Dossier Beckermann: Heimatsuche (Die papierene Brücke)

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

In manchen Fällen kann es aufschlussreich sein, Filme einem Umfeld auszusetzen, das ihnen nicht gerecht wird. Schlechte Sichtungsbedingungen können die Wahrnehmung derart beeinträchtigen, dass sich daraus neue Perspektiven auf einen Film ergeben. Das kann sehr produktiv sein. Ein Beispiel für so eine durch äußere Einflüsse verschobene Perspektive war ein rezentes Screening von Ruth Beckermanns Die papierene Brücke im Raum mit der vielleicht schlechtesten vorstellbaren Akustik. Er befindet sich ironischerweise im filmwissenschaftlichen Institut der FU Berlin, wo die Räumlichkeiten doch eigentlich dafür geeignet sein sollten audiovisuelles Material zu präsentieren. (Freilich ist das kein exklusives Problem dieses Instituts, denn die Seminarräume des TFM-Instituts in der Wiener Hofburg sind ähnlich schlecht für Filmvorführungen geeignet.)

Die Kombination aus unterirdisch schlechtem Ton-Setup, mittelmäßigen Boxen und mieser Akustik machte es beinahe unmöglich zu verstehen, was die Personen im Film sprachen. Da nur das Voice-Over einigermaßen zu verstehen war, blieb uns (einer Gruppe deutscher Muttersprachler) nichts Anderes übrig, als nach einiger Zeit die englischen Untertitel der DVD zu aktivieren, um den Erzählungen der Protagonisten folgen zu können.

Untertitel können den Klang und die Melodie der menschlichen Stimme jedoch nicht ersetzen. Eine Binsenweisheit, aber gerade im Fall von Die papierene Brücke, konnte man hören (oder eben: nicht hören), was durch die schlechte Tonqualität verloren ging. Dazu später mehr.

Eine Reise in die Erinnerung

Die papierene Brücke markiert einen Bruch im Filmschaffen Beckermanns. Waren ihre ersten Filme noch aus dem Geist der Arena-Bewegung als Form des politischen Aktivismus entstanden, so folgte mit Wien retour ein langsamer Übergang zu einem selbst- und formbewussteren Filmemachen. Nach einigen Jahren verstärkter publizistischer Tätigkeit hat Beckermann in Die papierene Brücke einen Stil entwickelt, den sie auch in ihren folgenden Filmen beibehalten sollte. Die stilistische Entwicklung lässt sich einerseits an einer Abkehr vom Reportagestil der früheren Filme festmachen (wenngleich das bereits zu großen Teilen auf Wien retour zutrifft) und andererseits an einer Wendung hin zum Persönlichen.

Mit Die papierene Brücke rückt die Familiengeschichte und die eigene Biographie ins Zentrum des Beckermann’schen Filmkosmos. Anders als noch in Wien retour, tritt Beckermann kraft ihrer Stimme nun selbst als Erzählerin auf. Zu Beginn des Films erzählt sie von ihrer Großmutter, die den Zweiten Weltkrieg als U-Boot überlebte, indem sie sich stumm stellte und phasenweise obdachlos durch die Straßen streunte. Während Beckermann das erzählt, filmt sie mit ihrer Kamera aus einer Straßenbahn, die am Wiener Ring entlangfährt – der Auftakt für eine filmische Reisebewegung, die sie auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit führt.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Sie reist nach Osten, nach Czernowitz, an die ehemalige Ostgrenze des k.u.k.-Reichs, in die damalige Sowjetunion, in die heutige Westukraine, in die Geburtsstadt ihres Vaters Salo Beckermann. Sie sucht nach Bildern zu den Erzählungen und Erinnerungen ihrer Verwandtschaft, ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Erinnerung lässt sich schlicht nicht bebildern, und nur mühevoll mit der Realität konfrontieren.

Der Film lebt von dieser produktiven Differenz vom Damals, das Beckermann nur aus Erzählungen und Büchern kennt, und vom Heute, das die Kamera aufzeichnet. Die Vergangenheit manifestiert sich in Spuren, ist (noch) nicht ganz verschwunden, lebt vielleicht so lange, wie die wenigen alten Männer und Frauen der jüdischen Gemeinde von Czernowitz den Sabbat feiern – die Jungen sind nach Israel gezogen, um dort eine bessere Zukunft zu gestalten, eine Utopie, die heute bereits Geschichte geworden ist.

„Gibt es ein Ankommen, das nicht Ende heißt?“

Beckermanns Reise ist eine Reise ohne klares Ziel. Sie grast Czernowitz und die umliegenden Dörfer ab und kehrt dann wieder zurück. Sie überquert Grenzen, legt Distanzen zurück, die damals, als ein Eiserner Vorhang Europa durchteilte, unendlich größer waren, als heute. Die Reise ist das Ziel. Eine weitere Binsenweisheit, doch selten so treffend wie in Die papierene Brücke: die langen Fahrten mit dem Auto, die investigative Spurensuche, die Begegnungen mit den letzten Resten einer Vergangenheit, die prägend für Beckermanns Selbstverständnis, aber trotzdem nicht die eigene ist. Die Reise ist der Katalysator für die Reflektion, wo sie genau hingeht, und welche Etappen dabei absolviert werden ist dabei gar nicht so entscheidend.

Der Holocaust als einschneidendes Familienerlebnis, das von den Überlebenden und Nachkommen geteilt wird. Es lässt Beckermann nicht los. Sie fragt, weshalb so viele starben, und manche überlebten. Sie ist nicht die einzige die diese Frage stellt. Ihre Gesprächspartner, die sich zum Teil untereinander in Diskussionen verwickeln, scheitern ebenfalls an einer Erklärung. Ist es das, das oftmals proklamierte Nicht-Darstellbare am Holocaust? Die Frage nach dem Warum?

