From Chaos comes Order: Über In the Mood for Love und Musik

Das lateinische Wort componere bedeutet zusammenfügen, aus ihm entsteht das deutsche Wort Komposition, das allgemein für den formalen Aufbau eines (Kunst)werks steht; in der Musik steht das Wort Komposition einerseits für die schöpferischer Tätigkeit des Urhebers eines Musikstücks, andererseits aber auch für das Werk selbst. Der Begriff der Komposition hat in der Musik – zumindest im Sprachgebrauch – einen höheren Stellenwert als in allen anderen Künsten. Eine einzelne Note von einem Instrument gespielt oder einer menschlichen Stimme gesungen hat keine Bedeutung, sie ist als solche für einen Menschen ohne die Fähigkeit des absoluten Gehörs nicht einmal benennbar. Erst im Zusammenschluss mit einer anderen Note entsteht ein Intervall, welches bereits einen emotionalen oder symbolischen Wert besitzt. Durch Zusammenschlüsse von vielen solcher Noten entstehen musikalische Motive, Themen, komplexe harmonische Strukturen, die wir als Komposition begreifen. Sie können etwas bedeuten, doch den Kern dieser Strukturen bilden immer noch die einzelnen Noten, die im Grunde für sich ein unbedeutendes bzw. nicht-bedeutendes Naturphänomen sind.

Wenn man Christopher Doyle über die Auswahl seiner Locations für In the Mood for Love reden hört, spricht er von ihnen, als wären es musikalische Noten. Die Location ist konstitutiv für den Film, sie bestimmt die Kameraeinstellungen, alle Bewegungen im Bild und schlussendlich auch die Handlung, die in ihr stattfinden kann. Die Location ist allerdings – anders als die Note – schon von vornherein von ihrer Geschichte gezeichnet, von den Menschen, die dort lebten und leben, von allen Ereignissen, die dort stattgefunden haben. Nichtsdestotrotz funktioniert sie in der Gesamtkomposition des Filmes wie eine Note, oder ein einfaches musikalisches Thema.

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Als Zuschauer beginnt man sich schnell mit den verschiedenen Locations in Wong Kar-Wais In the Mood for Love anzufreunden und sie mit bestimmten emotionalen Gehalt zu füllen: Die Suppenküche, in der sich Mrs. Chan und Mr. Chow immer wieder zufällig begegnen, aber sich niemals ansprechen; der Türrahmen zu Mr. Chow Wohnung, in dem Mrs. Chan ein falsch zugestelltes Paket übergibt; der Flur zum Hotelzimmer mit der Nummer 2046 mit seinen roten Vorhängen, welche die Sicht nach draußen versperren. So wie in einem Musikstück musikalische Themen immer wieder auftauchen und uns als Zuhörer in wohlige, vertraute Gefilde zurückführen, finden sich auch die Protagonisten von In the Mood for Love immer wieder an denselben Orten wieder. Wie erschütternd ist es dann für uns, wenn unser wohlbekanntes Motiv plötzlich in einer Mollvariante auftaucht, wenn die Vorhänger im Flur zum Zimmer 2046 plötzlich vom Wind geschüttelt werden, wenn auf der Straße vor der Suppenküche ein heftiger Regen einsetzt. Mit diesen Mechanismen von Wiederholung und Variation spielen Doyle und Wong Kar-Wai nur zu gerne und dies führt dazu, dass selbst kleinste Veränderungen große Bedeutung erlangen. Und bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich schlussendlich nie etwas in völliger Übereinstimmung wiederholt; und sei es auch nur die ständig wechselnde Musterung von Mrs. Changs Kleidern.

Ähnlich wie die verschiedenen Schauplätze wird auch die Musik zum Einsatz gebracht: eine Handvoll verschiedener Musikstücke wiederholen sich immer wieder, werden in neuen Kontexten oder Varianten von bereits bekannten Szenen präsentiert. So begleitet beispielsweise Yumeji’s Theme von Shigeru Umebayashi insgesamt acht Szenen des Films. Besonders in jenen Szenen, in denen dieses Thema auftritt, fällt ein speziell Verhältnis zwischen Musik und Bild auf: es scheint, als ob die Musik den Ablauf der gesamten Szene diktieren würde.

