Surrealismus und Soju: Hong Sang-soo

Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den ich zum Anlass von Hong Sang-soo-Retrospektiven in Bern, Basel und Nürnberg halten durfte.

Hong Sang-soo ist ein wichtiger Filmemacher. Das heißt, er ist wichtig für mich. Warum das so ist, kann man gar nicht so leicht sagen. Man rudert mit den Armen, wiederholt, was man gesehen hat, versucht zu verstehen. Oder man schreibt es auf. Das ist, was ich versuchen möchte. Ich strukturiere den Text in Kapiteln. Vielleicht weil der Südkoreaner seine Filme auch gern klar strukturiert. Wie er es manchmal tut, möchte ich auch mit einem Prolog beginnen.

Prolog: Soju

Eine Retrospektive zum Kino von Hong Sang-soo in der Schweiz (kuratiert von Beat Schneider) trug den Titel „Trinken, reden, lieben“. Die Verben treffen ziemlich genau den Kern des Schaffens von Hong, die Reihenfolge nicht unbedingt. „Lieben, trinken, reden“ wäre ein Vorschlag, aber viel eher wäre es wohl „Trinken, reden, trinken, lieben, trinken, trinken“. Das hat viel mit Soju zu tun. Wie der Whiskey bei John Ford oder der Sake bei Ozu ist dieses südkoreanische Nationalgesöff weit mehr, als ein Requisit bei Hong. Es ist alles, was man in Drehbuchseminaren lernt in einem Objekt: Plot Point, Nebenfigur, Motivation, Challenge, Deus Ex Machina und Love Interest. Zuvor ist Soju aber der bestverkaufte Schnaps der Welt. Das liegt auch am billigen Preis und den schrillen Werbungen mit Prominenten Südkoreas wie Herrn Gangman Style Psy. In verschiedenen Statistiken führt Südkorea daher auch, wenn es um den Spirituosenverkauf pro Kopf geht. Die kapitalistische Effizienz verkauft ihr Gegengewicht. Flaschenweise wird das Getränk gekippt bei Hong (es sei angemerkt, dass auch Bier, Whiskey oder Wein getrunken werden). Der Soju bei Hong nährt den Verdacht, dass alle großen Filmemacher ein Bündnis mit dem Alkohol eingehen. Privat oder in den Filmen, meist beides zugleich. Seit dem 14. Jahrhundert wird das Getränk aus Reis destilliert. Man kann es auch anders gewinnen, aber man sagt mir, dass nur aus Reis gewonnener Soju von Wert ist. Ich kenne mich damit nicht aus und ahne, dass Soju nicht der Grund ist, warum mir Hong gefällt.

Meist wird Soju bei Hong am Tisch inszeniert. Es heißt, man erkenne große Filmemacher, an der Art und Weise, in der sie Tischszenen inszenierten. Hong führt dieses Prinzip beinahe ad absurdum, denn in seinem Kino gibt es derart viele Tischszenen, dass man weder deren Qualität noch die Anzahl an leergetrunkenen Flaschen zählen oder gar bewerten könnte. Es muss etwas Anderes sein, dass Hong zu einem so außergewöhnlichen Filmemacher macht. Es hat zu tun mit dieser Mischung aus Begehren, Entfremdung, Albernheit, Zärtlichkeit, Widerlichkeit und Peinlichkeit, die sein Kino beseelt. Ein Kino, das sich mit dem ganzen Spektrum menschlicher und vor allem männlicher Zulänglichkeiten und vor allem Unzulänglichkeiten befasst.

1 Fremdheit

Bei Hong ist selten wer zuhause. Meistens suchen sich die Menschen mehr, als dass sie sich finden. Meine erste Begegnung mit seinen Filmen war Night and Day. Der Film folgt dem Künstler Kim Sung-nam nach Paris. Er ist mehr oder weniger auf der Flucht vor Südkorea, einer drohenden Verhaftung wegen Marihuana-Besitz, seiner Ehefrau. Langsam und ungeschickt findet er sich in Paris zurecht. Ein Film wie der diesjährige Berlinale-Gewinner Synonymes von Nadav Lapid ist da nicht so weit entfernt. Hier wie dort wird verhandelt, wer man ist und wer man sein könnte. Die Antworten sind fließend. Es sind oft Künstler, meist Filmemacher, die im Zentrum von Hongs Filmen stehen, trinken, lieben und driften. Sie haben Dates, besuchen Freunde und Ex-Freunde, landen in überraschenden Situationen immerzu angetrieben vom Potenzial einer menschlichen Nähe.

Hong selbst ist ein bisschen ein Reisender, ein Außenseiter. Das beginnt bereits mit seinem Werdegang. Er erzählt gern, dass er gelangweilt in der Fotoklasse der Kunstschule in Seoul gesessen habe. Dort habe er aus dem Fenster geblickt und einige Kollegen aus der Filmklasse auf der Straße einen Film drehen sehen. Er sei zu ihnen gegangen und ehe er sich versah, wäre er in der Filmklasse gelandet. Dort habe es ihm aber nicht gefallen. Ohne sich genau zu erinnern wie, habe er plötzlich Kunst in Chicago studiert. Alles was in seinem Leben passiere, passiere zufällig, sagte er einmal. Diese Beobachtung trifft auch auf seine Filme zu. Fredi M. Murer hat einmal auf die Frage nach seinem Berufswunsch entgegnet: „Ich möchte ein Fremder sein.“. Hong hat Murers Traumberuf gefunden.

Die Protagonisten treffen nicht wirklich Entscheidungen. Es herrscht ein treibendes Passivitätsgefühl, ein konstantes Missverstehen und in meiner ersten Begegnung mit Hong fand ich mich darin wieder. Statt zu entscheiden, wundert man sich und ehe man sich arrangiert, ist die nächste Situation schon hinfortgespült. Entscheidend in der Welt von Hong ist daher auch das, was man als Missverstehen bezeichnen könnte, auch wenn es häufiger unter dem Begriff der Kommunikation läuft.

Kommunikation, die Sprache an sich meint. In Filmen wie In another country, Night and Day oder On the Beach at Night Alone werden Südkoreaner mit Fremdsprachen konfrontiert und andersherum. Es entsteht ein Vakuum des Nicht-Verstehens, der versuchten Übersetzung von einer Sprache in die andere. Leerlaufende Bemühungen, Hilflosigkeit, ungelenkes Begehren. Die Sprache ist ein Hindernis. Sie kommt zu schnell, zu laut aus den Betrunkenen, zu durchschaubar aus den Stolzen, zu banal aus den Schüchternen. Mindestens genauso oft wie die Figuren an Tischen miteinander sprechen, telefonieren sie. Es gibt keinen Filmemacher in der Geschichte des Kinos, bei dem so viel telefoniert wird wie bei Hong. Sprache und Kommunikation dekonstruieren sich noch viel schärfer, wenn man sie durch ein Gerät hört und einem Menschen dabei zusieht wie er in dieses Gerät spricht.