Jacques Rancière hat dazu geschrieben, dass das Problem der Darstellbarkeit der Katastrophe nicht, wie so gerne nach 1945 von Theoretikern, Intellektuellen und Philosophen verkündet, zur Ohnmacht führt, sondern dazu, dass neue Möglichkeiten der Formgebung entstehen. Rancière bezog sich dabei auf Claude Lanzmanns Shoah, doch Die papierene Brücke stützt sein Argument ebenfalls. Reportage, Essayfilm, Biographie, irgendwo zwischen journalistischem, politisch-motiviertem Willen zur Vermittlung und cinephil-geschultem Willen zur Kunst (in dieser Zeit war Chris Marker ihre wichtigste Referenz).

Die Stimme, ein Leben

Zurück zu dieser besonderen Sichtung mit ihren Tonproblemen. Beckermann besucht ein Filmset, wo österreichische Juden als Komparsen für eine US-Doku über ein Konzentrationslager eingesetzt werden. In den Drehpausen diskutieren sie energisch, werfen ihre jeweiligen Biographien und Familiengeschichten ins Gefecht. Alle sprechen deutsch, die Untertitel geben wieder, was nur schwer zu verstehen ist. Unter besseren Bedingungen würde man noch viel mehr hören, als Lebensgeschichten und Meinungen zu politischen und historischen Entwicklungen. Die Stimmen ergänzen das Gesagte. Da ist eine alte Frau, die mit einem starken englischen Akzent spricht. Sie diskutiert mit einer jüngeren Frau, die mit schwachem österreichischem Akzent spricht. An einem anderen Tisch streitet ein alter Wiener mit einem jüngeren Mann, der nur gebrochen Deutsch, mit jugoslawischem Akzent spricht. Was sie in den Gesprächen von sich preisgeben wird ergänzt durch den Klang ihrer Stimme.

Markante Sprachfärbungen spielen bei Beckermann immer wieder eine Rolle. Der Akzent des Vaters spielt im Film eine prominente Rolle, findet sich auch Adi Doft, dem letzten Tuchhändler der Marc-Aurel-Straße, in Homemad(e). Das Sprachpotpourri in Zorros Bar Mizwa muss hier ebenfalls Erwähnung finden: Sophie hat einen englischen Vater, Sharon georgische Eltern, Moishys Familie spricht mit der fast ausgestorbenen, typischen Sprachfärbung der Jüdischen Gemeinde von Wien – Beckermann hat diese Spielart des Wienerischen durch ihr langes Interview mit Franz West in Wien retour für die Nachwelt dokumentiert.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Immer wieder drehen sich Beckermanns Filme um Menschen, die ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrer (Mutter-) Sprache haben. Die Auswanderer, die die deutsche Sprache vergessen wollen, um ihre bittere Vergangenheit zu vergessen. Neuankömmlinge in einem fremden Land (Sehnsuchtsland: Israel), wo das Gebrochene (Englisch, Deutsch, Russisch, Hebräisch) Landessprache ist. Diese Filme finden auch in den Nuancen dieser Sprachunterschiede statt, und wenn man das nicht hört, hat man den Film nur halb gesehen.

Zum Abschluss ein Satz in markant osteuropäisch-jiddisch gefärbten Deutsch: „Was soll ich in Israel machen?“ Salo Beckermann sagt diesen Satz gegen Ende des Films im Gespräch über seine Entscheidung nach dem Krieg in Wien zu bleiben. Aus dieser gewichtigen Entscheidung und der damit verknüpften Frage entsteht Beckermanns nächster Film Nach Jerusalem, wo sie dieses „Land der einzigen Möglichkeit“ filmisch vermisst und die Frage für sich beantworten möchte. Das größte Vermächtnis der Eltern, soviel wird klar, ist die Entscheidung für Wien. Wien ist Referenz-, Dreh- und Angelpunkt des (filmischen) Lebens von Ruth Beckermann. Jede Reise, die sie von dort wegführt – und das ist vielleicht entscheidender als Reiseziele, die es in ihren Filmen kaum gibt – ist letztlich rückgebunden an diesen Ort, von dem sie aufgebrochen ist, und den sie dadurch besser versteht, dass sie ihn für einige Zeit verlässt.

Film Reading: Jean-Marie Straub & Danièle Huillet edited by Ted Fendt

With the first English-language book on Danièle Huillet and Jean-Marie Straub in over a decade Ted Fendt and FilmmuseumSynema could not do much wrong. What we get is less a deep inside into the work of the filmmakers, but rather an introduction, an overview. It is a fitting book for students or anyone preparing for a new life with Straub-Huillet. Especially since the book has a sort of inherent sexiness that tries to give back a certain underground mentality to the filmmakers that often lose their attraction to young film lovers because in university, they are often presented as a sort of establishment or worse, the past. Which is absolutely wrong. How to experience the radical, the poetic when you are not alone (also among others) or in love? The book allows for this love or solitude by giving a mixture of straight matter of factness, transparence and quotes by the filmmakers as well as images, documents and a perspective on certain gestures, written or said. In other words: It leaves open a space that asks for discovery.

@Österreichisches Filmmuseum

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The book offers mainly an American perspective on the filmmakers. That as such is not necessarily a bad thing. The publication is motivated by a traveling North American retrospective and retrospectives are among the most common reasons to publish books on artists. Yet with Straub-Huillet it is a different, difficult case as the publishing history on them, and that included film criticism (very much so) is also the history of injustice, of simplification. With the book and especially the very intensely researched essay by Ted Fendt “ Dividing Lines. The Distribution and Reception of Jean-Marie Straub and Danièle Huillet‘s Films in the English-Speaking World“ this becomes clear. It is also mentioned that this kind of simplification has not only taken place in the English-speaking world. Nevertheless the idea of the book proposed by the 90-pages-essay “(Not Only) for Children and Cavemen. The Films of Jean-Marie Straub and Danièle Huillet“ by Claudia Pummer is more comprehensive than that. So, reading the book from beginning to end does not make much sense in this case. Better decide for one text and a week later maybe the next. It gives the impossible promise of being about all of Straub-Huillet while ultimately it decreases to an English-speaking perspective. It might have been more interesting to decide for such a limited approach from the beginning instead of mixing texts by German, French and American contributors and giving the idea of being about the whole career of the filmmakers. This criticism might feel a bit exaggerated and certainly some counter arguments exist that might have led to the publication as it is, but my problem is that such an approach ultimately leads to simplification. Again. Maybe it is inevitable to have those simplifications but then, why not admit from the beginning? No, Ted Fendt announces in his introduction a survey of each film, working methods and how the filmmakers have been considered and discussed over the years. I cannot help it but those things are not in the book.

