.

Nur sind es nicht nur die Männer, unter denen Oharu leidet, die Frauen sind ebenso bösartig. Sobald Oharus Vergangenheit ans Licht kommt, wird ihr unterstellt, sie wolle Ehemänner verführen und ausspannen. Nach langem Leiden entschließt Oharu sich, jeglichen irdischen Gelüsten und Wünschen völlig zu entsagen und tritt ins Kloster ein. Doch auch dort währt die Ruhe nicht lange. Oharu trifft einen alten „Freund“ wieder. Dieser zwingt sie gewaltvoll zum Sex und wird dabei von einer Nonne ertappt. Er kann fliehen und wird die Konsequenzen niemals spüren, doch Oharu (von der man nur den Schatten sieht) bleibt beschämt sitzen, mit gesenktem Haupt. Sie bittet die Nonne um Vergebung, erklärt, dass er sie überwältigt habe, doch auch die Nonne zeigt kein Verständnis. In Mizoguchis Augen sind auch die Gottesdiener um keinen Deut besser, vielleicht sogar noch schändlicher. Jene, die Oharu ausnutzen und dann wegschmeißen, tun zumindest nicht so, als ob ihnen am Wohl anderer etwas liegen würde. Die Nonne sieht in Oharu lediglich jemanden, der seinen sexuellen Begierden nachgeben darf, während sie nicht kann – dafür muss sie büßen.

Dabei wird der sexuelle Akt in diesem Film nie gezeigt, nicht einmal ein Kuss. Jegliche „Unreinheit“ existiert nur in den Gedanken der Menschen. Wie oft bei Mizoguchi geht es um das Leiden von Frauen, die in der Sexindustire arbeiten (z.B. Sisters of Gion, Streets of Shame). Der eigentliche Akt wird jedoch nie dargestellt. Nicht dass Oharu unglaublich prüde wäre. Sie scheint ihre Sexualität ab und an durchaus zu genießen. In einer Episode des Filmes wird sie an einen Hof geholt um dem Herrscher einen Nachfolger zu gebären, da dessen Frau unfruchtbar ist. Sie tut dies, doch der Mann will sie darüber hinaus in seinem Bett behalten. Schließlich wird sie auf Rat eines Arztes aus dem Hof verbannt, da dieser meint, der Herrscher könne sterben, wenn er Oharu weiterhin jede Nacht so intensiv liebt.

The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

Obwohl sich der Film recht einfach als eine Art Passionsgeschichte einer heiligen Hure auslegen ließe, wäre eine solche Interpretation zu einfach. Ganz am Ende ihres Leidensweges ist Oharu um die Fünfzig und arbeitet als Straßenprostituierte. So versucht sie sich etwas Geld zu verdienen, stellt aber schnell fest, dass das in ihrem Alter eher schwer ist. Sie verdeckt ihr Gesicht, verstellt ihre Stimme, um jünger zu wirken, wird jedoch immer wieder entlarvt und verspottet. Als sie endlich einen Kunden für sich gewinnt, nimmt dieser sie mit, um sie anderen Männern vorzuführen und als „alte Hexe“ zu bezeichnen, eine Bezeichnung, die sie im Film schon öfter zu hören bekommen hat.

Und wenn Oharu keine Hexe ist, wie behauptet wird, dann lastet doch der Fluch einer Hexe auf ihr. Denn in den seltenen Fällen, in denen Männer Oharu tatsächlich helfen wollen, sterben sie kurz darauf. Anfangs ist es der Diener, der sie liebt. Nach langem Leidensweg ist es ein Fächerverkäufer, der sie heiratet, um ihr Leben etwas zu verbessern. Zuletzt kommt noch ein ehemaliger Bekannter hinzu. Er ist ein hässlicher Mann, der sich schon lange für Oharu interessiert hat. Sie hat lange Jahre kein Interesse an ihm, aber nachdem sie abermals eine Anstellung verliert und er zeitgleich ebenfalls, nimmt er sie mit sich um zu fliehen und sich, mit gestohlenem Geld, irgendwo ein besseres Leben zu machen. Oharu lehnt das zuerst ab, doch schließlich gibt sie klein bei. Jegliche Hoffnungen, die es anfangs vielleicht noch gab – auf wahre Liebe oder einen guten Mann – sind dahin.

