“What’s this? Am I falling? My legs are giving way,“ thought he, and fell on his back. He opened his eyes, hoping to see how the struggle of the Frenchmen with the gunners ended, whether the red-haired gunner had been killed or not and whether the cannon had been captured or saved. But he saw nothing. Above him there was now nothing but the sky – the lofty sky, not clear yet still immeasurably lofty, with gray clouds gliding slowly across it. „How quiet, peaceful, and solemn; not at all as I ran,“ thought Prince Andrew – „not as we ran, shouting and fighting, not at all as the gunner and the Frenchman with frightened and angry faces struggled for the mop: how differently do those clouds glide across that lofty infinite sky! How was it I did not see that lofty sky before? And how happy I am to have found it at last! Yes! All is vanity, all falsehood, except that infinite sky. There is nothing, nothing, but that. But even it does not exist, there is nothing but quiet and peace. Thank God!…”
Lev Tolstóy: Voyna i mir (translation by Louise and Aylmer Maude)
Warum heute noch über Stromboli von Roberto Rossellini schreiben? Wurde nicht alles gesagt, ist die Modernität des Films nicht längst ein Klassizismus geworden, seine Neuheit ein Standard? Eher nicht, vielmehr ist es dringender denn je. Wenn man den Film betrachtet, spürt man das. Die Erfahrung von Stromboli heute zeigt auf fast entblößende Art, was es bedeutet, wenn ein Filmemacher etwas von einem Film will. Wenn eine zu große Ambition auf ein riesiges Können trifft statt wie man es heute so oft sieht: Eine fehlende Ambition mit fehlendem Können umgesetzt wird. Der Film zeigt mit dem Vulkanausbruch nicht nur eine Naturgewalt, er ist selbst eine. Vieles in Stromboli arbeitet über das Wechselspiel aus innerem Schmerz und äußerem Ausbruch. Dabei wagt Rossellini die offene Emotionalität eines Widerspruchs, die Filmemachern, die heute in ähnlichen Konflikten arbeiten, oft fehlt: Der Glaube daran, dass das Kino in der Fiktion Realität sein kann.
Schon zu Beginn des Films, als der Soldat und Fischer Antonio hinter einem Stacheldrahtzaun vor einem Flüchtlingslager steht und versucht, die dort festgehaltene Litauerin Ingrid Bergman zu küssen, schneiden sich das Innen und das Außen an ihrer Unmöglichkeit und am Begehren der Überwindung ihrer Grenzen. Hier die festgesetzten Regeln, man darf nicht am Zaun stehen, man darf den Zaun nicht übertreten, dort das leidenschaftliche, bisweilen blinde Potenzial einer körperlichen Nähe, einer gemeinsamen Zukunft. Der Zaun hält die Emotionen innen, der Lauf der Dinge, die Natur, brechen daraus aus. Rossellini übersetzt diesen Zweikampf in eine Verzweiflung, die auch zwischen Fiktion und Dokumentation stattfindet. Die Fiktion ist das Gefängnis, die Welt ist der Ausbruch. Das bedeutet aber auch, dass die Fiktion sicherer ist. Deshalb werden ja Drehbücher geschrieben. Also übersetzt Rossellini diesen Konflikt in einen filmischen Zweikampf, eine filmische Sprache. Immer dann, wenn Ingrid Bergman, die an der Seite von Antonio auf der titelgebenden Fischerinsel jenseits ihrer Erwartungen ans Leben in Panik verfällt, aus der Fiktion ausbricht und das Land, ihrer Umgebung in sich aufsaugt, gibt es einen Funken von Hoffnung, eine Veränderung zum Besseren oder Schlechteren oder sagen wir ein Leben in ihrer Figur. Das gilt zum Beispiel für das Ende, als Bergman eine Nacht im Aschesand verbringt und am nächsten Morgen fast gleich des Wunders am Ende von Viaggio in Italia zu sich kommt. Dort wirkt die Welt auf die Fiktion ein. Das heißt man könnte das sehen, vielleicht tut sie es auch nicht, denn Rossellini zeigt uns einfach die Wirkung der Natur auf den Menschen, aber dieser Mensch könnte sich darauf folgend auch eine neue Illusion, Fiktion stricken. Auch ihre Begegnung mit den Arbeitern der Insel, die Rossellini von den starren Gesichtern echter Inselbewohner spielen lässt, ist ein solcher Zweikampf. Die Fiktion beherbergt die Vorurteile und die Distanz, die Dokumentation den Blick, der distanziert sein kann, aber nicht muss. Es ist die Abgeschlossenheit einer Idee und die Offenheit einer Arbeit. Aus dieser Begegnung heraus entsteht ein seltener Moment der Freude, als ein Baum in der Wohnung platziert wird. Eine Überwindung zwischen den Grenzen, die Natur in der Zivilisation, ein Öffnen des Stacheldrahtzauns.