That being said I have to admit that Pummer does more than all right in her comprehensive text that covers Straub-Huillet from their beginning up to now. It is entertaining, full of information and love. She manages to capture the spirit of Straub-Huillet‘s filmmaking while at the same time holding the necessary distance. If there was ever a text on the filmmakers in the spirit of Huillet‘s quote in Pedro Costa‘s Où git votre sourire enfoui?, “I am not afraid. I am watching.“ it certainly is this one. She manages because she writes with a rare confidence on the filmmakers that often are surrounded by mysticism and questions. With Pummer those questions are not neglected but somehow they are all part of the work, the work of the filmmakers, the work of the researcher. Of course, one would have to discuss about certain issues. For example, Pummer proposes a very short way from Straub-Huillet to Truffaut. While reading one almost gets the feeling that they share the same anger. With the noble exception of L‘Enfant sauvage touching points in their films are rare and just because there is an anger against a certain kind of cinema, it does not mean it is made of the same emotion. Of course, there are bridges like Daney who championed both, Truffaut and Straub-Huillet, but then, one should at least ask: How can the same anger lead to Antoine Doinel on the one hand and Anna Magdalena Bach on the other hand? Being a lover of both myself the thought that there might be a deeper connection than just being filmmakers from the same generation and country, knowing each other and so on, is seducing at first. It would need a closer view than possible in this article.

In its mid section the book contains three texts, love letters by filmmakers shaped or influenced by Straub-Huillet: John Gianvito, Harun Farocki and Jean-Pierre Gorin. Especially Gorin‘s piece on Où git votre sourire enfoui? is outstanding. It is not only full of great observations on Straub-Huillet, Mr. Costa and the film, it also shows that writing can be influenced by filmmakers. In the case of great filmmakers like Straub-Huillet this is possible as their philosophy is not the philosophy of images (God beware!) but of perception, of living. This becomes also clear in a section where co-workers like William Lubtchansky or Angela Nugara give short accounts of their experience in working with Straub-Huillet. Related to those accounts is also Barbara Ulrich‘s text about organizing the North American retrospective. It is related because working with Straub-Huillet is very much like working with their films and Ulrich knows both as almost no other person. It is about work, struggle and precision: Cinema. In my opinion, this demanded precision and ethical point-of-view makes it so hard to write about their films. Of course, there are some good texts but in good criticism there is always a sort of volatility, speed, it is a clash, a reaction, a perception and its mediation. Whereas Straub-Huillet take the luxury of time and patience. They give it back to us, no question. So writing about Straub-Huillet must be related to time and attentiveness. The second is rare among film writers, the first is impossible. It would be a revolution.

Filmmuseum München

@Filmmuseum München

The most seducing and dangerous text is a translated version of a great and divisive conversation of the filmmakers with François Albera. The interview was conducted at first by the Pompidou Center in 2001. Straub-Huillet refused to give in after those responsible for the publication demanded various cuts because among other things Straub makes a polemic comparison of the killing of animals and Jews. A conflict started with prominent Straub supporters such as Jacques Rancière taking the side of the filmmakers and the interview was turned down by the Pompidou Center while it was published in Hors-Champ in the same year. The interview is not necessarily great for its polemics, it is great because in it, the filmmakers give a very passionate and clear definition of what political cinema is in their opinion. The interview is crystal clear, thought-provoking as cinema itself, very passionate and tense. It also contains the observation many collaborators of Straub-Huillet (for example Thom Andersen) have made: Straub goes on and on, finds brilliant thoughts and then comes Huillet and sums it all up in one sentence.

Still, (somehow fitting) the most important part of the book is the materialistic part. It might seem superficial, yet it is so important to see that guy with his cigar, to see that woman sitting on the set of Moses and Aron with sandals, even to see their hidden smiles out in the open. To have it on a piece of paper. It‘s important to see their handwriting. This has nothing to do with illustrations, it has to do with sensual aspects of their cinema and way of living (which is the same as far as I can judge). It has to do with opening up to a cinema that is labelled so many things (even in the book), opening up to nowadays very difficult terms like radicalism. The idea of the terrorist has changed. When Straub repeatedly says that he is a terrorist there is no romanticism or sympathy in it anymore. Gianvito has some interesting thoughts concerning the terrorism of Straub in his text. He finds his personal way out with quotes by the filmmakers who say that their kind of rebellion is not for the apocalypse but for a better world. This better world beats at the heart of this publication. The Cine-Terrorists that Straub-Huillet are have nothing in common with the contemporary terrorist. It is about the way we work, about the way we live in and out of cinema. This is most touchable in the images the book contains, but also in the quotes and the gesture of writing about it, with it.

Trouble Features – Schwitzkästen des Politischen im Kino

Dieser Text erschien erstmals im Syn – Magazin für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (#8, 2014). Er bildet die theoretische Grundlage für eine vom Autor mitgestaltete, experimentelle Vorführungsreihe im Wiener Schikaneder-Kino, bei der Filme gegeneinander programmiert werden, die ästhetisch, thematisch oder anderswie im Clinch miteinander liegen – ohne dass dem Publikum im Vorfeld verraten wird, was es zu sehen gibt.