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Yumeji’s Theme ist ein tänzerisches Lied im ¾ -Takt, der sehr dominant vom Pizzicato der Streicher akzentuiert wird, über dem sich eine improvisatorisch-solistische Melodie ausbildet. Die Dominanz dieses Taktes wirkt sich auch auf den Inhalt der Bilder aus, die von ihm begleitet werden. Häufig kommt es dabei zum Einsatz eines Zeitlupeneffekts, um die Bewegungen der Menschen im Bild an die Musik anzupassen: Schritte werden beispielsweise immer auf den ersten Schlag des Taktes gemacht. Es ist auffällig, dass in diesen Szenen fast immer zwei gegenläufige Kamerabewegungen aufeinanderfolgen, so wird zum Beispiel von einer Einstellungen, in der sich die Kamera von rechts oben nach links unten bewegt, in eine Einstellung mit genau umgekehrter Bewegungsrichtung geschnitten; in längeren Einstellungen wechselt die Kamera in der Einstellung selbst die Bewegungsrichtung. Die Verbindung zwischen Musik und Bild wird zudem noch verstärkt, indem innerhalb fast jedes Kaders mindestens ein Objekt zu sehen ist, das sich im Takt der Musik bewegt; diese befinden sich oft im Fokus der Bildes (z. B. Mrs. Chans Kanne, welche sie in der Hand hält als sie zur Suppenküche geht), aber manchmal auch im Hintergrund (z. B. eine wippende Deckenlampe). Diese „Musikalität“ der Bilder ist jedoch nicht nur in solchen Szenen spürbar, sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Gesamtheit des Films (ich habe bereits die im Wind wippenden Vorhänge erwähnt), sie ist spürbar in jeder Bewegung im Bild, in jeder Bewegung der Kamera. Dem Film scheint eine fast naturgegebene rhythmische Struktur zugrunde zu liegen, die schwer beschreib- oder erklärbar ist, die sich jedoch für uns Zuschauer in einem gewissermaßen „schlüssigen“ Filmerlebnis erschließt.

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So wie in der Musik manchmal die Struktur eines Werkes den Inhalt bestimmt und manchmal „normierte“ Strukturen aufgrund der Anforderungen der Inhalts gebrochen werden, kann man bei In the Mood for Love keine pauschale Antwort darauf geben, ob die Musik den Inhalt der Szene konstituiert oder umgekehrt. Und wie in der Musik bleibt auch bei In the Mood for Love die Frage „Warum das Werk so ist, wie es ist“ unbeantwortet; ihr kann nur mit einer weiteren Frage entgegnet werden: Wie sollte es denn sonst sein?

Die Location bildet die Grundlage für Wong Kar-Wais Film und konstituiert den gesamten Inhalt; sie selbst bleibt allerdings in ihrer Art für unsere Ratio nicht erschließbar, genauso wie eine Note. So wie die Note von der Natur gegeben ist, ist die Location vom Leben gezeichnet und gegeben. Sie hat in sich keine Ausrichtung oder Ordnung, ist in sich chaotisch und konstituiert dennoch die Struktur des Films. Und so fasst es Christopher Doyle auch treffend zusammen: „From chaos comes order“.

Hou Hsiao-Hsien Retro: Flowers of Shanghai

In elegischen Schwenks um Tische und Gespräche, eingehüllt in verführerisches Gelb mit goldenen und roten Lichtern entfaltet sich irgendwo zwischen einem Michael Snow Film und einem Christopher Doyle Showreel, aber sicherlich in unvergleichbarer Manier dieses Portrait romantisierter Abhängigkeiten. In vier sogenannten „Flower Houses“ in Shanghai Ende des 19.Jahrhunderts (die Zeit ist hier eine Sache des Dekors, die Welt bleibt außerhalb der Flower Houses) erzählt Hou Hsiao-Hsien vom Leben und den Pflichten der Edelprostituierten und deren Kunden und beobachtet die Männer beim Trinken, Opium-Rauchen (viel) und Diskutieren.“Flowers of Shanghai“ ist ein filmischer Öllampen-Reigen als Rauschzustand.