Doch Bergman wankt unter der schwindenden Distanz, unter dem verblassenden Schauspiel, das sie selbst braucht und anwendet, um an Geld zu kommen. Sie verführt die Männer offensichtlich angezeigt als Fiktion, als Flucht vor (dieser) Realität. Und als ihr Mann ihr zeigt wie ein Frettchen einen Hasen tötet, kann die Kamera von Rossellini gar nicht nahe genug ans Geschehen, denn für ihn heißt Natur auch Überwindung des Spiels, der Distanz. Daher kommt auch das Gewicht des Films. Es ist nämlich nicht so, dass hier die reichen Städter mit einer Yacht angefahren kommen und einen Film über das Elend drehen. Nein, vielmehr tun sie das, aber liefern sich dem aus, was sie dort finden. Sie berühren es. Sie machen keinen Film über etwas, sondern mit etwas. Fast exemplarisch, die eigentlich etwas lächerliche und dennoch nie so wirkende Szene, als Bergman panisch von Mauer zu Mauer rennt und schreit: „I have to go out.“. Die Kamera in dieser Szene blickt von oben auf sie herab, während sie außer in ganz wenigen Ausnahmen (wie zum Beispiel bei den Musikern, die ein Lied für Bergman spielen) immer eher untersichtig oder auf Augenhöhe auf die Bewohner der Insel blickt. Einmal lässt Rossellini Bergman auf dem Höhepunkt ihrer emotionalen, panischen Künstlichkeit auf ein Kind treffen. Es sitzt auf einer Treppe und reagiert nicht auf die Schauspielerin. Es sagt: „No.“ und lässt sich vom Schauspiel schütteln, es trifft Bergman auf einer anderen Ebene, in einer Unmöglichkeit, die die Darstellerin fast vorführt. Es ist eben kein Kino des Glauben-Machens, sondern das Glauben-Hinterfragens. In Zeiten, in denen einen Marketingkampagnen zu Oscarfilmen und Kritiker (der Unterschied verblasst…) erzählen wollen, dass Filme früher so oder so ausgesehen haben, müsste man gleich dem Kind auf den Stufen sitzen, starren und antworten: „No.“.