Die Antwort auf diese Entfremdungen bei Hong ist nun aber keine existenzialistische oder spirituelle Krise, zumindest nicht auf den ersten Blick, sondern vielmehr ein banales Schulterzucken und die Frage: Was soll man schon tun im Angesicht der Sinnlosigkeit?

2 Vertrauen

Nun begegnet man diesem Fremden, aber immer wieder. Wie oft kann man einem Fremden begegnen, ohne dass es vertraut wird? Hong, von dem es 2019 tatsächlich keinen neuen Film zu sehen gab, dreht in der Regel 2-4 Filme pro Jahr. Man hat das Gefühl, dass er filmt, um zu überleben. Nicht ganz so destruktiv wie Fassbinder, aber ähnlich obsessiv. Sein Stil ist hochgradig wiedererkennbar, böse Zungen behaupten, er drehe immer den gleichen Film. Das liegt auch daran, dass bestimmte Merkmale gleich bleiben. Zum Beispiel seine Schwenks oder die von Laien als wenig professionell empfundenen flache Bilder oder Zooms, die er seit seinem siebten Film Woman on the Beach einsetzt. Dazu noch eine betuliche oder klassische Musik, die vielen Tischszenen und ähnliche Figuren, Konstellationen und Motive, ja selbst die Titel scheinen immer die gleichen zu sein. Das geht bei Right Now, Wrong Then so weit, dass er zu Beginn des Films seinen eigenen Titel bricht und mit „Right Then, Wrong Now“ startet ehe in der Mitte des Films der eigentliche Titel zum Tragen kommt. Weniger böse Zungen sagen, dass Hong besser wird, je öfter man ihn sieht.

Diese weniger bösen Zungen leben auf Festivals. Sie sehen meist viele Filme und wundern sich, warum Hong, der eigentlich vieles mitbringt, was man von einem massentauglichen Kino erwartet (Sex, Humor, Identifikation), ebendort nicht ankommt. Hong ist ein Festivaldarling. Er bekommt Preise auf Festivals, deren künstlerische Leiter in seinen Filmen spielen. Man kann mit ihm abhängen und Soju trinken, so ein Fremder ist er nicht. Er ist auch ein Filmemacher für Filmemacher. Man spricht über ihn, die cinephile Welt, die sich sowieso so gerne teilt, teilt sich in jene, die eingeweiht sind in Hong und jene, die es nicht sind. Die Retrospektiven seiner Arbeit, die ich besuchen durfte, waren allesamt eher schlecht besucht. Dabei ist sein Kino nicht (wie man so schön in Fachzeitschriften formuliert) sperrig oder intellektuell abgehoben. Im Endeffekt geht es um Beziehungen, um Leidenschaften. Das Tal, das zwischen dem Hong der Filmfestivals und dem Hong des regulären Kinos zu durchqueren ist, beschreibt den Status Quo des Kinos.

3 Variation

Man sagt, dass Hong in seiner Zeit in Chicago immer Robert Bressons Notizen zum Kinematographen in der Jackentasche getragen habe. In diesem Buch, das von vielen Filmemachern instrumentalisiert wurde, steht der Aphorismus: „Ändere nichts und mache alles verschieden.“. Dieser Satz trifft ziemlich genau zu, auf das, was Hong wirklich macht. Vom Immergleichen zu sprechen, greift entscheidend zu kurz. Seine Liebes- und Triebgeschichten verändern sich, seine Erinnerungslücken treten in unterschiedlichen Erscheinungen auf und verändern, das was gesehen und das was erwartet wird. Mit den Erwartungen spielt er sowieso. Sein Insider-Humor hat wiederum mit seiner elitären Festivalexistenz zu tun. Er selbst bringt es auf den Punkt: „Nicht viele Menschen haben meine Filme gesehen.“. Daraus gewinnt Hong, wie aus so vielem, Freiheit. Es gibt auch klare Entwicklungen in seinem Kino. So hat sich seine Darstellung von Sex verändert. In seinen frühen Filmen zeigte er den Geschlechtsakt recht explizit, heute begnügt er sich meist mit Andeutungen. Außerdem hat er seinen Prozess verändert, schreibt keine wirklichen Drehbücher mehr. Das merkt man.

Sein Kino scheint eng mit seinem Leben verknüpft. Er schreibt eine fiktionale Autobiografie, an der die Verbindung zum Leben gleichermaßen entscheidend und unerheblich ist. Wie ein Mensch bleiben seine Filme immer gleich und verändern sich dauernd. Neben Bresson verehrt Hong auch einen weiteren Meister der Variation, Paul Cézanne. Dieser folgte dem Motto, sich Dinge so ansehen zu wollen, wie sie sind. Das trifft auch auf Hong zu. Der Blick auf ein Gesicht ist unverstellt. Die Variation liegt in der Empfindung des Sehenden, im Ausdruck der Betrachteten, im Licht, im Rhythmus, im Zufall.

Im wissenschaftlich umstrittenen und teilweise fiktionalen (und gerade deshalb so wertvollen) Gespräch, das Joachim Gasquet mit Cézanne geführt hat, äußert sich der Maler wie folgt: „Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muss ihr die Erschütterung der Dauer geben, mit den Elementen und der Erscheinung all ihrer Veränderungen. Die Kunst muss ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen. Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles, verstehen Sie? Also verschränke ich diese umherirrenden Hände. Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen…Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne dass ich daran denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert. Wenn diese Massen, diese Gewichte auf meiner Leinwand, in meiner Empfindung den Plänen, den Flecken entsprechen, die mir gegeben sind, die wir da vor unseren Augen haben, gut, meine Leinwand verschränkt die Hände. Sie wankt nicht. Sie greift nicht zu hoch und nicht zu tief. Sie ist wahr, sie ist dicht, sie ist voll…Aber wenn ich die geringste Ablenkung habe, die leiseste Schwäche fühle, besonders wenn ich einmal zu viel hineindeute, wenn mich heute eine Theorie fortreißt, die der von gestern widerspricht, wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, päng, dann entwischt alles.“