In seinem einleitenden Monolog am ersten Tag der Retrospektive hatte Alexander Horwath diesen Film explizit hervorgehoben und schon bei der ersten Aufblende, die eine Art in Film gegossenes Gemälde freilegt, wird klar warum. Schönheit und formelle Perfektion sind hier nicht nur Themen des Films, sondern spiegeln sich auch in seiner Form. Schon bald findet man sich selbst in einem Opium-Rausch. Dafür sorgen die immerzu schwebenden Bilder, die Trennung dieser mit Schwarzblenden und ein tranceartiger Score, der aus einem Béla Tarr Film stammen könnte. Hou Hsiao-Hsien wird die inneren Welten, dieser Bordelle, die eine Romantik versprechen, um sich daran zu klammern nicht verlassen. Einmal passiert etwas draußen, eine Razzia, aber die Kamera verharrt auf dem entkräfteten Gesicht von Wang (Tony Leung Chiu-wai), der zwischen Opiumsucht und der Zerrissenheit zwischen Crimson (Michiko Hada) und Jasmin (Vicky Wei) schwankt und jederzeit droht zu zerbrechen. „Flowers of Shanghai“ ist sicherlich kein Film, dessen Inhalt man verstehen, kennen oder mitbekommen muss, um die Seele des Films zu spüren. Es ist als würde einen die Kamera mit in eine entfernte Welt nehmen, die mit ihrem oberflächlichen Prunk durch die ständigen, langsamen Wechsel der Kameraperspektive ungeahnte Tiefen bekommt. Dabei agiert die Kamera fast als Tänzer, als eigenständige Kraft, die entweder den inneren Zustand, den hypnotisierten Drive der Frauen und Männer in den Bordellen wiedergibt oder aber den autonomen Blick eines Regisseurs. Die Alltäglichkeit und Beiläufigkeit in der sich viele der Tischszenen abspielen, die Konsistenz der Dialoge und die tote Zeit sprechend dafür, dass Hou Hsiao-Hsien hier als beobachtender Gast tätig ist. Allerdings sind die Bilder so gefüllt mit Gesichtern, Emotionen, Kostümen, Gegenständen und Licht, dass man sich nur schwerlich als Beobachter fühlt, sondern zumeist mitten in der Plastizität der Szene erwacht und sich wieder darin verliert als würde man seit Stunden auf einer Schaukelbank sitzen und gestreichelt werden oder, um eine Erzählung aus dem Film aufzunehmen, als würden einem die Augen von seiner Geliebten geleckt werden. Die Perfektion in der hier der Rhythmus von Kamerabewegung und Schnitt der inneren Bewegung der Szenen folgt, ist unantastbar. Nuancierte Variationen in der Geschwindigkeit, ein plötzliches Zwischenbild, alles hat seinen festen Platz, nichts wirkt überflüssig und nichts fehlt.