Es gibt jene Szenen, in denen Bergman von Verzweiflung getrieben durch den Ort torkelt, die Kamera wie an ihr klebend, mit all dem Raum und dem Respekt vor der Fiktion ihres Spiels, das von Rossellini mehr und mehr wie eine Machtlosigkeit gegenüber der erbarmungslosen Realität von Stromboli montiert wird. Sie weint, sie hadert, sie gestikuliert, ihre Hand ballt sich kurz vor Schmerz, es ist ein Schauspiel, das alles gibt und doch versagen muss. Genau wie die Illusion ihrer Wohnung, die natürlich nicht bestehen bleibt im Kinobild von Rossellini. Die Natur wird sie zerstören. Eine Natur, die natürlich auch eine Fiktion ist, die aber nicht so gefilmt wird. Der Vulkanausbruch, die kreisenden Vögel, die rollenden Steine. Genau hier findet sich etwas, das im zeitgenössischen Kino oft hinter einem Zynismus, einem fehlenden Glauben an das Bild oder einer Ohnmacht zurücktritt. Der vom Film getragene Eindruck, dass das, was wir sehen, die Gefühle der Wirklichkeit in sich trägt. Dass es in einem Bild um etwas geht, dass man etwas zeigt, weil es so ist. In dem Augenblick, in dem Filmemacher sich gleich relativierenden Theoretikern hinter ihrer eigenen Subjektivität verstecken, verlieren ihre Einstellungen an Gewicht. Was von Nöten ist, ist der unbedingte Glaube, an die Realität eines Bildes. Das, was wir da sehen, passiert. Ein Vulkanausbruch ist dafür ein sehr gutes Beispiel, weil man ihn zumindest ohne visuelle Effekte nicht drehen kann, wenn er nicht wirklich passiert. Von Werner Herzog bis zum Beginn von Pedro Costas Casa de Lava, an dem Found Footage Material brennender Lava zu sehen ist, fühlen Filmemacher immer den mystischen Ruf des Feuers, das in sich und seiner Realität jene Illusionen trägt, die man niemals herstellen könnte. Man kann – wie Rossellini hier – Rauch erzeugen oder brennende Steine ins Bild werfen – man kann aber keine Totale machen von Steinen, die ins Meer rollen, von über Feuerströmen kreisenden Vögeln, von einer riesigen Aschewolke über dem Meer. Man kann keine Nahaufnahme von echtem Feuer machen, ohne dass es brennt. Man kann einzelne Elemente fiktional montieren, ja, man manipuliert zwangsläufig, aber Rossellini montiert sie so, dass er das Loch dazwischen betont, die Lücke zwischen der Kinoillusion und dem, was sie betrachtet, den Unterschied, den Widerspruch und Konflikt, der jener von Bergman ist und jener des Films. Die Kamera und die Welt, Reichtum und Armut, Emotion und Sachlichkeit, die alte und die neue Welt. Es geht hier also nicht darum, dass der Film eine Realität zeigt. Es geht darum, dass er das zeigt, was Film zur Realität fehlt. Das Begehren durch den Stacheldraht zu küssen, die Echtheit zu berühren. Der Blick auf einen Menschen, der jenseits des Kinos existiert, untermalt mit der überdramatischen Musik von Renzo Rossellini. Er trennt diese Elemente mit einem Komma, kaum spürbar und doch angezeigt. Damit schafft er keine Realität oder Objektivität, aber er zeigt das Potenzial des Kinos an, diese Dinge in sich zu tragen, sie wirklich zu zeigen.
Am eindrücklichsten zeigt sich das womöglich in der Thunfischszene, der Mattanza, dem Abschlachten der rasenden, fast vulkanisch ausbrechenden Fischschwärme, die zwischen den Fischerbooten eine äußere Panik erzeugen, ein Wasserinferno mit Fontänen von Flossen im Überlebenskampf. Bergman beobachtet dieses Schauspiel und Rossellini montiert diese Szene in Mitten einer kleinen Hoffnung auf ein besseres, fiktionales Zusammensein, inmitten der Liebesgeschichte des Films. Am Rand des Geschehens also die Fiktion, das Schauspiel, das Melodram inmitten der Natur, für einen Augenblick Hoffnung, dann aber die komplette Vernichtung dieser, als das blutige Meer auf die entsetzt starrende Schauspielerin platscht. Rossellini baut diese Szene auf, er lässt sich Zeit, letztlich erzeugt er den