4 Prozess

Hong denkt nicht, wenn er Filme dreht. Zumindest arbeitet er, um nicht denken zu müssen. Ein Film beginnt bei ihm mit Spaziergängen und Ausflügen. Er findet Locations, die ihn zu Darstellern inspirieren oder andersherum. Er hat keine Geschichte im Kopf, keine Bilder. Zu Beginn seiner Karriere schrieb er noch Drehbücher. Heute versucht er so wenig wie möglich schriftlich festzuhalten. Hong sucht nach größtmöglicher Freiheit. Findet er eine Straßenecke oder ein Pub, die ihm gefallen, holt er sich eine Dreherlaubnis. Einem Restaurantbesitzer etwa sagt er, dass er in einigen Wochen zwei- oder dreimal kommen würde und erst einen Tag vorher Bescheid geben könne. Mit den Darstellern arbeitet er in ähnlicher Ungewissheit. Man trifft sich einige Male, spricht, diskutiert. Einen Film gibt es nicht, es geht um alles außer den Film, den man zusammen drehen wird. Manchmal trifft Hong Schauspieler, die dann nur in einer Szene vorkommen. Andere werden plötzlich zu Protagonisten. Es gibt keine Hintergrundgeschichten für sie, keine psychologischen Motivationen. Nach einigen Wochen geht es dann los. Hong steht früh am Morgen auf und schreibt in einer Art Écriture automatique drei oder vier Szenen nieder. Dabei lässt er sich von seinem eigenen Leben, dem Leben der Schauspieler und Literatur, die er gerade liest, beeinflussen. Die Darsteller bekommen ein bis zwei Stunden um den Text zu lernen, dann wird geprobt. Hong schaut sich die Probe an und greift möglichst wenig ein. Mit dem ersten Take findet er die Kameraeinstellungen. Er steht hinter seinem Kameramann und tippt diesem für Richtungen oder Schwenks auf die Schulter. Im Durchschnitt dreht er eine Einstellung in acht Takes. Dann geht es weiter. So läuft das über Tage oder Wochen und an einem Morgen weiß Hong, dass es nun vorbei ist. Als er bei einer Retrospektive in New York gefragt würde, wie lange er an einem Film schneide und er ernst entgegnete: „Einen Tag.“, erntete er schallendes Gelächter. 95 % dessen, was er drehen würde, lande auch im fertigen Film.

Hong, der eine Zeit lang an einer Filmschule unterrichtete und dort auf die Ressourcen (und Studenten) für seine Filmarbeit zurückgriff, arbeitet enorm ökonomisch und effizient. Sein Prozess ist einer, der nach Freiheit sucht und diese gefunden hat.

5 Scham

Nun gibt es Filmemacher, bei denen erkennt man sich selbst auf der Leinwand. Hong aber ist ein Filmemacher, bei dem erwischt man sich selbst auf der Leinwand. Das gilt vor allem in Fragen der Männlichkeit, denn kaum wer legt derart schonungslos männliche Eitelkeit und Macho-Denkweisen offen wie Hong. In seinen Filmen entsteht eine dringliche Ambivalenz zwischen Schamgefühlen und Humor. Man lacht auch, um zu bedecken, was allzu nackt vor einem liegt. Jacques Aumont hat im Zusammenhang mit Hong von einer Idiotie geschrieben. Diese meint nicht nur, dass es dort so manchen Idioten in den Filmen gibt, sondern viel größer gedacht, dass Idiotie ein ambivalent im Menschen verankertes Verhaltensmuster ist und Hong genau diese Muster untersucht. Ein Tierfilm, in dem man das Paarungsverhalten eines Vogels sieht, hat Ähnlichkeiten mit manchen Szenen von Hong.

In meinen Augen ist Hong auch ein feministischer Filmemacher. Zwar blickt er ganz klar mit den Augen der Männlichkeit auf die Welt und auch auf die Frauen in seinen Filmen, aber dieser Blick wird derart präzise ausgestellt und betont, dass man gar nicht anders kann, als zu bemerken, wie Frauen deshalb auf Männer blicken müssen. Elissa Suh hat bei Mubi Notebook ( https://mubi.com/notebook/posts/when-hong-sang-soo-pays-you-a-compliment) zum Beispiel über die Komplimente bei Hong nachgedacht. Im Lauf seiner Karriere sind die weiblichen Figuren wichtiger geworden bei Hong. Das liegt auch an Kim Min-hee, die in sechs seiner Filme die Hauptrolle übernahm. Die inzwischen aufgelöste private Beziehung zu ihr verursachte einen Skandal in Südkorea. Im Kino war ihr Einfluss spürbar, die Traumwelten konnten auch weiblich sein, das Begehren wurden gegenseitiger.

Trotzdem bleiben die Frauen bei Hong oftmals ein obskures Objekt der Begierde, um den einen Filmtitel zu nennen, der als einziger genauso passend auf die gesamte Filmographie Hongs anwendbar ist wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

6 Surrealismus

Wer jetzt allerdings glaubt, Hong sei ein realitätsnaher Analytiker menschlicher Beziehungen à la Éric Rohmer, irrt sich. Eigentlich irrt man schon, wenn man glaubt, Hong überhaupt verstehen zu können. In all seinen Filmen gibt es mehr als eine Realitätsebene. Lücken, Ellipsen, Gedächtnisschwund sowie merkwürdiges, bisweilen unerklärliches Verhalten ist integraler Bestandteil eines Tages im Leben eines Hong-protagonisten. Immer wieder stellt sich die Frage, ob alles nur im Trunkenheitsrausch geschehe oder gar nur erträumt wurde. Hong ist ein Liebhaber der Fiktion, nichts bleibt sicher. Zeitschleifen, Verwechslungen und Doppelgänger heben Chronologie und Identifikation aus den Angeln.

Geprägt vom Zufall, die nicht erst seit einem berühmten Würfelwurf eine Kategorie des Surrealismus ist, macht Hong ein Kino der Spleens. Objekte und Szenen tauchen bei ihm wieder und wieder auf, sie fordern das heraus was ist und was sein könnte und was sein würde sowieso. Es würde sich ein Trinkspiel (mit Soju zweifellos) anbieten. Zum Beispiel immer dann, wenn man eine Zigarette sieht oder jemand nach einer Zigarette fragt. Oder wenn Menschen auf Fahrrädern durch das Bild fahren, vor allem solche, die nichts mit der Szene zu tun haben. Oder wenn Frauen die Natur berühren, etwa mit ihrer Hand einen Busch streifen oder mit den Fingerspitzen Schnee berühren. Oder wenn Figuren an Tischen sitzend einschlafen. Man findet etwas bei Hong oder man findet nichts.

Wenn ich eines von ihm lerne, dann das es für bestimmte Dinge keinen Grund gibt. Sie sind einfach.

Am Dienstag, den 17. September um 20:15 Uhr zeigen wir im Rahmen unserer Reihe „Hidden Smiles“ In another country von Hong-Sang-soo.

Filmfest Hamburg 2015: Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo

Eine ausführlichere Variante dieses Textes erscheint auf kino-zeit.de

Das konstante Gefühl eines Missverstehens, eines Missverständnisses beginnt im Fall von Hong Sang-soos phänomenalen Locarno-Gewinner Right Now, Wrong Then bereits im Titel, der zu Beginn nicht der gleiche ist. Der in zwei Teile gegliederte Film beginnt mit Right Then, Wrong Now und einer Melodie in den Wolken, die in aller Sanftheit, Schlichtheit und Unschuld dafür sorgt, dass man missversteht, was passieren wird.

