Ohne Sonne im Meer in Island liegt ein Film

In Island wurde ein Film im Meer gefunden: Filmisland

Sie haben einen Film aus dem Meer geholt. Fischer in Island. Ihre Hände. Netze voller Algen im Meer. Die gleichen Bewegungen im Sturm. Salz in der Luft. Plötzlich waren Filmdosen im Netz. Gefangen, geborgen. In Island im Sommer im Sturm. Derevenskij Detektiv heißt der Film. Ein russischer Film in Island. Man hat es herausgefunden. Man kann ihn sehen. Das Meer, Salz, Wind, Haie, sie haben ihn nicht berührt. Der Film im Meer in Island. Die Fischer, haben sie diesen Film gesehen? Haben sie den Film mit ihren salzigen Händen berührt? Sie haben gesungen, bestimmt. Ein isländisches Lied und dabei haben sie sich an das erste Bild in Sans Soleil erinnert. In der Kajüte in der Nacht steht ein Filmprojektor. Es war eine stürmische Nacht. Das Meer hat den Film gesehen. Jede Nacht. Jeden Tag. Die Fischer haben getrunken und gesehen. Den Film in einer Kajüte. Im Sturm, alles hat sich bewegt. Die Wellen waren die Leinwand. Das Bild hielt stand. Sie haben den Film nicht gesehen. Sie hatten Angst vor dem Film. Er war kein Fisch.

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Wer hat den Film ins Meer gebracht? Geworfen, verloren. Eine Frau, sie trägt keinen Lippenstift, sie spielt im Film. Sie steht auf einem Schiff und fährt. Ein schwarzer Mantel, ein schwarz/weißer Schal, ihre Hand auf der Reling, eine kurze Verzögerung bevor sie winkt. Ich kann die Bewegung nicht festhalten, weil das Schiff fährt. Sie mit dem Film. Es war diese Frau, die den Film ins Meer gebracht hat. Sie ist nach Island gefahren. Durch die Nacht. Sie ist nach Island gefahren, um sich zu vergessen. In der Nacht hat sie getrunken, viel getrunken, sie wollte ihre Erinnerungen von Bord werfen. Es war Nacht in Island. Sie hat die Filmdosen genommen, sie waren schwer, sie hat sie geworfen. Ihre Hand ist dabei ausgerutscht. Man kann dort noch heute eine kleine Narbe sehen. Zwischen Daumen und Zeigefinger. An der Reling. Sie hat nicht gehört wie der Film auf das Wasser getroffen ist. Das Boot war zu laut, die Wellen, die Schreie im Meer. Dann hat sie getrunken. Mit den Fischern. Sie haben gesungen. Den Film hat es nie gegeben.

Es ist geschehen, als niemand geblickt hat. Das Meer hat den Film verlangt. Es ist etwas in dieser Fassung, in dieser Kopie, was nie gesehen werden sollte. Es ist ein Bild, nur drei Sekunden, ein flüchtiger Kuss, der alles verändern könnte. Ein Kuss, der herausgeschnitten wurde. Ein Kuss auf dem Boot im Meer in Island. Algengeruch. Die Fischer in der Kajüte hätten diesen Kuss sehen können. Für sie hätte er nichts mehr bedeutet. Sie haben gesungen. Er war nicht für alle Augen bestimmt. Das Meer hat den Kuss geschluckt, gesehen, es hat ihn verlangt. Er hat seinen dicksten Mantel angezogen, eine Mütze. Er hatte Angst. Es war Winter in Island. Er stand auf einer Klippe im Wind. Er hat die Filmdosen zusammengebunden, damit keine entkommen kann. Sie haben geschrien, die Filmrollen in den Dosen, dieser Kuss hat geschrien. Der Mann wusste nicht, dass Filme Kiemen haben. Er hat ihn ins Meer geschleudert. Für ihn war der Film nur der Verräter einer geheimen Leidenschaft. Er starb trotzdem. Der Kuss nicht.

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Könnte das Meer den Film auch beschützen? Vor dem Feuer, im Meer könnte er nicht verbrennen. Die Fischer in Island rauchen nicht. Sie halten ihre Hände im Salzwasser und ihre Augen verdursten. Ein Verrückter ist auf dem Schiff gewesen. Die Frau mit dem schwarzen Mantel hat ihn gesehen. Er hat den Kuss gesehen. Nur drei Sekunden, ein kleiner Schnitt, es tut nicht weh, es tut so weh. Er wollte sich anzünden. Mit Benzin ist er über das Schiff getorkelt, hat geschrien, wir haben ihn nicht gehört, da das Boot zu laut war, die Wellen und die Schreie des Ozeans. Nicht dieser Film, nicht dieser Film, dachte ein Produzent, der nichts mehr sonst hatte außer Derevenskij Detektiv. Er hat den Film genommen, in Panik mit aller Kraft, und ist mit ihm ins Wasser gesprungen. Seiner Frau und seinen zwei Kindern hat man es nie erzählt. Der Film hat ihn auf den Grund gezogen. Als seine Lungen platzen sah er den Kuss, der ihm seine Karriere gekostet hätte. Der Filmproduzent, der gegangen ist. Es erinnert ein wenig an Humbert Balsan, an Le Père de mes enfants . Aber welcher Produzent muss nicht ins Wasser springen und mit seinen Filmen sterben? Dieser Film in Island im Sturm ist keine besondere Geschichte. Nur die Geschichte des Films im Meer in Island im Sturm.