Konflikt, aber in zwei kurzen Bildern, die jedem noch so ignoranten Filmzuseher und Schubladendenker ein für alle mal sagen sollten, dass es zwischen Dokumentation und Fiktion keinen Unterschied gibt in der Arbeitsweise eines Films, sie existieren in ihrer Unterschiedlichkeit gleichzeitig, sie arbeiten zusammen oder wie im Fall von Stromboli gegeneinander. Diese zwei Bilder sind: Das aufbrausende Meer und der angstvolle Blick von Bergman in das Meer. Es gibt keine Möglichkeit, dass diese zwei Dinge nicht hintereinander montiert werden, das eine Bild ist nicht ohne das andere. Plötzlich wird das dokumentarische Meer, der nahende Thunfischschwarm, ein fiktionales Drama und Bergmans gespielte Reaktion darauf, eine Reaktion auf etwas Wirkliches. Nun wird Bergman in dieser Szene ganz entgegen der Ideale des größten Rossellini-Liebhabers André Bazin nicht zusammen mit den Tieren in einem Bild gefasst, sondern eigentlich schon mit dem Potenzial einer filmischen Lüge durch Schnitte davon getrennt. Es könnte sein, dass Bergman gar nicht vor Ort war, als die Mattanza abgehalten wurde. Aber in Stromboli geht es genau darum: Die Differenz zwischen einer Reaktion und ihrem Grund. Selbst als Bergman früher im Film den vom Gatten gebrachten Fisch mit Abscheu betrachtet, verharrt die Kamera lange nur auf ihrem Gesicht, ehe ein Schwenk und eine Bewegung ihrerseits die Lücke schließen, zumindest formal. Hier Bergman, das Gesicht aus dem tausende Kinoträume bestehen, der Star, ihr Blick, dem man gelernt hat zu folgen, der so etwas wie Identifikation sein soll, zumindest einmal Identifikation war und dort das Meer, unbeeindruckt, brutal. Dazwischen eine Unvereinbarkeit, die auch eine filmische ist und zwar nicht zwischen Dokumentation und Fiktion, sondern zwischen der Idee und dem Sehen, dem Kino, das die Umgebung beherrschen will und jenem, das mit ihr arbeitet. Der innere Schmerz und der äußere Ausbruch, das sind dann Emotionen, die sich genau in der Leerstelle zwischen der Idee und dem Sehen manifestieren. Wenn man sich Filme wie Few of Us von Sharunas Bartas oder Fort Apache von John Ford ansieht (um nur zwei Filme einer riesigen Geschichte zu nennen), dann kennt man diese Leerstelle zwischen dem Schauspieler und seiner Umgebung. Das Aufeinandertreffen von einer fiktionalen Gestalt und einem dokumentarischen Raum. Das ist etwas anderes, als die Arbeit mit Nicht-Schauspielern, denen fiktionale Szenen vorgegeben werden wie etwa bei Flaherty oder Costa. Narrativ kann man damit sehr unterschiedlich umgehen, Rossellini macht diese Leerstelle zu einem tragischen Konflikt, in dem schließlich innere Ausbrüche äußerlich angezeigt werden und sich äußere Harmonien im Innenleben widerspiegeln.
Wenn Bergman am Ende des Films nach Gott schreit, dann ruft sie auch nach einer Illusion, nach der Fiktion, die ihr unter den Füßen weggezogen wird im fiktionalen Spielfilm Stromboli von Roberto Rossellini. Oder eben nach der Realität, der sie ausgesetzt wurde in der Dokumentation Stromboli von Roberto Rossellini.
Das Il Cinema Ritrovato schickt gerade letzte Lichtstrahlen auf seine Leinwände. Kurz nach ihrer Abreise aus Bologna unterhalten sich Andrey und Rainer über ihr Bild dieses einzigartigen Festivals.
Rainer: Waren Ingrid Bergmans Augen wohl wirklich so blau, wie es uns das Festivalsujet weismachen will?
Andrey: Bestimmt für alle, die ihr in selbige geblickt haben. Aber ich habe hier bislang keinen einzigen Film aus dem Bergman-Tribute gesehen – nicht etwa aus Desinteresse, sondern weil mich das Alternativprogramm stets mehr reizte. Bologna besteht eigentlich nur aus Alternativprogrammen, findest du nicht? Egal, in welchem Film man sitzt, zumindest für einen kurzen Moment juckt einen das Bewusstsein, einen anderen zu versäumen, der womöglich ebenso spannend (und ebenso rar ist).