Man findet sich sehr schnell im Hong-Universum: Der junge Filmemacher ist ein Mann, ein Mann, der sich selbst und Frauen mag, der sich selbst nicht mag, ein Mann, der feststellt, dass der Kontakt mit Frauen kein leichter ist; die junge Frau ist eine Kunststudentin, etwas verloren, treibend, sich findend, sie will sich mögen, tut es kaum. Man geht zusammen trinken, man geht zusammen essen, man redet über sich und über dich und über Kunst, man trinkt mehr, man ist betrunken, es gibt peinliche und zärtliche Momente, man geht spazieren, man lacht, man lügt, man weint, man wird müde, es ist kalt, Schnee fällt; man verpasst sich, man wartet auf eine Reaktion, man schaut, man begehrt, man macht Fehler, man möchte im Boden versinken und doch ist alles voller Wärme. Im Kern sucht man sich vielleicht und versteht sich nicht, es sind Missverständnisse der Selbstwahrnehmung. In diesem ersten Teil seines Films sehen wir den verzweifelten Versuch des Filmemachers, die Kunststudentin zu verführen, ein Versuch, der auf Lügen basiert, die letztlich in der gleichen Einsamkeit scheitern, in der sie begonnen haben. Dazu die Kälte im Süden Koreas und der Schnee, der Hongs Welten mit einer wiederkehrenden Schutzhülle umgarnt.

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Aber dann schneidet Hong in einer dieser herausragenden Bilder, die der Film selten und dadurch effektiv in seine Grammatik der nackten Essenz einstreut, auf eine Buddha-Statue und das Spiel beginnt von vorne. Es ist nicht so als wäre das Prinzip der Wiederholung etwas Neues für Hong, man denke an die Begegnungen mit dem unvergesslichen Life Guard in In another country oder die Avancen gegenüber der Kellnerin in Woman is the Future of Man. Aber derart klar hat Hong noch nie eine Narration nach diesem Prinzip aufgebaut. Die Geschichte beginnt von vorne, aber im Gegensatz zu einem Film wie Groundhog Day geschieht die Repetition nicht im Bewusstsein der Figuren. Vielmehr könnte man von einem Déjà-vu sprechen, also einer eher unbewussten Wahrnehmung dieser Wiederkehr (Hong selbst hat den Begriff in diesem Interview abgesegnet). Letztlich aber beginnt ein neuer Film (Titel: Right Now, Wrong Then), eine neue Chance. Der Filmemacher ist immer noch ein Mann, doch statt dem Prinzip der Lüge folgt er nun jenem der absoluten Ehrlichkeit, um diese Frau nicht mehr lediglich zu verführen, sondern möglichst zu heiraten. Es sind die gleichen Settings, zum Teil die gleichen Dialoge, aber doch ist alles anders. Gerade durch die Wiederholung legt Hong den Fokus auf die Differenzen. Manche Szenen werden aus anderen Einstellungen gefilmt, der Voice Over verschwindet,verschiedene Sätze werden leicht verändert gesagt oder nur mit einem anderen Ton, dann gibt es völlig neue Situationen (man darf nicht glauben, dass Hong sich hier sklavisch an ein Konzept hält) und ein beständiges Spiel zwischen der Erwartung dessen, was da kommen wird und der unendlichen Verzögerung einer Enttäuschung dieser Ewartungen. Schließlich ist Hong der genuine Filmemacher der Enttäuschung. Das kann sich sowohl in einem absurden oder bitteren Humor ausdrücken, als auch im plötzlichen Schmerz einer Erkenntnis. Dabei geht es viel um Missverständnisse, die dadurch entstehen, dass man nicht ausdrücken kann, was man möchte.

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Right Now, Wrong Then auch ein Film über unsere Wahrnehmung im Kino. Man kann förmlich an sich selbst studieren, was eine andere Einstellung, ein anderer Dialog mit einer Szene macht. So verschwindet das Lachen außer in einer dieser unfassbaren Szenen des Betrunkenseins samt Striptease aus dem zweiten Teil. Szenen, in denen man zu Beginn lachen oder schmunzeln musste, kommen einem nun sehr ernst vor. Man fragt sich, ob das nur an der Wiederholung liegt. Im zweiten Teil  ist es der Herzschmerz, der dominiert, ohne dass Hong auch nur eine Sekunde von seiner Leichtigkeit verlieren würde. Durch die Doppelung beginnt erst die Konzentration des Blicks. Es ist eine Beunruhigung, in der jede Nuance mit unserer Antizipation und Erinnerung gleichermaßen spielt. Mal interpretiert man seine eigene Antizipation als Erinnerung und mal die Erinnerung als Antizipation. Im Loch, das sich zwischen diesen Missverständnissen öffnet, entsteht ein wunderbares Kino der Gesten, Fettnäpfchen, Sehnsüchte und Einsamkeit. Der Film erzählt auch von einer verzweifelten Suche nach einer männlichen Identität. Er macht dies sowohl ironisch als auch emotional.

Dabei ist Hong ein derart guter Beobachter menschlicher Verhaltensweisen, dass jeder Blick seiner Figuren, jede Geste und jede Bewegung einen Subtext enthält, der völlig greifbar vor dem Zuseher liegt, ohne jemals ausgesprochen zu werden. Es ist keine Frage, dass für dieses Kino das Schauspiel von äußerster Wichtigkeit ist. Jeong Jaeyeong gibt den Filmemacher derart überzeugend, dass wir hier von einer der besten schauspielerischen Darbietungen der letzten Jahre reden können. Bei ihm kann ein Lächeln alles bedeuten und all das wird für die Kamera sichtbar, nicht aber für ihn selbst oder seine Mitmenschen. Bei Hong besteht Reduktion nicht nur in wenigen und langen Einstellungen, sondern letztlich auch in einer Präzision gegenüber der Zeit, einem Timing, das Missverständnisse erst ermöglicht. Jeong Jaeyeong legt dort hinein diese unersetzliche Fähigkeit, seinen Körper und seine Stimme zu trennen. Was er sagt, ist selten, das was er macht und was er macht, ist selten das, was er sagt. Daher sehen wir dann seine nackten Emotionen.