All dies wird von Mizoguchi in völliger Ruhe erzählt und der Film macht noch um einiges zorniger, weil die Form so streng ist. Lange, präzise, aber dadurch auch irgendwie unmenschliche Kamerafahrten fangen das Geschehen ein. Oftmals nimmt die Kamera die Perspektive einer göttlichen Instanz ein, die mit Oharu fühlt, sich aber nicht einmischt. Mizoguchi begreift, dass seine Aufgabe vielmehr darin besteht, dieses Leid zu dokumentieren und uns wie einen Spiegel vorzuhalten, anstatt sich einzumischen und Gnade walten zu lassen. In der Folge führen die Kamerafahrten wiederholt auch herab, bewegen sich hinunter auf Oharus Höhe. An sich keine besonders auffällige Geste, die zudem so flüssig passiert, dass sie kaum bemerkbar ist. Aber wahrscheinlich das stärkste Mittel in Mizoguchis filmischem Handwerkskasten. Der Regisseur und das Publikum werden so von höheren Instanzen zu den einzigen Genossen, die Oharu hat. So wird der Film doch noch zu etwas mehr, als einer kalten Beobachtung des Leides und all dies nur mit einer Bewegung der Kamera.

Il Cinema Ritrovato 2018: La Ragazza in Vetrina von Luciano Emmer

La ragazza in vetrina von Luciano Emmer

Andrey Arnold: Der Film, auf den sich beim heurigen Il Cinema Ritrovato alle einigen konnten, schien Luciano Emmers La Ragazza in Vetrina zu sein. Fraglos wird es Menschen geben, die mir widersprechen würden, aber die Empfehlungen, die ich in Bezug auf diesen Film erhielt, waren zahlreich und kamen aus unterschiedlichsten Ecken. Es ist ein Film, der zur Zeit seiner Veröffentlichung aufgrund moralischer (viele meinen: politischer) Einwände zensiert wurde, was den Regisseur seiner Profession entfremdete (sprich: in die Werbung trieb). Erst vierzig Jahre später kam er in unverfälschter Vollständigkeit zur Aufführung. Er handelt von zwei italienischen Gastarbeitern in Holland, die für ein Vergnügungswochenende nach Amsterdam fahren, der Stadt, in der du dich gerade aufhältst. Siehst du die Stadt dank des Films mit anderen Augen?

Valerie Dirk: Ja, hier gibt’s Frauen in Schaufenstern. Überhaupt scheint die ganze Stadt ein einziges Schaufenster zu sein. Nur der Müll in den Kanälen lässt einen erahnen, dass das Ganze nicht nur polierte Oberfläche ist. Ai, Amsterdam! Aber um genauer auf deine Frage einzugehen. Ich selbst habe eine durchzecht Nacht hinter mir, und mir fiel vor allem die Abwesenheit jeglicher Lino-Ventura-Typen auf. Also brummige und machoide Männer mittleren Alters, die – wie man so schön sagt – das Herz am rechten Fleck haben. Die Stadt scheint seltsam jung, die Abwesenheit älterer Menschen fällt geradezu unangenehm auf. Wie hast du Federico (Lino Ventura), den Mentoren und väterlichen Freund Vincenzos (Bernard Fresson) wahrgenommen?