Rainer: Ich empfinde das ehrlich gesagt ganz anders. Natürlich kann man hier, wie auch bei anderen Festivals, von einem Screening zum nächsten hetzen, aber die besondere Qualität des Il Cinema Ritrovato ist für mich, dass hier keine so gespannte Atmosphäre, sondern eher Urlaubsstimmung herrscht. Da finde ich es dann auch nicht so schlimm, wenn ich mal etwas verpasse. Was soll es überhaupt bringen, den raren und überraren Filmen und Kopien nachzurennen?
Andrey: Nun, die offensichtliche Antwort wäre: Um die Zeit, die einem in diesem cinephilen Schlaraffenland beschieden ist, voll auszuschöpfen, um seinen Horizont zu erweitern und sich filmhistorisch auf den Gebieten weiterzubilden, zu denen einem der Zutritt für gewöhnlich mangels Verfügbarkeit der hier gezeigten Artefakte verwehrt bleibt, damit es einen später nicht reut, dass man einst den verlorenen Schlüssel zum Werk eines geschätzten Regisseurs oder einer faszinierenden Periode in Händen hielt und ihn achtlos beiseite geworfen hat.
Rainer: Das ist ein sehr nobles Anliegen, aber mich darauf zu Lasten persönlicher Vorlieben zu konzentrieren, würde denke ich erst recht meine cinephile Energie erschöpfen, sodass ich womöglich nach einiger Zeit gar nichts mehr mit diesem Schlaraffenland anfangen können würde. Da folge ich im Zweifelsfall doch lieber meinen Leidenschaften und verzichte auf einen Film, den ich vielleicht nie mehr wiedersehen kann (wenn er wirklich so rar ist, dass er zu meinen Lebzeiten nicht mehr gezeigt wird, liegt das womöglich eh daran, dass er nicht allzu gut ist, aber das ist eine andere Frage). Kino soll doch auch Freude machen, oder? Diese Grundeinstellung spüre ich hier in Bologna sehr stark.
Filmvorführung auf der Piazza Maggiore
Andrey: Das resultiert wohl auch aus der zuvor genannten „Urlaubsstimmung“ – das Wetter ist schön, das Essen gut und relativ preiswert, das Programm im schlimmsten Fall „bloß“ interessant, die Atmosphäre entspannt (in der Hinsicht, dass man nicht von seiner Umgebung gestresst wird, wenn man sich nicht stresst – das Gegenteil von Cannes), ebenso die Menschen, die eigentlich alle im Geiste Vertraute zu sein scheinen. Und die alte Universitätsstadt mit ihrem warmen, rötlichen Fassadenkleid macht den Eindruck eines offenen Campusgeländes, auf dem jeder immerzu Freigang hat. Soweit der idealisierende Touristenblick, aber ein bisschen frage ich mich schon, inwieweit die steigende Popularität dieses „Genussfestivals“ (das ich durchaus genieße) nicht symptomatisch ist für die Verlagerung erlebter Filmgeschichte in exklusive Domänen, wo die seltenen Kopien den Status erlesener Rebsorten annehmen und die Projektion zur Degustation wird.
Rainer: Und inwiefern ist das ein Problem? Es ist doch schön, wenn Film als Genussware wahrgenommen wird und wann in der Geschichte gab es denn einen Ort an dem Filmgeschichte bewusster erlebt und als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde als hier? Es ist mir nicht klar, welches Alternativprogramm du bevorzugen würdest – geht es dir um die Kinoerfahrung vergangener Jahrzehnte, wo man einfach mehrmals die Woche zur Unterhaltung ins Kino ging? Damals war das Bewusstsein für Filmgeschichte und Film als Kunst aber weit weniger vorhanden. Man konnte viele Filme sehen, aber fast ausschließlich aktuelle. Die zunehmende Marginalisierung dieser Kinokultur darf und kann man betrauern, aber ich sehe in dieser Spezialisierung eigentlich eine große Chance für die Filmkultur, auch wenn sie natürlich eine zunehmende Elitenbildung mit sich bringt, die man bekämpfen müsste (allgemein würde ich das Il Cinema Ritrovato aber ohnehin niederschwelliger einstufen als zum Beispiel das Österreichische Filmmuseum).