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Eine Reihe jüngerer politischer Theorien, deren Politikverständnis unter dem Begriff der radikalen Demokratie gefasst werden könnte, betrachtet das Politische in Differenz zur regulativen Politik als das Moment, in dem anerkannte Ordnungsstrukturen in Frage bzw. in ihrer Zufälligkeit, Unvollkommenheit und Veränderbarkeit bloßgestellt werden(1). Für Chantal Mouffe etwa ist „jede Gesellschaft das Produkt einer Reihe von Verfahrensweisen, die in einem Kontext von Kontingenz Ordnung herzustellen versuchen“(2) und basiert folglich auf einer „Form von Ausschließung. Es gibt immer andere unterdrückte Möglichkeiten, die aber reaktiviert werden können“(3). Die Reduktion auf eine total inklusive Hegemonie und die restlose Tilgung von Antagonismen, wie sie der Liberalismus anstrebt, ist daher illusionär und würde einer Eliminierung des Politischen gleichkommen. Es geht im Gegenteil um die Anerkennung der Tatsache, dass Politik eben kein bloßer „Austausch von Meinungen [ist], sondern ein Streit um Macht“(4), weshalb eine wahrhaft pluralistische Gesellschaft im Bewusstsein der Unhintergehbarkeit dieses Streits nach Wegen suchen sollte, auf Auslöschung von Feind_innen ausgerichtete ‚Antagonismen‘ in ‚Agonismen‘ zu überführen, die auf ein legitimes wie regelhaftes Kräftemessen zwischen Gegner_innen orientiert sind. In Mouffes Vorstellung einer radikalen Demokratie kommt es nie zu einer restlosen Verwirklichung derselben, bloß zur instabilen, vorübergehenden Verfestigung ‚hegemonialer Formationen‘ – rudimentäre Fixierungen bestimmter Ordnungen, Diskurse und artikulatorischer Praxen – für deren agonistische Gegenüber- und Infragestellung es Orte geben muss.

Theoretisch wäre das Kino nun ein ebensolcher Ort: Jeder Einzelfllm bildet, zählt man ihn als ästhetische Einheit(5), einen diskursiven Vorschlag, der in seiner speziflschen künstlerischen Ausgestaltung den Betrachter_innen eine bestimmte Weltsicht oder gar eine eigene Welt präsentiert, die beurteilt und mit anderen Vorschlägen oder der individuellen Subjektpositionierung verglichen werden kann. Es ermöglicht den Zuschauer_innen, die hegemoniale Formation, deren Teil sie sind, für die Dauer des Films zu einer anderen, utopischen, streitbaren in Bezug zu setzen, oder ihren Blick schlicht auf Unversöhnlichkeiten zu lenken, die an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt worden sind. Demnach wäre das politische Kino nicht die Friedenspfeife einer Konsensgesellschaft, sondern ein Podium für Konflikte, Widersprüche und Aporien aller Art – trouble im besten Sinne. Die Möglichkeiten des fllmischen Mediums, solche Reibereien anzuzetteln und ins Bild zu rücken, sind mannigfaltig und können in Form und Inhalt zur Geltung kommen. Dabei kann es sich schlicht um die narrative Darlegung eines alternativen Gesellschaftsmodells handeln, wie man sie oft in Science-Fiction-Filmen antrifft, das thematische Aufgreifen und künstlerische Aufarbeiten eines verdrängten Streitpunkts der Zeitgeschichte, oder aber die Konfrontation mit einer Ästhetik, deren Gestaltung und Wirkungsweise von der herrschenden Norm abweicht und damit deren Willkürlichkeit kenntlich macht. Überdies hat die Kinoerfahrung trotz aller Entwertungen, denen sie im Wandel der Zeit unterworfen war, als Vermittlungsinstanz immer noch einen Sonderstatus innerhalb der zeitgenössischen Medienlandschaft inne, wenn es um die Verbindlichkeit seiner Rezeption geht. Das Kino macht es einer_einem schwerer als gewohnt, sich abzuwenden und dem Streit mit dem Bild, dem Streit im Bild oder dem Streit der Bilder untereinander aus dem Weg zu gehen. Während die meisten technologisch fundierten Kommunikationskanäle der Gegenwart den Rezipient_innen in der einen oder anderen Form die Zügel in die Hand gegeben haben, behält es sich weiterhin ein minimales Maß an Autonomie ein. Jede_r Kinobesucher_in begibt sich gewissermaßen in die Obhut eines räumlichen Dispositivs, sie_er überantwortet einen Anteil ihrer_seiner Entscheidungs- und Handlungsmacht der Projektion, und obwohl sie_ihn niemand dazu zwingen kann, bis zum Abspann sitzen zu bleiben, ist der physische wie psychische Aufwand, aus der Schauanordnung herauszutreten, wesentlich höher als im Privaten, wo meist ein Mausklick reicht. Dies ist einerseits bedingt durch den psychologischen Einsatz, den man durch den bewussten Aufbruch ins Kino und üblicherweise auch den Kauf eines Tickets erbringt, aber ebenso wichtig ist der teilöffentliche Charakter einer Filmvorführung, die eine_n im Publikumspanoptikum unter permanente Selbstbeobachtung stellt. Hinzu kommt die symbolische Beschlagnahmung des sensorischen Apparats durch Raum und Technik: die Fixierung des Körpers, die Fokussierung des Blicks, die Orientierung der Aufmerksamkeit auf das Leuchten der Leinwand im Dunkeln. Insofern geht die_der Kinobesucher_in stets ein Risiko ein, das letztlich trotz mannigfaltiger Absicherungsoptionen unabweislich bleibt: die Gefahr der Konfrontation mit dem Unerwarteten oder Unangemessenen und daraus resultierenden kognitiven Dissonanzen, deren Bereinigung oder Verarbeitung eine physische (das Verlassen des Kinosaals) oder psychische (die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen) Leistung erfordert(6). In dieser Hinsicht ist das Guckkastenbühnen− und Musiktheater als bindende Schau−Stellung zwar vergleichbar, seinen populären Charakter hat es aber längst an das Kino verloren, das sich seit seiner Geburt an alle wendet, die sehen wollen. Dass das Politische im Kino zum Ausdruck kommen kann, will ich also nicht in Abrede stellen. Aber die kulturellen Verhältnisse liberaler Gesellschaften wirken wie Prellböcke für seine Wirkung, was ich im Weiteren etwas ausführen möchte.