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In mancher Hinsicht scheint Right Now, Wrong Then ein religiöser Film zu sein. Das Treffen des Pärchens in einem Tempel und die Bedeutung des Buddhas sowie das überstrahlende Thema der Wiederkehr, der zweiten Chance im Hinblick auf Verhaltensweisen und Auffassungen von zwischenmenschlichen Beziehungen deuten darauf hin. Gleichermaßen ist der Film aber auch ein Märchen, denn Hong macht Filme, die eine Traumwelt versetzen, eine Welt, in der man gerne leben würde bis man feststellt, dass man bereits in ihr lebt. Es gibt eine Fluktuation zwischen seinem Blick und der Realität, die einen mit anderen Augen sehen lässt. Man stellt fest, es sind seine Augen, in denen man leben will. So ist es konsequent, dass der Film mit dem Verlassen des Kinos endet und man im Schnee von Hong in diese zärtliche Einsamkeit fällt, die an einem haften bleibt, wie der Geschmack eines Madeleines.

Das Kino ist ein fatales Spiel

Schon länger regt sich in mir die Frage, ob die Anwesenheit einer Filmkamera eher zu einer Lockerung der Realität beiträgt oder dadurch eine größere Ernsthaftigkeit einsetzt. Vereinbart man in Anwesenheit der Kamera einen Spielcharakter oder ist man im Angesicht dieses Instruments, das Unsichtbares sichtbar macht, ist man noch deutlich mehr in der Bedeutung, dem Sinn und der Sinnlichkeit dieser Realität verhaftet. Ich denke, dass die Lösung immer beides zugleich sein muss. Das Spiel führt letztlich zum Sinn und der Sinn fordert ein Spiel.

Immer wieder arbeiten Filmemacher mit unterschiedlichen Methoden, den Schauspielprozess sichtbar zu machen. Nehmen wir als Beispiel Cristi Puius Trois exercices d’interprétation, der eigentlich gar nicht als Film für die Öffentlichkeit gedacht war. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen filmgewordenen Schauspielworkshop. Drei Gruppen von Schauspielern probieren sich in einer zeitgenössischen Interpretation von Vladimir Solovyovs Three Conversations. Dabei kommen einige Elemente zum Vorschein, die das Schauspiel im modernen Kino definieren. So geht es um das Prinzip der Wiederholung, also das Sichtbarwerden der Arbeit am Schauspiel. Diese Wiederholung gleicher Textpassagen durch unterschiedliche Schauspieler, diese Variation macht uns zugleich auf die Bedeutung und die Möglichkeiten des Schauspiels aufmerksam. Wie ein Satz gesagt wird, hat enorme Relevanz. Der Filmemacher, der wohl am meisten an dieser Arbeit am Spiel gearbeitet hat, ist Jacques Rivette. In Filmen wie L’amour fou oder La Bande des quatre sehen wir immer wieder den Prozess des Spiels, die schmerzende Wiederholung, die Leere nach und von ausgesprochenen Texten, die Schwierigkeit eines Ausdruck, die Zweifel und die Alltäglichkeit im Umgang mit dieser Arbeit, die ein Spiel ist. In neuen Kontexten eröffnen sich neue Perspektiven auf den jeweiligen Text. Rivette verbindet dabei immer private Situationen seiner Figuren mit ihren Rollen im Film. Noch eine Stufe weiter damit ging John Cassavettes in seinem Opening Night, da dort Figuren, Rollen und tatsächliche Schauspieler in einen merkwürdigen Dialog treten.

L'amour fou von Jacques Rivette

L’amour fou von Jacques Rivette

Durch dieses Spiel mit dem Spiel wird also zugleich auf eine Meta-Ebene des Schauspiels verwiesen und diese Meta-Ebene durch eine Intimität gebrochen. Denn was wir jederzeit sehen, ist die Menschwerdung von Rollen, etwas Individuelles, Körperliches und Sinnliches dringt durch die gleichen oder ähnlichen Textpassagen und verändert deren Ton. Die Kamera erzeugt diese Intimität und zerstört sie zugleich. Es überrascht nicht, dass wir am Ende des Films genau mit dieser Frage konfrontiert werden von Puiu. Ist eine völlige Konzentration, eine völlige Intimität vor einer Kamera überhaupt möglich? Oder „spielen“ wir immerzu etwas, weil die Kamera Konsequenzen hat? Die Angst vor dem Sichtbarmachen greift um sich und das liegt nicht daran, dass die Kamera Intimität zerstört, sondern daran dass sie Intimität erhöht. Man denkt an das frühe Kino oder direct cinema und die Interaktion von Passanten mit der Kamera, man denkt an dieses ewige Posieren. Daran liegt es vielleicht auch, dass mir Dokumentationen, in denen die Protagonisten zumindest ab und an in die Kamera blicken logischer vorkommen als solche, in denen man sich verkrampft darum bemüht, dass es keinen Kamerablick gibt. Wozu? Um die Fiktion zu wahren? Wenn man sich beispielsweise Raymond Depardons Faits divers ansieht, wird man immer wieder kurze Interaktionen mit der Kamera bemerken, die nichts von der Direktheit und Intimität nehmen, sondern ganz im Gegenteil, zu diesen beitragen.