Andrey: „Exklusiv“ war vielleicht das falsche Wort, aber dieses Festival hat schon etwas von einer Enklave, und Enklaven neigen immer ein bisschen dazu, den Rest der Welt zu vergessen. Andererseits wird ja viel von dem, was hier gezeigt wird, später nach außen getragen und findet seinen Weg in die Cinematheken. Gibt es eigentlich etwas aus dem hiesigen Programm, das du besonders gerne wieder- und anderen zugänglich gemacht sehen würdest?
Rainer: Interessanterweise sind meine Favoriten alle ohnehin Werke relativ bekannter Filmemacher und nicht allzu schwer zu sehen. So zum Beispiel Otto Premingers Bunny Lake Is Missing, Anthony Manns The Heroes of Telemark oder Roberto Rossellinis Europa ’51. Nichtsdestotrotz waren auch die spezielleren Programme wertvolle Erfahrungen, vor allem die Vorläufer des Iranischen Neuen Kinos hätten sich mehr Präsenz verdient – und German Concentration Camps Factual Survey, nach nunmehr siebzig Jahren durch die Arbeit des Imperial War Museums das erste Mal in seiner endgültigen Form zu sehen, sollte zu einem Pflichtfilm für Mittelschüler werden.
„The Heroes of Telemark“ von Anthony Mann
Andrey: Viele der Filme, die du genannt hast, sind digital restauriert worden und wurden hier als DCP gezeigt. Rossellini und (soweit ich weiß) auch Preminger sind schon seit Längerem auf Bluray erhältlich. Ich mache mir dann doch eher Sorgen, dass es so etwas wie die Renato-Castellani-Schau nie über die Grenzen Italiens schafft. Obwohl das jetzt nicht alles Meisterwerke waren, ergänzen sie das neorealistische Universum um einen interessanten Aspekt. Und bei den ganzen Technicolor-Vintage-Prints sowie den japanischen und sowjetischen Farbfilmen würde ich mich auch freuen, diese filmspezifische Visualpracht anderswo strahlen zu sehen. Andererseits fand meine intensivste Kinoerfahrung hier im Rahmen einer Digitalprojektion (und außerhalb eines Kinos) statt, beim Screening der restaurierten Fassung von Rocco e i suoi fratelli auf der Piazza Maggiore.
Rainer: Wenn man es von dieser Warte aus betrachtet, kann ich mich dir nur anschließen: mehr Technicolor-Vintage-Prints braucht das Land. The Heroes of Telemark war allein durch die absurd hohe Qualität der Kopie eine außergewöhnliche Kinoerfahrung. Leider wurde die Vorführung dieses Films, wie auch viele andere durch inkompetente Projektionisten gestört. Wahrscheinlich zeigen sie deshalb Jahr für Jahr mehr digitale Kopien…
Andrey: Die wenigen Digitalprojektionen, die ich besucht habe, wurden auch nicht wesentlich professioneller gehandhabt. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich hier überhaupt keine einzige Vorführung erlebt, die nicht von irgendwelchen Störungen, Defekten oder anderen Irritationen geplagt war – der plötzliche Wettersturz während des Screenings von Louis Malles Ascenseur pour l‘échafaud am Tag unserer Ankunft war offenbar ein Menetekel, seiner sommerwilden Schönheit zum Trotz. Auch mit den Beginnzeiten nahm man es nie so genau, ausufernde Einführungen mit hinkenden Übersetzungen führten periodisch zu Verzögerungen, ich hörte sogar von einer 40-minütigen Verspätung. Eigentlich ist diese organisatorische Schludrigkeit absurd bei einem derart ostentativ cinephilen Festival, aber bezeichnend für Bologna ist auch, dass es diesbezüglich kaum böses Blut gibt, gerade mal ein leises Raunzen. Am Ende ist man immer noch froh, hier zu sein.