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Um mit Jacques Rancière zu sprechen: Ein zentrales Problem des Kinos liegt darin, dass es nicht imstande ist, die Einbringung der Voraussetzung der Gleichheit eines jeden ästhetischen Vorschlags mit jedem anderen ästhetischen Vorschlag zu gewährleisten, weil es selbst innerhalb einer größeren kulturellen Formation operiert(7). Der Kampf der Bilder ist geschoben, die Verteilung der Wertigkeiten bereits vollzogen, bevor man überhaupt in den Ring steigen kann, denn ‚das Kino‘ als egalitäre Agora, in der alle Hierarchien fallen und die Parteien sich auf Augenhöhe begegnen, gibt es nicht. Statt dessen gibt es strikt voneinander getrennte, ökonomisch determinierte Kinodomänen mit ihren jeweiligen Funktionen, die innere Geschlossenheit vortäuschen: Das Multiplex ist für Unterhaltung zuständig, das Arthaus- und Programmkino für Kunst und sozial relevante Themen, das Filmarchiv und -museum für Filmgeschichte, d. h. alte Filme, und das Festival dient als Auffangbecken für nicht marktgängige Nischenproduktionen. Dies sind nicht nur die begriffiich diffusen Zuschreibungen, von denen die Erwartungshaltung geprägt ist, die Vorzeichen, unter denen die Wahrnehmung beim Betreten der Säle steht. Es sind auch die Kategorien, nach denen der Weltkinopool parzelliert wird: Jeder Film kommt seiner Beschaffenheit entsprechend in ein Becken mit seinesgleichen, so dass Konflikte oder Überraschungen ausgeschlossen werden – jedem Tierchen sein Pläsierchen. Innerhalb dieser Kategorien regiert in der Regel durchaus Gleichheit, aber als Gleichmacherei, die jeglichen Dissens zu vermeiden sucht; Gleichheit im Sinne Rancières ist aber etwas, das nie erreicht werden kann. Sie ist nicht das Ziel, sondern wie schon gesagt eine Voraussetzung, der abwesende, imaginäre Ausgangspunkt politischer Auseinandersetzungen, aus denen etwas Neues entstehen kann.

Kommt es doch zu Überschneidungen und Verschränkungen zwischen den Domänen, wenn ein Film also seinen ihm zugewiesenen Platz verlässt und aus irgendwelchen Gründen an einen Ort kommt, an den er nicht gehört, sind Konflikte vorprogrammiert und können zu bezeichnenden Gegenstrategien seitens der Ordnungshüter_innen führen. Ein schönes Beispiel hierfür wäre Terrence MaliKs von klassischer Narration drastisch abweichender Tree of Life(8), der kraft seiner Starbesetzung in vielen Multiplex- und Programmkinos anlief und dort reihenweise für Empörung sorgte, sodass ein Betreiber in Connecticut sich genötigt fühlte, an der Kassa einen Warnhinweis zu affichieren(9). Man könnte den Spieß auch umdrehen: Die Kür eines Blockbusters zum Eröffnungsfllm eines kleineren Filmfestivals würde zweifellos Unkenrufe ernten. Solche Transplantationen sind im Sinne des radikalen Demokratiekonzepts durchaus politisch, aber ihr Zustandekommen ist in der zeitgenössischen Vertriebslandschaft zumeist von einer wenig wahrscheinlichen Verkettung glücklicher Umstände abhängig und daher eine Seltenheit. Man muss außerdem davon ausgehen, dass die polizeiliche Logik in der Terminologie von Rancière, also jene „strenge Konflguration des Verhältnisses zwischen der Ordnung des Diskurses und der Ordnung der Körper […], die verschiedenen Wesen [und Ästhetiken, Anm.] verschiedene Räume anweist“(10), im Kinosaal weiterwirkt und sich womöglich gerade dort, entgegen etwaigen Eskapismustheorien, am Stärksten entfalten kann. Die_der Zuschauer_in wird im Falle einer Konfrontation mit einer ästhetischen Formation, die für sie_ihn „das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde“(11), – oder auch nur kraft ihrer Andersartigkeit auf die Kontingenz ästhetischer Hegemonien verweist – zwar provoziert, kann die Provokation aber in Folge ohne viel Auhebens ausblenden, da eine grundlegende Trennung aufrecht erhalten bleibt: die Trennung der Kinovorstellungen untereinander. Zwar kann es irritieren, wenn man ins Multiplex geht und dort einen Avantegardefllm vorgesetzt bekommt, und selbstverständlich will ich nicht behaupten, dass diese oder eine ähnliche Irritation für die_den Rezipient_in folgenlos bleiben muss, aber es gibt, und das ist das Entscheidende, keinerlei eindeutigen Ansporn, sie als etwas anderes zu registrieren als eine Anomalie, eine regelbestätigende Ausnahme, einen verschmerzbaren Systemfehler. Man sieht etwas, das eine andere Position einnimmt, als jene, die man gewohnt ist, aber der resultierende Skandal ist hintergehbar. Zum einen, weil man sich letztlich selbst die Schuld dafür gibt: Das Kino wird in Verleugnung der „entscheidenden Rolle der ökonomischen Macht bei der Strukturierung einer hegemonialen Ordnung“(12) als Instanz mit beschränkter Intentionalität begriffen, als Warenhaus mit Produkten zur freien Auswahl, wo man auch mal danebengreifen kann, eine offene Passage unterschiedlicher, vorgeblich gleichberechtigter Visionen der Wirklichkeit „auf neutralem Terrain“(13), die nicht miteinander konkurrieren und sich somit auch nicht in Frage stellen. Alle Angebote sind unverbindlich. Zum anderen, weil das Reglement der ästhetischen Domänen im Gesamten unangetastet bleibt. So lässt sich die Konfrontation mit einer innerhalb eines bestimmten Rahmens widersetzlichen ästhetischen Artikulation leicht rationalisieren: Man dünkt sich als Fehladressat_in im ‚falschen Film‘ und ist damit einverstanden, nicht einverstanden zu sein – im Saal nebenan läuft bestimmt der richtige(14). Der Konflikt wird also nicht explizit gemacht und Lärm bleibt Lärm. Im Englischen ist diese Idee in einem Alltagsidiom prägnant auf den Punkt gebracht, das für gewöhnlich ins Feld geführt wird, wenn sich in einer Diskussion kein Konsens herstellen lässt: ‚Let’s agree to disagree.‘ Der Zwist wird zur Grundlage einer scheinbar respektvollen Übereinkunft erklärt, die jeder_jedem ihre_seine Meinung lässt. Gemeint ist aber: ‚Let’s stop arguing and politely ignore each other because actual conflict would endanger our respective identities, and we all agree that that is not an option.‘ Die Bedrohung des Konflikts kann so stets auf die lange Bank geschoben, die ideologische Erschütterung abgefedert werden.