Flowers of Shanghai

Ähnlich wie „In the mood for love“ von Wong Kar-Wai ist „Flowers of Shanghai“ auch ein Film, der sich im Off abspielt. Hou Hsiao-Hsien interessiert sich hauptsächlich für die vertraglichen Verpflichtungen und Abhängigkeiten, das Geld wenn man so will. Er erstickt (außer einmal als Wang die Inneneinrichtung zerlegt und einem Selbstmord-/Mordversuch von Jade) die emotionalen Regungen seiner Figuren, die sich fortlaufend zwischen den Zeilen und in den Augen seiner Starschauspielerinnen abspielen. Besonders Michelle Reis als Emerald vermag ihre Psychologie in einen Ausdruck zu verlangen, der mehr sagt als tausend Szenen. Das Off ist neben der Abwesenheit von Europäern in den Flower Houses der Plot an sich, der so erzählt wird, dass er sich scheinbar am Rande oder jenseits des Bildes vollzieht. Bei Hou Hsiao-Hsien warten weder Kamera noch Welt auf die Narration, sie wird einfach irgendwo geschehen, man kann sie manchmal an den Körpern ablesen, manchmal an den Wörtern, zumeist aber nicht im Moment des Geschehens, sondern irgendwann später, als könne man gar nicht verstehen, als würde alles in dieser Welt hinter einem Schleier der äußeren Darstellungen und Zwänge verborgen liegen. Im gelben Rotlicht entsteht aber noch ein anderes Off und zwar jenes, dass sich kontinuierlich entwickelt, ein Off, dass in jeder Sekunde neu definiert wird durch die Bewegung der Kamera. „Flowers of Shanghai“ penetriert in diesem Sinne die Lust am Sehen und stimuliert sie dadurch. Das langsame um Gesichter Herumfahren, das etwa David Fincher in all seinen Filmen praktiziert, gehört zum Aufregendsten, was ich im Kino kenne. Die Frage danach, was sich im Gesicht äußert, wie das Gesicht aussieht, was dort passiert, ist die Frage, die man sonst nur in der Liebe oder in einem Angstverhältnis stellt. „Flowers of Shanghai“ ist genau zwischen dieser Liebe und Angst.

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Hou Hsiao-Hsien zeigt Menschen, die sich in dieser Umgebung völlig unterschiedlich benehmen, die entweder mit dem Dekors verschmelzen oder aus ihm flüchten wollen. Seine Kamera und unser Blick verlieren sich mit Sicherheit im Rausch, man merkt fast wie sich die Leinwand erwärmt, der Opiumrauch aus den Lautsprechern dringt und man leise liebend stirbt. Irgendwann gibt es wieder eine Blende und ein bewegtes Gemälde entsteht vor unseren Augen, das letzte Abendmahl im Bordell. Die Programmierung des Films hinter „A Summer at Grandpa’s“ im Österreichischen Filmmuseum ist ein kleiner Geniestreich für sich, weil sich in der Härte, in der diese Filme aufeinanderprallen gewissermaßen der Verlust einer filmischen Unschuld zwischen Strenge und Freiheit, Formalismus und Leben, Humor und Resignation aufgemacht hat, der die beiden Extrempole von Hou Hsiao-Hsien zeigt und sie dennoch verbindet, sei es in den Rahmungen oder in der Ausnahmesituation, in der sich seine Figuren an Zwischenorten bewegen, um anders zu leben als sonst, egal ob im Sommer beim Großvater oder in einem Bordell. Am zweiten Tag der Retrospektive ist eine solche Programmierung eine Initialzündung in das Schaffen von Hou Hsiao-Hsien.