La bande des quatre von Jacques Rivette

La bande des quatre von Jacques Rivette

Beim Spiel kommen bei den besseren Filmemachern immer die Menschen und Körper hinter den Spielern zum Vorschein. In unserer Zeit hat sich der Schauspielbegriff längst von seinen naturalistischen oder rhetorischen Funktionen gelöst. Vielmehr geht es uns beim Spiel um eine Erfahrung, in deren Dauer wir Zeuge einer Menschwerdung sein dürfen. Natürlich hängen daran immer noch naturalistische Ideale, aber diese zielen jetzt im eigentlichen Sinne darauf, dass der Schauspieler als Person verschwindet. Nicht die realistische Darstellung interessiert Filmemacher wie Cristi Puiu oder Claire Denis, sondern das Spiel selbst, diese schmale Linie zwischen der Fiktion und der Dokumentation des Prozesses, indem wir gleichzeitig die Illusion einer Identifikation spüren und uns doch ermahnt fühlen, weil wir lernen zu wissen, dass die Erscheinung eines Menschen und sein Spiel immer dazu dienen, etwas essentielles zu verbergen. Diese Essenz finden wir genau dann, wenn wir beides zugleich sehen. Das Ergebnis der Erscheinungsarbeit und die Arbeit an der Illusion. Ansonsten ist das Spiel auch die Flüchtigkeit und Bescheidenheit der Darstellung. Es geht beim Spiel für das Kino nicht um den großen Schauspielmoment, den Monolog, der tränenreiche Abschied, vielmehr geht es um den Körper, der alles erfährt und dadurch erfahrbar macht, es geht um die Sinnlichkeit. Wir haben Respekt vor dieser Sinnlichkeit und es ist keine Überraschung, dass nicht erst seit Robert Bresson immer wieder der Laiendarsteller gesucht wird, um sozusagen diese Sinnlichkeit in aller Naivität und Unschuld vor die Kamera zu werfen. Dieses Vorgehen wird heute deutlich schwieriger, weil auch die meisten Laien mit Mechanismen der fatalen Kamera vertraut sind und darin geübt, ihre Sinnlichkeit zu verstecken. Als Folge greift die Arbeit mit dem Spiel im Kino zu extremeren Mitteln, die sich in Filmemachern wie Albert Serra, der so lange dreht bis seine Laien völlig erschöpft sind und nicht mehr kontrollieren können, was sie tun oder Bruno Dumont, der Schauspielern keine Information über ihre Position oder den Kontext der Szene gibt und beständig auf eine Deformation von Verhaltensweisen setzt, äußert. Vor allem Serra ist dabei auf der Suche nach einer Unschuld, eine Unschuld, die alle jagen im Schauspiel, diesen Moment, in dem etwas zum ersten Mal passiert und man es sieht. In diesem Zusammenhang ist es keine Überraschung, dass Erich von Stroheim unbedingt einen echten Messerstich am Ende von Greed haben wollte. Er wollte den Schmerz in den Augen seines Darstellers sehen. Er hat ihn nicht bekommen.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Es ist aber auch klar, dass eine Freude am Spiel in diesen Unschuldschoreographien kaum zum Vorschein kommen kann (zumindest dachte ich das bis P’tit Quinquin). Was ich damit sagen will, äußert sich womöglich auch in der beständigen Verwendung professioneller Schauspieler im Neuen Rumänischen Kino, dass doch eigentlich von seiner Verortung hin zu einem Bazin-Realismus nach Laiendarstellern schreit. Doch wenn wir Cristi Puius eigene Performance in Aurora ausklammern, werden bei den großen Namen des zeitgenössischen rumänischen immerzu professionelle Darsteller benutzt. Woran könnte das liegen? Eine Überlegung wäre, dass die Filmemacher des italienischen Neorealismus an einer dokumentarischen Wahrheit interessiert waren, die heute schon lange überholt ist. Die Rumänen scheinen vielmehr Interesse am Wesen der Fiktion zu haben beziehungsweise am Verhältnis zwischen Fiktion und Realität. Ein Film wie Corneliu Porumboius When Evening falls on Bucharest or Metabolism behandelt auch folgerichtig das Leben hinter dieser Illusion, das Spiel hinter dem Spiel. Ist dann alles ein Spiel?

Wenn es nach Arnaud Desplechin geht, dann ist zumindest das Kino ein Spiel. Darum geht es, um das Spiel. In seinem La vie des morts zeigt sich, dass nicht die Offenbarung einer komplexen Charakterpsychologie entscheidend für Identifikation und Menschwerdung im Kino sind, sondern die versteckte Existenz dieser Psychologie in den Körpern der Darsteller. Wir müssen spüren, dass hinter den Fassaden ein Leben lauert. Wie Desplechin, Olivier Assayas oder die schon erwähnte Claire Denis kann man dieses Leben durch kurze, flüchtige Momente spürbar machen, eine Geste, ein Blick (und es ist klar, dass der Schauspieler selbst hier genauso verantwortlich ist wie die Montage oder die Kamera). Eine andere Möglichkeit liegt in der Sprache. Das Verhältnis von Schauspieler und Text wurde im deutschen Kino nie vielschichtiger behandelt als von Rainer Werner Fassbinder. Bei ihm verraten sprachliche Formulierungen das Sinnliche und Politische hinter dem Spiel, obwohl sie jederzeit als solches markiertes Spiel sind. Ein solches Vorgehen wird im deutschen Kino heute oft hinter angestrengten und noch häufiger scheiternden Realismusbemühungen liegen gelassen. Der Meister im Umgang mit dem Verhältnis zwischen Text und Schauspieler ist aber sowieso ein Franzose, Éric Rohmer. Bei ihm geht es beim fatalen Spiel im Kino um eine Energie, die aus einem Text oder einer Idee etwas Konkretes macht, etwas Gegenwärtiges, das trotz aller Gegenbehauptungen nicht nur dem Theater sondern auch dem Kino eigentümlich ist. Bei Rohmer geht es nicht nur darum, was gesagt wird, sondern immerzu auch darum wie es gesagt wird. Der moralische Diskurs seiner Filme wird erst durch die Stimmen manifest, man könnte ihn zwar schreiben und lesen, aber erst dadurch, dass die Moral bei Rohmer an Körper gebunden ist, wird sie relevant. Jeder Satz, jedes Zucken kann etwas über eine Figur oder Menschen aussagen.

La vie des morts von Arnaud Desplechin

La vie des morts von Arnaud Desplechin

Doch das Spiel – zumal im Kino – ist natürlich auch eine Sache der Verwandlung. Wie Jean-Luc Godard bemerkte, ist das Kino eine Kunst der Masken und Verwandlungen. Die Möglichkeit einer ständigen Transformation; wenn das Kino ein Spiel ist, dann spielt es auch mit seiner Kontinuität und seiner Wahrscheinlichkeit. Filme wie Holy Motors von Leos Carax, Phoenix von Christian Petzold oder Time von Kim Ki-duk arbeiten mit der Verwandlung und der ewig faszinierenden Frage nach dem Erkennen und der Identität. Oft wird dann die Dramaturgie zu einem Spiel, man sieht Figuren dabei zu wie sie sich unerkannt in einer Rolle bewegen, aber man kennt ihr Geheimnis und wird so Zeuge eines Spiels statt einer Sinnlichkeit bis plötzlich aus diesem Spiel eine Sinnlichkeit bricht. Es ist klar, dass dieses Spiel mit der Verwandlung auch ein Spiel mit der Form beherbergt. Es ist keine Überraschung, dass die meisten Filmemacher, die sich Gedanken über das Spiel im Kino machen, sich auch Gedanken über das Spiel des Kinos machen. Die Kombination zweier Bilder oder das Abpassen des exakten Moments eines Schnitts sind mir immer vorgekommen wie ein Spiel. Insbesondere im digitalen Zeitalter trifft das wohl mehr denn je zu. Erstaunlich aus heutiger Sicht wie man auf eine derartige Kunst Regeln legen konnte. Aber wie wir sehen ist das Regelhafte und das Wahrhaftige im Kino immer in einem spannenden Wechselverhältnis, ganz ähnlich wie die Unschuld und das Spiel.