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Damit will ich keinesfalls das politische Potential des Kinos an sich in Zweifel ziehen; im Gegenteil sehe ich dieses immer noch als außerordentlich an, in all seinen Spielarten. Aber es soll auf die Relativierung seines Status als ideologische Konfliktzone hingewiesen werden, die über seine marktlogische Unterteilung in maximal halbdurchlässige Gehege für widersprüchliche Formen und Erzählungen mit jeweils klar deflnierten Zielgruppen zurückzuführen ist. Soll das Politische im Kino wieder stärker zum Tragen kommen, geht es folglich weniger um eine Politisierung der Filme selbst als um die Wiederherstellung der Unhintergehbarkeit der Konflikte zwischen den Filmen als Weltsichten, die Fokussierung ihres Kampfes um diskursive Hegemonie. Damit zwei fllmische ‚Gegner‘ aber in ein agonistisches Streitgespräch treten können – eines, das öffentlich ausgetragen wird und damit für jede_n ZusKauer_in als solches erkennbar ist – ist „das Bestehen eines gemeinsamen symbolischen Raumes notwendig“(15), und genau das ist der Fall beim double feature, eine Rezeptionsform, die ich hiermit als Vorschlag einer Methode der Herstellung produktiven Konflikts im Rahmen einer fllmkuratorischen Praxis zur Debatte stellen möchte. Ich meine hierbei weniger das klassische US-Modell. Dieses war ökonomisch determiniert und die Filme entstammten weitestgehend ein und derselben Industrie, was sie einander anglich und das Konfliktpotential schmälerte (was natürlich nicht heißen soll, dass es darin nicht trotdem zu widersprüchlichen Kombinationen kommen konnte)(16). Ich beziehe mich vielmehr auf die zeitgenössische Form, wie man sie zuweilen bei Festivals und in Cinematheken zu sehen bekommt: bewusst kuratierte Zusammenführungen verschiedener fllmischer Positionen, die relative ästhetische Freiheit genießen in der Selektion einzelner Beiträge und mit entsprechenden Absichten zur Erregung öffentlichen Ärgernisses genutzt werden können. Meine Grundthese ist einfach: Die Vorführung zweier Filme innerhalb einer Vorstellung nötigt die Zuschauer_innen dazu, diese Filme in Beziehung zu setzen. Wenn diese Gegenüberstellung darüber hinaus in irgendeiner Weise Widersprüche offenlegt, wenn die Filme also auf einer oder mehreren Ebenen miteinander streiten, entsteht durch diesen Konflikt ein Riss in der hegemonialen Formation, die eine Kinovorstellung üblicherweise ästhetisch konstituiert und eröffnet einen Raum des Politischen. Dieser Riss wird als solcher wahrgenommen, weil es in diesem Kontext ausgeschlossen ist, dass es sich dabei um ein Versehen handelt: Das double feature der Gegenwart impliziert Intentionalität, indem es die Wahlfreiheit der Betrachter_innen unterminiert. Es ist klar, dass jemand will, dass genau diese beiden Filme zusammen gesehen und zueinander in Bezug gesetzt werden, sonst gäbe es zwei separate Vorstellungen. Die rezeptionsseitige Unterteilung in einen ‚richtigen‘ und einen ‚falschen‘ Film wird hier zunächst auf Schwierigkeiten stoßen, sofern es keine hierarchisierenden Kennzeichnungen wie A- und B-Picture oder Haupt- und Vorfllm gibt. Ein double feature ist also nicht die Anerbietung einer diskursiven Formation, sondern die Anregung, einen Schritt zurückzutreten und sich den Dialog oder Widerstreit der Diskurse, den oben erläuterten Kampf um die Vormachtstellung, zu vergegenwärtigen(17). Einen theoretischen Vorläufer dieser Konzeption findet man im dialektischen Montageprinzip, wie es von Bertolt Brecht und Walter Benjamin ventiliert wurde. Die Hervorkehrung von Kor- relationen und Gegensätzlichkeiten ist ein Eckpfeiler des brechtschen Realismusbegriffs, denn „ein Ding wird real erst, wenn es in seiner Beziehung zu einem anderen erscheint, und um so realer, je mehr Dinge zu ihm in Beziehung treten. Die Wahrheit ist nie in einem Satze zu sagen“(18). Benjamins Kommentare zur Praxis des epischen Theaters führen dieser Methodik das Wort. Erkenntnisgewinn in der Kunst sei nur möglich, wenn man fließende Handlungen in abgeschlossene Gesten unterteilt und gegeneinander montiert, denn „die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen. […] Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang“(19). Das double feature mit seiner unübersehbaren Vorführungszäsur macht nun aus der ungebrochenen Handlung einer Kinovorstellung ein konfligierendes Gefüge, indem es die Filme selbst zu Gesten macht.