In diesem Film ist das Meer. Um diesen Film ist das Meer. Als wären in und um im Film nicht immer das Gleiche. Die Fischer haben den Film verstanden. Sie konnten nichts verstehen, es war russisch. Aber sie haben das Meer gesehen und die Frau und sie haben verstanden. Den Kuss haben sie verpasst. Der Schatten einer Welle hat das Bild überdeckt. Die Kinder am Anfang von Sans Soleil sehen diesen Film nie, sie kennen diesen Kuss nicht. All die Filme im Meer, all die verlorenen Bilder, die wahre Geschichte des Kinos. Das Kino, das verschwunden ist, das man nie gemacht hat. Im Ozean. Wie viele Filme liegen dort, wie viele Küsse und Träume?

Aus der Donau wurde kürzlich auch ein Film geborgen. Flaschenpost, weil das Wasser durch die Zeit fließt. Man findet sie. Fischer finden sie. Sie tragen keinen Lippenstift. Mit ihren Algenhänden.

Nordische Filmtage Lübeck 2015: Land der Geysire

Hringurinn von Friðrik Þór Friðriksson

Bei Eröffnungen fühle ich mich immer furchtbar underdressed (wenn ich so herumlaufe wie immer), oder aber furchtbar affektiert (wenn ich mich schick mache). Normalerweise gehe ich gar nicht auf solche Eröffnungen, und sehe mir lieber einen Film ohne das nervige Geplapper an. Zu diesen Anlässen wird ohnehin ungemein viel über Film gesprochen, aber dabei wird zumeist auf Film ganz vergessen (also auf das worum es eigentlich gehen sollte). Eröffnungsfilme halten zudem selten was sie versprechen und sind meist so gewählt, dass danach möglichst schwungvoll zum ersten Piccolöchen gegriffen werden kann; eventuell noch mit etwas politischem Diskussionspotenzial um das Gespräch bei der Feier danach zu beleben. So weit, so gut. Nachdem mir die Nordischen Filmtage meine Eintrittskarte sogar per Post zugeschickt haben, bin ich hingegangen, habe mich underdressed gefühlt und danach ein wenig vom Sekt genascht.

Der isländische Un Certain Regard-Gewinner Hrútar, der als Eröffnungsfilm herhalten muss stellt sich allerdings als veritables Prunkstück nordischen Kinos heraus. Was anfangs wie eine typisch skandinavische Komödie erscheint – also Männer mit Bärten, die Schafe züchten und bei eisigen Temperaturen wenig sprechen – entwickelt sich zu einer Milieustudie eines aussterbenden Stücks isländischer Kultur. Die obligatorischen Landschaftsaufnahmen der malerischen Felder des isländischen Hochlands wechseln sich dabei mit den ähnlichen rauen Gesichtern der Protagonisten ab, die oftmals den gesamten Bildraum ausfüllen. Zuweilen wird dieser Kontrast etwas überstrapaziert, doch die Verbindung von Land und Leuten durch die Kamera gelingt vorbildhaft. Die herausragenden Schauspieler haben daran erheblich Anteil. Sie wirken, als hätte man sie eigens für den Film aus den Schafställen Islands vor die Kamera gezerrt und balancieren sehr eindrucksvoll zwischen der Intensität der kammerspielartigen Szenen im Inneren der Höfe, die durch den Schnee quasi von der Außenwelt abgeschnitten sind und den alltäglichen landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf der Weide und im Stall. Alles in allem entschädigte der Eröffnungsfilm für die Tortur der Danksagungen und Applausorgien.

Hrútar von Grímur Hakonarson

Island bereitete mir auch das bislang schönste Erlebnis hier am Festival. Friðrik Þór Friðrikssons Parforceritt Hringurinn ist eine echte Entdeckung. In der Mitte der Achtziger umrundete Friðriksson einmal sein Heimatland auf der ringförmigen „Ring Road“, die dem Film seinen Namen gibt. Dabei hatte er auf seinem Wagen eine Kamera montiert, die alle zwölf Meter ein Einzelbild aufnahm. In knapp über achtzig Minuten erkundet man also Island im Schnelldurchlauf. Der Film ist hypnotisch in seiner Monotonie aber gleichzeitig abstoßend durch die Hektik und Unregelmäßigkeit des Bildinhalts. In kurvenreichen Abschnitten kommt ein Gefühl auf, das entfernt an Seekrankheit erinnert, wenn der Wagen über die unbefestigten und teils vom Regen aufgeweichten Straßen rumpelt, verschwimmt das Bildfeld zu einem Farbenmeer aus blau, grün und braun. Friðriksson gelingt eine Synthese zweier großer avantgardistischer Traditionen. Einerseits finden sich in seinem Film Sedimente des strukturellen Films, insbesondere dessen Bestreben Raum, Zeit und Dauer auszumessen, andererseits spielt Hringurinn mit der Intensivierung von Bewegung, wie man es zum Beispiel aus Go! Go! Go! von Marie Menken kennt. In seiner Einführung verglich Kurator Jörg Schöning den Film mit den Phantom Rides des frühen Kinos. In dieser Hinsicht ist Hringurinn der Antipode zu Ernie Gehrs Eureka, der die Fahrt einer Straßenbahngarnitur in seiner zeitlichen Dimension ausdehnt. Beileibe ist das kein einfacher Film und provozierte eine Menge an walk-outs (die ersten bereits nach knapp zwei Minuten), wer durchhält wird allerdings mit einem einzigartigen Kinoerlebnis belohnt – der zweite Film von Friðriksson, der hier läuft wandert auf jeden Fall auch auf meine Liste.