Mit Masken wird das Spiel auch zu einer Flucht, die das eigentliche Leben verbirgt und gerade dadurch bewusst macht. Jean-Luc Nancy hat geschrieben, dass der Sinn der Erscheinung in der Realität liegt, die sie verbirgt. Ähnliches gilt für das Spiel im Kino, obwohl das Kino weniger Verantwortung hat als die Erscheinung an sich. Damit will ich sagen, dass es im Kino manchmal auch reicht, eine Freude am Spiel auszudrücken wie das nicht zuletzt in Holy Motors geschieht oder auch in American Hustle von David O. Russell. Doch selbst diese Flucht gelingt nicht ganz, weil der Zuseher immerzu in der Lage ist, das filmische Schauspiel mit dem täglichen Schauspiel zu vergleichen. So wird die Freude des Spiels im Kino bei Carax ganz schnell zu einer Kritik des Spiels im Leben. Ist das so? Das Spiel liegt aber auch im Unsichtbaren. Erich von Stroheim war ein Meister dieser Inszenierungen, die man nicht wirklich sieht, aber spürt. So hat er sich bekanntermaßen bis hin zu den korrekten Unterhosen (selbst wenn diese nie sichtbar waren) seiner Komparsen um das Unsichtbare des Spiels bemüht. All das Wissen, all die Arbeit, die man im Ergebnis nicht mehr sieht, aber spürt. Sie hängt mit Körperhaltung, spontanen Gesten oder auch nur der Dauer zwischen Frage und Antwort zusammen. Oder würde jemand daran zweifeln, dass man mit seidenen Unterhosen, auf die das kaiserliche Emblem Österreichs gestickt ist, anders durch Reih und Glied geht, als mit seiner normalen Baumwollunterwäsche?

Holy Motors von Leos Carax

Holy Motors von Leos Carax

Wir bemerken also, dass es einen Unterschied gibt zwischen Filmen, die einen avancierten Umgang mit dem Spiel wählen und solchen, die das Spiel zelebrieren. Zu letzteren gehört sicherlich Hong Sang-soo, der ähnlich wie Puiu in seinem Schauspielworkshop viel mit der Wiederholung von Konstellationen und Dialogen arbeitet. In neueren Werken wie Our Sunshi oder In another country greift durch den eigenwilligen Einsatz des Spiels im Kino eine Art augenzwinkernder Surrealismus, der letztlich doch genau durch diese Unwahrscheinlichkeiten und simplifizierten Konstellationen eine sinnliche Wahrheit und Komplexität der Realität offenbart. Nehmen wir In another country, in dem Isabelle Huppert drei verschiedene Französinnen in Korea spielt, die immer wieder in ganz ähnliche Situationen geworfen wird und immer wieder auf einen grandiosen Life Guard, der immer vom selben Schauspieler gespielt wird, trifft. Dieses clevere Spiel mit dem Cast ermöglicht auf der einen Seite ein Anzeigen der Konstruktion des Films, wieder diese Meta-Ebene, aber zugleich ermöglicht es eine sinnliche Erfahrung von Traumzuständen, Sehnsüchten und dem Verhalten zwischen Fremden, eine Art Erforschung von Unbeholfenheit. Genau umgekehrt in der Besetzung ging bekanntlich Luis Buñuel in seinem Cet obscur objet du désir vor, in dem eine Figur von zwei verschiedenen Schauspielerinnen gespielt wird. Wieder wird dadurch der Schauspielprozess sichtbar, aber gleichzeitig offenbart sich eine Sinnlichkeit, die mit unserer Wahrnehmung zu tun hat.

Our Sunshi von Hong Sang-soo

Our Sunshi von Hong Sang-soo

Es stellt sich auch die Frage, welche Distanz ein Filmemacher wählen muss, um das Kino zum Spiel werden lassen. Es scheint klar, dass in klassischen Schuss-Gegenschuss Auflösungen weniger Raum für wahrhaftiges Spiel bleibt, die Totale jedoch verneint ganz oft das Gesicht, in dessen Regungen sich doch die schärfste und zugleich feinste Linie zwischen dem Spiel und der Realität des Kinos finden lässt. Auf der anderen Seite kann man das Spiel mit dem Spiel so ziemlich aus allen Perspektiven betreiben. Schuss-Gegenschuss kann im Gesicht von Jimmy Stewart ähnliche Gleichzeitigkeiten zwischen Sinnlichkeit und Meta-Ebene erzeugen wie eine Totale bei Hou Hsiao-Hsien. Es geht hierbei um eine Balance zwischen Freiraum und Käfig, die ewige Debatte über Kontrolle und Freiheit im Kino. Beim Spiel gibt es beide Extreme. Es gibt Filmemacher wie Bresson, David Fincher oder Jean-Pierre Melville, die alles kontrollieren und gerade dadurch eine Art Freiheit im Spiel erreichen und es gibt Filmemacher wie Serra, Lisandro Alonso oder eben Puiu, die sehr viel vom Leben, von der Welt hineinlassen in das Spiel und dadurch gerade das Spiel in den Vordergrund rücken. Ein perfekter Kompromiss findet sich in der letzten Szene von Beau travail von Claire Denis. Dort reagiert wie so oft bei Agnès Godard die Kamera auf den Schauspieler, sie wahrt die Distanz für den Freiraum und beginnt dann mit ihm zu tanzen. Letztlich geht es beim fatalen Spiel im Kino um diesen Tanz, der erst das Fatale ermöglicht (und das wollen wir doch). Die Kraft zwischen Kamera und Spiel, eine Liebesgeschichte mit einem unendlichen Spektrum an möglichen Emotionen.

Die einzige Übung, das einzige Spiel ist letztlich das Kino selbst, die Umsetzung. Alles andere ist reine Theorie. Es gibt als zugleich kein Spiel und nur Spiel im Kino. Und es ist das Kino, das uns immerzu mitteilt wie ernst es ist und wie weit weg von der Realität es ist. Zum Schluss nochmal Cristi Puiu:

“So this is how cinema has to be made now, I think—every film must be an exercise. Though these specific exercises were not made with the intention of being shown publicly, I am very happy that programmers are now inviting the film to festivals. I think that it deserves to be seen, and that the exposure is great for the people I worked with. “Actors” is really an administrative term. We live in society without wanting anarchy, so we say that some people are actors, others are directors, others are cinematographers, physicists, mathematicians, doctors, and so on. But I don’t believe this to be true. Anybody can be anything, the only differences come from your choices to study one domain or another. I am working with a camera, you have a computer to type on, others are using medical equipment, and there are no professions. There are only people trying to understand the world better by using different sets of tools.”