Seit mehreren Tagen bin ich nun in Bologna in einer ständigen Ekstase zwischen Raritäten, Klassikern und großartigem italienischen Essen. Als Neuling hier bin ich mit all den Sensationen konfrontiert, die für die regulären Festivalgänger schon längst zur Gewohnheit geworden sind. Bologna, das ist nicht Arbeit, das ist kein Hetzen von Premiere zu Premiere, sondern entspannte Cinephilie, nur unterbrochen von ebenso entspannten Essenspausen. Die Mehrzahl der Menschen, die mir hier begegnen bezeichnet sich selbst als Urlauber, selbst wenn sie nebenher für das ein oder andere Medium über das Festival berichten. Man nimmt sich Zeit für Bologna und das wirkt sich auf mehreren Ebenen auf die Atmosphäre aus. Einerseits hat man mehr Zeit zum Plaudern, zum gemeinsamen dinieren und weintrinken und andererseits ergeben sich viel substantiellere Gespräche über Film und Filmkultur als man es von Festivals gewohnt ist. Es treffen sich alte Freunde und solche die es noch werden wollen, in einer Art Paralleluniversum, während der Rest der Stadt höchstens von den Open-Air-Screenings am Piazza Maggiore Kenntnis nimmt. Anders als bei den prestigereichen Premierefestivals steht in Bologna keineswegs die Stadt still, wenn das Il Cinema Ritrovata Einzug hält – es ist ein Randphänomen, ein Paradies für Spezialisten. Dennoch laufen mir auch immer wieder Menschen über den Weg, die ganz ohne berufliche Obligationen das Festival besuchen. Sie sind keine Kritiker, keine Archivare, keine Filmwissenschaftler, keine Studenten, sondern pure Cinephile. Sie sind die kritische Masse, deren Liebe zum Kino so vielen großartigen DVD-Labels, Filmmagazinen und Cinematheken, das Überleben sichert. Sie sind Buchhalter und Bibliothekare, Männer und Frauen, die ihren Urlaub damit verbringen ihrer Leidenschaft fürs Kino zu frönen und nebenher Sonne und Tagliatelle (die berühmte Pasta alla bolognese isst man hierzulande nämlich nicht mit Spaghetti) zu tanken.
Intellektuell beflügelnd ist die intensive Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte ebenfalls. Die vielen kleinen aber sorgsam kuratierten Programme wirken wie Appetithäppchen, die Lust auf mehr machen sollen. Ein bisschen Ingrid Bergman hier (ihre leuchtend blauen Augen zieren das Festivalsujet), ein wenig frühes japanisches Farbkino da, meisterhafte Slapstickkomödien als Zuckerguss und zum Abschluss des Tages ein paar ultrarare sowjetische Filme aus der Tauwetter-Ära. Jeder Tag hält ein anderes Menü bereit, und die Auswahl (427 Titel!) ist so überwältigend, dass man schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass es keinen Sinn macht den raren Filmen und nie gezeigten Archivkopien hinterherzujagen und ganz ohne schlechtes Gewissen stattdessen gemütlich auszuwählen, wonach man Lust und Laune hat. Hier ist man nicht in Gefahr den einen Film zu verpassen, der in den nächsten paar Wochen den Diskurs beherrschen wird. Zwar kann man Filme verpassen, die vielleicht Jahrzehnte nicht mehr öffentlich gezeigt werden, aber die Gefahr eine besonders exquisite Pizza zu verpassen, wiegt oft schwerer. Solche Worte aus meinem Mund – das kann nur Bologna!