Doch selbstverständlich reicht die unreflektierte Parallelisierung zweier beliebiger Filme nicht aus, um Dissens zu schüren. Zwar beinhaltet Benjamins „Verständnis von produktiver Montage […] die fragmentierte Integration disparaten Materials. Allerdings wird es nicht willkürlich aneinandergereiht, sondern zusammengehalten durch ein Formgesetz“(20). Damit ein double feature zum trouble feature werden kann, muss dieses Formgesetz ein agitatorisches sein: Die Aufgabe der_des Kuratorin_Kurators ist dabei die Identifizierung des Konfliktpotentials zwischen zwei Filmen. Der Konflikt kann sich auf zweierlei Weise äußern. Am deutlichsten tritt er wohl zutage, wenn man Filme in eine Vorstellung packt – und so an einen gemeinsamen Ort bringt -, die ansonsten nicht miteinander in Berührung kommen würden, da das kulturelle Reglement ihre Trennung vorschreibt und sie in abgeschlossene Domänen verbannt, etwa die ungebrochene Projektion eines ‚alten‘ Films mit einem ‚aktuellen‘, eines verleihtechnischen Blockbusters mit einer verleihtechnischen Arthausproduktion, einer Industrieschöpfung mit dem Werk einer unabhängigen Einzelperson. Die Aporie liegt hier schlicht in der Unvereinbarkeit dieser Kulturprodukte innerhalb der gegebenen Ordnung im Sinne Mouffes. Der Blockbuster verlässt seinen Block ebenso wenig wie der Museumsfllm seine Ausstellung. In ihrer mutwilligen Verlagerung auf eine geteilte Leinwand liegt bereits eine grundlegende Transgression, und es ist klar, dass jeder Film, der in seiner Gestaltung eine gewisse Regelhaftigkeit aufweist – wie es bei nahezu allen Spielfllmen seit den Anfängen des Mediums der Fall ist, auch wenn diese Re- geln subtile Mutationen durchlaufen -, sich mit einem Film in die Haare geraten wird, der besagter Regelhaftigkeit eine klare Absage erteilt oder sein eigenes Regelsystem etabliert; thematisch erfordert es da kaum Überschneidungen. Die zweite Strategie, eine metatextuelle Verkoppelung über diametrale Positionierungen, geht tiefer und erfordert bereits mehr kuratorisches Feingefühl. In diesem Fall ist die „Tätigkeit […], die einen Körper von dem ihm angewiesenen Ort anderswohin versetzt“(21), immer noch förderlich, aber zweitrangig. Streit kann es hier nur geben, wenn es einen Gegenstand gibt, um den gestritten werden kann, wenn also Filme kollidieren, die auf ähnliche Fragen verschiedene Antworten flnden oder ideologisch unverträglich sind(22). Dies kann auf einer narrativen Ebene stattflnden, aber genauso produktiv wäre die Gegenüberstellung zweier widersprüchlicher Ideen von Kino, z.B. der opulenten Studiowelten eines Josef von Sternberg mit den Arbeiten des italienischen Neorealismus. Um zu verdeutlichen, wie derartige trouble features aussehen könnten, möchte ich nun zwei exemplarische Montagen unterbreiten.