AA: Das ist natürlich ein ganz tolles Figuren- und Schauspieler-Duo. Die beiden sind ja schon Charakterköpfe, aber darob keine bloßen Typen. Ventura gibt den alten Haudegen und Hundianer, laut und aufbrausend, immer am Reden, am Gestikulieren und Sich-Produzieren. Sein Lebenshunger ist groß, fast schon an der Grenze zur Verzweiflung. Auch, weil er schon spürt, dass das mit dem Leben nicht ewig währt. Und weil er meint, die Weisheit des Alltags mit Löffeln gefressen zu haben, nimmt er den jüngeren Kumpel unter seine Fittiche, um ihm ganz jovial zu zeigen, wo der Bauer den Most holt (und der Mann sich seine Frauen). Schon, weil er ihn mag, aber auch, weil es ihm das Gefühl gibt, wer zu sein. Ventura spielt das super, dieses Immer-Etwas-Übers-Ziel-Hinausschießen, das Den-Mund-Immer-Etwas-Zu-Voll-Nehmen, weil er es immer auch ein bisserl zu bemerken scheint – und weil sein zuviel nicht nur lächerlich, sondern auch ansteckend ist. Vincenzo hingegen ist vom Typ her eher ein schüchterner Adlatus, still und zurückhaltend, aber dann eben doch nicht so naiv, wie er vielleicht zunächst wirkt, jedenfalls lernfähig und auf der Suche nach Unabhängigkeit. Wären die Figuren nur einen Deut eindimensionaler, wäre der ganze Film wohl eine (lustige) Schmierenkomödie geworden, so ist er mehr Comédie humaine. Ein indirekter Nachfolger dieses Films scheint mir übrigens Ulrich Seidls Import Export zu sein. Hast du den gesehen?

VD: Nein, leider nicht. Aber die Ausschnitte und IMDb-Kommentare verraten, dass es sich wohl um ein perfektes Trouble Feature handeln würde, da sich die Filme stilistisch, formal und auch ideologisch zu reiben scheinen, wohingegen die Themen Gastarbeit und Sexarbeit die gleichen sind. Apropos Arbeitswelten: Ich war ziemlich von der Inszenierung der bedrückenden, engen, erstickenden und dunklen Schachtarbeit beeindruckt. Hier hat der Film als Erfahrungsmodus, der eben diese Arbeitsverhältnisse in ihrer Bedrückung erfahrbar macht, total gut funktioniert. Und durch das Fenster mit Tageslicht, dass sich „Vertigo“-mäßig (ohne Effekt) beim Hinabfahren in den Schacht (über 1000 m!) entfernt, ergibt sich auch ein Konnex zur Arbeitsrealität der Prostituierten in Amsterdam, die sich eben in einer solchen Vitrine wie Waren verfügbar machen. Das Fenster-Tageslicht, das nach dem Unfall wieder näher rückt, und die ersehnten Fenster, in denen sich die Frauen ausstellen, bilden hier eine Brücke, die womöglich anzeigt, wie sehr die Arbeitsrealität der Arbeiter von einer „unkonsumierbaren“ Freizeit entfernt sind. Ebenso wie die Frauen zu Waren in Schaufenstern werden, wird es die Wirklichkeit. Außerdem wird die Arbeit der Minenarbeiter mit der der Sexarbeiter*innen zusammen gedacht. Sonntag ist frei und unter der Woche arbeiten beide unter äußerst schwierigen und gefährlichen Umständen Schicht. Wie hast du die Arbeitswelten wahrgenommen? Waren sie für dich dominant oder hat dich die zwischenmenschliche Storyline mehr gefesselt? P.S.: Danke übrigens für deine präzise Beschreibung der zwei Protagonisten, von einer „Schmierenkomödie“ wäre der Film aber meiner Meinung nach, selbst wenn die Figuren schematischer wären, meilenweit entfernt!!

AA: Das mit der Schmierenkomödie war gar nicht bös gemeint (daher auch der Zusatz „lustig“). Ich fand nur, dass sich auch ein sehr viel klamaukigerer Film mit nahezu identischem Plot denken ließe, vielleicht mit Totò in der Rolle Venturas. Der wär dann sicher gar nicht so viel schlechter, aber doch anders. Dass La Ragazza in Vetrina stellenweise ziemlich lustig ist, zählt zu seinen größten Stärken. Emmer war davor ja, wenn ich mich nicht irre, vornehmlich auf Komödien abonniert. Liest man unsere bisherigen Ausführungen, stellt man sich den Film womöglich ziemlich hart vor. Und das ist er auch – aber diese Härte fühlt sich weicher an, als sie ist, weil der Film so überschäumt vor Menschlichkeit. Was genau das heißt, wäre für mich die entscheidende Frage. Es hat auf jeden Fall damit zu tun, dass die Arbeits- (und Freizeit-)welten und die Beziehungen zwischen den Figuren eben nie wirklich getrennt gedacht werden. Das eine wirkt auf das andere und vice versa. Das „Menschliche“ liegt für mich auch in der Art, wie die Figuren unter ärgsten Bedingung (die vom Film, wie du ja schon gesagt hast, sehr eindrücklich vermittelt werden, auch ästhetisch über Otello Martellis großartig raue Schwarz-Weiß-Aufnahmen) ihren Humor nicht verlieren, im Schacht Witze reißen, sich nach einem Grubenunglück mit Liedern bei Überlebenslaune halten etc. Zudem in ihrer Impulshaftigkeit auf der Pirsch in Amsterdam, in ihren Patzern und Fehltritten. In ihrer Eigennützigkeit, die hin und wieder von Großmut und Liebebedürfnis durchkreuzt wird. Und nicht zuletzt, und das hat jetzt nicht unbedingt mit den Figuren zu tun, im Reichtum der Realität im Bild, dem wuselnden Vergnügungsviertel Amsterdams. Genau wie in der Mine hat man den Eindruck, die Schauspieler hätten sich da einfach ins echte Getümmel geschmissen – auch wenn es dort in Wahrheit sicher noch viel wilder zugeht. Siehst du das ähnlich?