Cinemañana: How to disappear completely

Clips/Idee: Ioana Florescu
Text: Patrick Holzapfel

Modern Times

Ioana Florescu hat sich wieder auf die Suche gemacht. Diesmal hat sie Menschen gefunden, die uns am Ende von Filmen den Rücken zukehren und gehen. Wir werden sie nicht mehr wieder sehen,

That there, that’s not me, I go where I please,I walk through walls,I float down the Liffey

Gycklarnas afton von Ingmar Bergman

Un condamné à mort s’est échappé von Robert Bresson

In solchen Momenten zerfließen die Filme vor unseren Augen: Film is The Art of Absence. Was davor, danach, daneben, dahinter, darüber, darunter, dazwischen passiert ist entscheidend. Ein solches Ende macht uns klar, dass wir Filme nicht einfach betreten und schon gar nicht besitzen können. Wir können sie nur betrachten so lange sie uns lassen. Aber der Raum und die Zeit im Off werden nur in uns existieren und in den Figuren, nicht aber auf der Leinwand, dieser riesigen Lupe, dieser wahren Lüge; fängt Blicke wie andere Schmetterlinge,

Ich werde aufstehen und in die Leinwand springen, um den Figuren zu folgen. Ich will an der Leinwand kleben wie eine tote Spinne und langsam darin versinken. Vielleicht kann ich den Figuren dann folgen? Ich renne Chaplin hinterher. Ich verfolge ihn durch die Nacht. Hoffentlich kann ich ihn nie berühren,

Es muss ein Leben hinter den Bildern geben,

I’m not here,This isn’t happening,I’m not here, I’m not here

Le Bonheur von Agnès Varda

La grande illusion von Jean Renoir

Ungreifbar und unbegreiflich schweben schwarze Silhouetten ins Nichts. Narren glauben, dass diese Bilder von einer ungewissen Zukunft sprechen, obwohl sie eindeutig in der Gegenwart verankert sind. Danach ist nichts mehr. Es wird irgendwann schwarz werden. Die Zukunft ist eine Illusion im Kino. Diese Geister sterben am Ende ihrer Filme. Die Filme auch. Aber sie werden wiedergeboren. Wer sich in seinem Sitz bewegt und glaubt, dass dies nun das Ende des Films sei, weil Filme nun mal so enden, verpasst den letzten Blick des Kinos. Unfähig sich zu rühren, unfähig weiter zu folgen,

Hat die Kamera ihre Lust verloren? Sind diese Bilder ihr letzter Lebenshauch, vielleicht ein letztes trauriges Blinzeln, die letzte Erinnerung an eine Welt?

Orphée von Jean Cocteau

Das Kino braucht keinen Vorhang, denn es gibt den Off-Screen und die Tiefe des Bildes. Und es gibt noch mehr,

Sie kehren mir den Rücken zu. Ich sehe ihre zuckenden Schulterblätter, ich sehe Punkte in der leidenschaftlichen Landschaft. Ihre Füße sind echt. Jeder Schritt hinterlässt eine Spur in meiner Pupille, eine glühende Narbe unter meinen Lidern,

Wer genau hinhört, kann den letzten Atemzug der Filme vernehmen. Es ist ein langes Seufzen, das wie ein verlorener Wind über die Ewigkeit der Vergangenheit treibt, ein feuchter Film, der sich auf den Augen bildet und unmerklich über die Wangen brennt wie ein sanfter Reifen auf Asphalt. Ein Film setzt niemals einen Punkt sondern immer Kommas,

In a little while, I’ll be gone, The moment’s already passed, Yeah, it’s gone

Professione:reporter von Michelangelo Antonioni

In Another Country von Hong Sang-soo

Film ist gemacht für den Übergang von Tag auf Nacht und Nacht auf Tag. Immerzu sehen wir in den Filmen die Geburt und den Tod des Lichts. Ein Zustand in dem noch alles möglich ist. Diese gehenden Gestalten am Ende des Films sind der endgültige Übergang als Geister aus der Maschine. Sie könnten auch fliegen. Ihre Langsamkeit sagt mir, dass ich sterben werde. Mit ihnen oder ohne sie, langsam oder plötzlich. Es ist der Horizont, indem sie verschwinden bevor er selbst verschwindet. Vielleicht klammert sich der Blick an die Dauer der Entfernung, vielleicht hetzt er ihnen nach, aber auch der Blick wird sterben.

Irgendwann kann man nichts mehr sehen.

Wie der Expressionist ein Romantiker ist, die Angst der Natur nicht länger ertragen kann, so ist die verschwindende Filmfigur eine romantische Angst, die ihren Rahmen nicht mehr ertragen kann. Aber diese Figuren verlassen den Rahmen nicht. Sie verschwinden in ihm. Ich verstehe nicht wohin sie gehen. Das liegt daran, dass sie nicht im Raum verschwinden sondern in der Zeit.

Being There von Hal Ashby

Of Freaks and Men von Alexei Balabanov

What Time is it There? von Tsai Ming-liang

I’m not here, This isn’t happening,I’m not here, I’m not here

Eine wunderschöne Mücke saugt mir das Blut in Zeitlupe aus. Ich sehe ihr zu und spüre den langen Schauer meines platzenden Blutes, das in den Körper der Mücke fließt und weiß, dass dieser Moment in meinem Gedächtnis bleiben wird, wie das letzte Echo eines Hilfeschreis in den Bergen, wie der Geschmack eines letzten Kusses auf den Lippen verweilt. Die Erinnerung an diese Bilder ist jene des empfundenen Schmerzes bei ihrer Betrachtung.

Strobe lights and blown speakers

Rocco e i suoi fratelli von Luchino Visconti

Fireworks and hurricanes

Modern Times von Charlie Chaplin

Bilder des Bedauerns. Ich hätte besser sehen können. Ich bedauere nicht, dass sie gehen. Ich bedauere, dass ich sie nie gesehen habe, nicht so geküsst wie ich sie küssen wollten, nicht so gekannt wie ich wollte. Warum drehen sie sich nicht noch einmal um? Ich wollte nie mehr blinzeln. E.E. Cummings,

or if your wish be to close me, i and
my life will shut very beautifully,suddenly,
as when the heart of this flower imagines
the snow carefully everywhere descending;

Out of the Past von Jacques Tourneur

I vitelloni von Federico Fellini

Warum tanze ich auf dem Gedächtnis von Geistern? Im Sonnenuntergang, jemand spielt ganz zufrieden eine Violine, Boccherini, ich sitze auf einer Veranda, es ist warm genug und ich kann einmal den Zweifel vergessen, die Angst, weil ich begreife, dass ich keine Bedeutung habe.

Ich werde irgendwann aufstehen. Die Lichter gehen an. Sie sollten nicht. Ich werde eine Jacke tragen und den anderen Zeitmenschen aus dem Kino folgen. Ich werde der Leinwand den Rücken kehren, sie kann meine zuckenden Schultern sehen, meine echten Füße, die den Boden noch nicht berühren können. Man kann mich noch eine ganze Weile sehen. Dann werde ich zu einem Punkt in einer Landschaft. Nur mein Blick ist geblieben. Bis auch er stirbt.

I’m not here, This isn’t happening, I’m not here, I’m not here

Ladri di biciclette von Vittorio De Sica

The Searchers von John Ford

We’re gonna live forever,