Die Liebe im Kino von Wong Kar-Wai


In den ungewöhnlichen Einstellungen, die Wong Kar-Wai, in seinen bislang zehn Langfilmen findet, herrscht Konfusion, Freiheit und Gefühl. Der komplette Look seiner Filme kann sich von einer Sekunde auf die nächste ändern. Es gibt eine ganz eigene Konsistenz in einem Film von Wong Kar-Wai, eine die dem Zuseher ein ästhetisches Empfinden vorschlägt, auf das dieser sehr leicht aufspringen kann und in das er sich verlieben kann, mit dem er sich identifizieren kann. Sein langjähriger Kameramann Christopher Doyle flucht in seinem Tagebuch zu „Happy Together“: „I don’t want realistic images, I want poetic images!“.  Wie in einem Labyrinth müssen Crew und Schauspieler in vielen Filmen den spontanen und impulsiven Einfällen eines Regisseurs folgen, der vielleicht eine Struktur im Kopf hat, wahrscheinlich diese aber erst im Schnitt findet und selbst dann ist Struktur nicht strukturiert, sondern voller Leben und Spontanität. Die Idee erwächst aus einzelnen Bildern und vor allem Songs. Lieder, die das Kino des Hongkong-Regisseurs so sehr prägen. Yo me muero por tu amor. Vielleicht gibt es wenige zeitgenössische asiatische Filmemacher, über die so viel geschrieben wird wie über Wong Kar-Wai. Das könnte daran liegen, dass seine Filme die subjektiven Erfahrungswelten der Filmkritiker und Autoren hervorrufen, die versuchen zu greifen, was man im Film und im Kopf so schwer zu greifen vermag. Es bereitet eine ungeheure Freude über die starbesetzten Filme zu schreiben, man fühlt sich angesprochen und möchte sich ausdrücken. Die Spiegel in seinen Filmen weisen nicht nur auf Eleganz und Oberflächlichkeit der Figuren hin, sondern auch immer auf den Film und den Zuseher selbst. Eine Rahmung bei Wong Kar-Wai ist kein Gimmick, sie ist Wesen seines Kinos, einer verschachtelten Wahrnehmung, in der sich Poesie in den kleinen Spalten öffnet, die zwischen der blockierten Sicht entstehen, die Realität als Traum begreifen. 

 
Leslie Cheung kündigt in „Days of Being Wild“ der schüchternen Soft Drink Verkäuferin gespielt von Maggie Cheung an, dass er in ihren Träumen vorkommen wird. Er jagt auch die Träume von Tony Leung in „Happy Together“. Träume und Erinnerungen, die spätestens in „2046“ verschwimmen. I’ve heard that there’s a kind of bird without legs that can only fly and fly, and sleep in the wind when it is tired. The bird only lands once in its life… that’s when it dies. Alles fliegt und schwebt und ist möglich. Zeitungen wenden sich auf Motorhauben, Menschen tanzen und töten, ein Flugzeug fliegt durch ein Zimmer, eine Zigarette wird vom Feuer der Augen alleine angezündet. Dabei sollte man genau zusehen, denn vielleicht passiert die entscheidende Berührung, der entscheidende Blick immer dann, wenn man es nicht erwartet. 
 