VD: Ich denke, das Herzliche, Humorvolle und Klamaukige, das unzweifelhaft in den Filmen enthalten ist, in Kombination mit den absolut harten und nicht weichgezeichneten Arbeitsrealitäten und dem Gewusel an den Originalschauplätzen, dass eben genau das den neorealismo rosa ausmacht. Emmer gilt ja als einer der wichtigsten Regisseure dieser Mischform aus Komödie und Neorealismus. Was ich aber neben dem Humor am interessantesten fand, waren die beständigen Verständigungs- und Verständnisprobleme zwischen den Protagonist*innen. Zum einen die Sprachbarriere zwischen Niederländisch und Italienisch, zu einer Zeit als Englisch keine Option zu sein schien. Zum anderen die Verständigungsprobleme zwischen Federico und seiner Freundin, die wirklich nah am Slapstick entlangschrammen, aber dann doch etwas ganz Existentielles bekommen: Der Wunsch nach Anerkennung trotz der Profession (Prostituierte) und die Liebe für jemanden, der ja eigentlich ein Trottel ist – allerdings ein herzensguter. Soviel zu Federico / Ventura und seiner Chanel / Magali Noel, welche mit ihrem aufbrausenden Temperament die Schaufenster Amsterdams italienisch ausschmücken. Auch schön, wenn man sieht, wie die niederländischen Komparsen darauf reagieren… amüsiert witzelnd. Das Setting, Wuseln und Co. wirkt sehr authentisch – aber auch wie die perfekte Kulisse für das italienische Gastarbeiterspiel. Es ist spät und mir fällt grad keine Frage mehr ein… Vielleicht diese: Warum konnten sich wohl alle auf diesen Film einigen?

AA: Ich nehme an, es hat mit all den Dingen zu tun, die wir hier angeführt haben. Mit geht es jedenfalls so, dass ich bei keinem anderen Film in Bologna (auch wenn mir andere ebenso gut gefallen haben) so stark und auch schmerzlich gespürt habe, dass es diese Art von Kino heute nicht mehr gibt. Also ein Kino, das genuin populär, humorvoll und unterhaltsam, famos gespielt und präzise inszeniert, formal ausdrucksstark und zum Experiment bereit, erzählerisch zwanglos und frei, überdies dokumentarisch, getränkt in zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, authentisch und unsentimental in seinem Menschenbild sowie ganz selbstverständlich politisch ist. Es gibt heute zwar immer wieder Filme, die diese Ansprüche zum Teil erfüllen, aber kaum je vergleichbar gestandene Volltreffer. Vielleicht, weil die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Filme heute entstehen, und die Erwartungshaltungen, die mit diesen Zusammenhängen einhergehen, immer irgendwelche Grenzen ziehen und Wege vorgeben. Andererseits: Auch gegen Emmers Film gab es, wie bereits erwähnt, einst vehementen (Zensur-)Widerstand. Dass es ihn trotzdem gibt, dass er heute trotzdem in seiner Ursprungsfassung sichtbar werden kann, sollte zeitgenössischen Filmemachern Mut machen.