Im Zentrum fast aller seiner Filme und sicherlich aller seiner besseren Filme steht die Liebe. Man muss vorsichtig sein mit diesem Wort, aber sicherlich nicht bei Wong Kar-Wai. Er zeichnet Liebe in ihrer ganzen romantischen Konnotation und Grausamkeit. Auffällig dabei ist, wie der Regisseur Liebe als zeitliches Element begreift, wie sich die ganze zeitliche Struktur seiner Filme über ihre Romantik definiert und wie so das eigentlich herrschende Chaos zu einer Art Linearität und Chronologie gebracht wird. Der Grundstoff von Filmen ist Zeit und jener der Filme von Wong Kar-Wai ist die Liebe. Es liegt also äußerst nahe, dass in „Chungking Express“ über das Ablaufdatum einer Liebe sinniert wird. Wie ist das Verhältnis von Zeit und Liebe? Dieser Frage gehen fast alle Filme von Wong Kar-Wai nach. In „2046“ überwältigt die Trauer, der Verlust einer gescheiterten und unmöglichen Beziehung, von der in „In the mood for love“, einem Film, der seine romantischen Augenblicke an bestimmten Tagen im Jahr festmacht, eine Strukturierung der Liebe, zu der Wong Kar-Wai immer wieder zurückkommt. erzählt wird. Liebe könnte hier eine Erinnerung sein, Liebe könnte eine Dystopie sein, sie scheint aber auf keinen Fall an die Gegenwart gebunden. Eigentlich müsste man genauer schreiben, dass Liebe bei Wong Kar-Wai nicht an der Zeit hängt, sondern an der verlorenen Zeit. Diese läuft eben ab.  “Love is all a matter of timing.”, heißt es in “2046”. Kein Wunder, dass sich das Liebespaar in “Fallen Angels” in einer zeitlichen Verschiebung kennenlernt, einem „am selben Ort zu unterschiedlichen Zeiten sein und dabei die Präsenz des Partners spüren“.
In “Chungking Express” müssen gerade mal sechs Stunden vergehen bis aus einer Intimität mit einem Mann, eine Liebe zu einem anderen Mann entsteht. Dagegen scheint es in „Ashes of Time“ unmöglich zu vergessen, weil die Erinnerung, wie ein Geheimnis, das wir in einen Felsen sprechen eben nicht stirbt. Das ist die melancholisch-romantische Rettung für Wong Kar-Wai, der seine Liebe mit Zeit zerstört und dann in der Zeit konserviert. In „Days of Being Wild“ kann eine Minute alles verändern. Man kann sich in ihr verlieben oder in ihr Liebe vergessen. Was ist diese Minute? Ich denke dabei an Ingmar Bergmans „Vargtimmen“ und wie man eine Minute erleben muss, darf und soll. Das Ablaufen der Zeit ist bei Wong Kar-Wai ein Verlaufen der Gefühle. Gleichzeitig aber eine Art Karte, die durch das Labyrinth seiner emotionalen Bilder führt, denn wenn Zeit so sehr zersetzt und zersetzt wird, dann müssen mit ihm auch die Räume zerfließen, wie die Iguazú-Lampe in „Happy Together“ oder die nassen Fensterscheiben in „My Blueberry Nights“. 
„Wir könnten es nochmal versuchen“, sagt Leslie Cheung. Was heißt nochmal? Bei Wong-Kar Wai kann das nicht für immer heißen, es kann auch nicht in Zukunft heißen, nochmal heißt immer jetzt in dieser Sekunde. In sekundenlangen Blicken, nur von Zeitlupen und Walzertönen spürbar gemacht in „In the mood for love“ herrscht die absolute Gegenwart, die sich vor den Augen des Zusehers und der Protagonisten im Moment ihrer Entstehung verflüchtigen. Es ist als würde uns der Regisseur sagen, dass Liebe in Momenten entsteht, in denen sie schon wieder vergangen ist. Liebe ist ein hypnotischer Zustand in seinem Kino. We overcome in sixty seconds with the strength we have to together. But for now, emotional ties, they stay severed. Die Zeitlupensequenzen, die Vordergrund und Hintergrund in unterschiedlichen Geschwindigkeiten wiedergeben, sind nicht nur ein stilistisches Markenzeichen der Filme, sondern auch ihr Herzschlag, denn die Liebe und Zeit in den Filmen unterliegt auch immer einer subjektiven Wahrnehmung, die je nach Pulsschlag des Zusehers verschieden wahrgenommen wird. Wenn Film eine Form der Wahrnehmung ist und Zeit dafür essentiell ist, dann ist die Wahrnehmung bei Wong Kar-Wai, die eines oder mehrerer Liebender. Sie ist durchzogen von kräftigen Farben, von Helligkeit und Dunkelheit, sie ist in jeder Sekunde immer völlig auf ein inneres Gefühl gerichtet.
 
Aber man muss ehrlich sein. Die Figuren bei Wong Kar-Wai sind meist alleine, sie sind eitel und ich-bezogen, sie sind grausam und einsam. Seine Liebe besteht selten aus Nähe und Ehrlichkeit, sondern meist aus Melancholie und Sehnsucht, im Endeffekt aus Schmerzen. Hinter dem romantischen Ansatz seiner träumerischen Farben und Figuren versteckt sich die Hoffnungslosigkeit eines fatalen Ideals, einer Romantik, die nie zur Vollendung kommen wird. Wenn es bei Gaspar Noé heißt: „Die Zeit zerstört alles“, dann heißt es bei Wong Kar-Wai „Die Liebe zerstört alles“.