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Come and See(23) beschreibt mit einer enorm intensiven Filmsprache (lang anhaltende tracking shots, verstörende Soundkulissen, ikonische Großaufnahmen, Betonung von Körperlichkeit und Materialität, Leidenspathos, desorientierende Ansichten von ausuferndem Chaos und Pandämonium) die Passionsgesschichte eines Jugendlichen im Weißrussland unter nationalsozialistischer Besatzung. Nachdem er sich anfangs voller Begeisterung den Partisanen anschließt, wird er beim ersten Bombenangriff von seiner Kompanie getrennt und stolpert im weiteren Verlauf buchstäblich von einem Höllenkreis in den nächsten, bis alle seine Illusionen über die Natur des Krieges abgeschabt sind. In der letzten Szene des Films sieht er, nun wieder Teil einer sowjetischen Kohorte, ein Hitler-Porträt im Dreck liegen, und seine aufgestaute Wut entlädt sich: Während er hasserfüllt sein Gewehr auf das Bild feuert, montiert Klimov Archivmaterial im Rückwärtsgang, als würde jeder Schuss ein Stück der faschistischen Verheerungen ungeschehen machen. Nach etlichen Salven erstarrt die Auhebung und Hitler blickt uns als Baby aus den Armen seiner Mutter an. In diesem Augenblick hält auch die Hauptfigur entgeistert inne. In Anlehnung an Emmanuel Lévinas könnte man sagen: Die ethische Anrufung durch das exponierte Antlitz des Anderen(24) verbietet ihm, abzudrücken und den Widerruf zu vollenden, ungeachtet des entsetzlichen Preises. Quentin Tarantinos Inglourious Basterds(25) hingegen drückt ab, ohne zu zögern: Eine aus jüdischen Soldaten rekrutierte ‚Nazijäger‘-Spezialeinheit plant ein Attentat auf Hitler und seine Junta, das am Ende des Films – gegen die historischen Tatsachen – erfolgreich in die Tat umgesetzt wird. Im unmittelbaren Anschluss an Come and See muss das wirken wie ein direkter Vergeltungsschlag (jener spielt 1943, dieser ein Jahr später), auch weil sich die dramatischen Höhepunkte der Filme in vielerlei Hinsicht spiegelbildlich verhalten. Ersterer stellt das Massaker von Chatyn nach, bei dem ein SS-Sonderkommando sämtliche Einwohner_innen eines weißrussischen Dorfes in eine Scheune sperrte und diese in Brand setzte. Inglourious Basterds imaginiert eine Rachephantasie, bei der die NS-Elite in ein Kino gepfercht und dem Feuer überantwortet wird. Beides wird inszeniert als delirierender Todesrausch, in deren dröhnender Horrorkakophonie das Hohngelächter der Peiniger_innen mit den Todesschreien der Opfer verschmilzt. Dennoch erweist sich Tarantinos Postulat des Rechts auf alttestamentarische Vergeltung im Freiraum des Kinos als Antithese zu Come and See, der solche Rachegelüste anzufachen scheint und sich trotzdem verbittet, ihnen vollends anheimzufallen. Sein Epilog setzt ebenso dazu an, die Historie mit den Mitteln des Films zurechtzurücken, insinuiert dann aber, dass das fünfte Gebot trotz allem intakt bleiben muss, wenn die Welt nicht im Chaos versinken soll – selbst das Kino mit seinen uneingeschränkten Möglichkeiten trägt für Klimov ethische Verantwortung. Das immense Pathos dieser finalen Momente verdankt sich der Evokation einer moralischen Selbständigkeit im Leiden, der Selbstbeherrschung im Zustand äußerster affektiver Angespanntheit. Inglourious Basterds dagegen gewinnt sein nicht minder beträchtliches Pathos aus der bedingungslosen Hingabe an den Affekt – der explosiven Entladung des Zorns, der sich aus historischem Bewusstsein speist. Auch hier flndet sich im Übrigen die Montage des fratzenhaft verzerrten Gesichts eines wutentbrannten Basterd-Rächers mit einer Ansicht seines Hassobjekts – Hitler als ultimativer Signiflkant des absolut Bösen – doch in diesem Fall gibt es keine Gnade. Durchsiebt wird allerdings eine in ihrer Billigkeit offenkundig und wohl bewusst als fllmisches Requisit erkennbare Atrappe, während bei Come and See ein photographisches Dokument Einhalt gebietet. Auch das bezeugt die getrennten Agenden der beiden Filme: Klimov ist letztlich der Wirklichkeit verpflichtet, Tarantino der Phantasie. Und obwohl man bei keinem der beiden Filme von einer eindeutigen Botschaft sprechen kann, werden hier doch die Grenzen des Ethischen auf unvereinbare Weise ausgelotet – sie flnden konträre Antworten auf dieselbe Frage – und diese Unvereinbarkeit fordert die Stellungnahme der Zuschauer_innen stärker, als es einer von ihnen allein getan hätte. Der Widerspruch liegt dabei auf der Erzählebene – das Extrembeispiel eines formal-ideologischen Clashs wäre hingegen die Gegenüberstellung von 300(26) und LanceIot du Lac(27). Beides sind Filmfassungen von Heldenmythen (im ersten Fall der Schlacht bei den Thermopylen, im zweiten eines Abschnitts der Artussage), aber sie negieren sich in jedem Kader. Snyder ist in seiner Adaption eines Comics von Frank Miller darum bemüht, dessen Schicksals- und Kriegspathos ungebrochen auf die_den Zuschau- er_in zu übertragen und bedient sich dafür aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Zwar ist die Mär vom Stoßtrupp, der unter der Leitung des Königs Leonidas gegen den Willen der Diplomaten loszieht, um „for sparta, for freedom“ den persischen Horden die Stirn zu bieten, durch eine erzählerische Rahmung samt Voice-Over als Legende gekennzeichnet, aber der Film ist mehr als gewillt, sie zu drucken. Die Bilder eifern der Vision vom ehrenhaben Heldentod und der schrecklichen Schönheit des Krieges, die vom Narrativ aufgetischt wird, in jeder Hinsicht nach. Lancelot du Lac hingegen reißt schon zu Beginn eine ironische Kluft auf zwischen Ereignis und Überlieferung. Nachdem die eröffnende Einstellungsfolge in knapp fragmentierter und unglamouröser Manier Szenen namen- und gesichtsloser Ritter beim Morden und Plündern aneinanderreiht, ist im auktorialen Prolog von den „fabelhaften Abenteuern unserer Helden“ die Rede. Unmittelbar ersichtlich ist auch, dass sich Bressons Verhältnis zu fllmischer Wahrheit und Wirklichkeit drastisch von der Snyders unterscheidet. Bresson ist einem radikalen Materialismus verpflichtet: Seine reduktionistische Stilistik – die nahezu vollständige Abwesenheit nondiegetischer Musik, die vorwiegend statische Kamera, das Anti-Schauspiel seiner ‚Modelle‘, die naturalistisch-karge Ausstattung – sperrt sich gegen konventionelle Pathosformeln. Seine Welt und seine Figuren haben das Gewicht des Realen, und ein Bild bedeutet nie mehr als das, was es zeigt. 300 macht die Realität seiner Fabel untertan. Seine hermetische Digitalästhetik ermöglicht maßgeschneiderte Bild- und Tongestaltung, die bis ins letzte Detail den atmosphärischen wie ideologischen Anforderungen der Handlung entspricht und einer symbolisch aufgeladenen Mise en Scène Vorschub leistet. Die einheitlich athletischen Männerkörper des Films überwinden im Dienste einer pathetischen Gewaltchoreographie wiederholt die Gesetze der Schwerkraft oder dehnen den Ablauf der Zeit, und seine mit treibender Musik untermalten Schlachtgemälde transportieren stets etwas über das Schlachten hinaus, und sei es auch nur die erhabene Anmut disziplinierten Kriegshandwerks. Eine Enthauptung ist hier ein dramatischer Höhepunkt. Im Vergleich dazu wirken die Kampfszenen in Lancelot du Lac völlig sinnentleert, nahezu lächerlich: schlaksige Ritter in unentwegt scheppernden Rüstungen, die bei natürlichem Licht irgendwo im Wald ungelenk und mechanisch aufeinander einschlagen, bis einer in sich zusammenklappt. Eine Enthauptung ist eine Enthauptung. Ebenso wenig wie einen heiligen Gral scheint es hier einen Gott zu geben, der der Handlung über die Form eine höhere Bedeutung zugestehen würde, während bei den griechischen Kriegern hinter jedem Hieb ein Ideal steht, das diesen unterschwellig legitimiert. 300 peitscht die_den Zuschauer_in auf, wie die Perser ihre monströsen Elefanten, er will ihn für seine Sache gewinnen. Entsprechend häuflg lässt er seinen Heldenkönig Brandreden schwingen, die in Aufbau und Lautstärke auf maximale rhetorische Überzeugungskraft getrimmt sind. Der apathisch-monotone Duktus aller Sprechenden bei Bresson erzeugt dagegen eine Art kommunikatives Vakuum. Faszinierend ist auch, dass die beiden Filme aus verschiedenen Gründen auf sehr ähnliche Schlusssequenzen hinauslaufen, die ihre konträren Haltungen auf den Punkt bringen. Snyder porträtiert stolze Krieger, die ihr intaktes Wertesystem zum Wohle der Nachwelt unter Einsatz ihres Lebens vor den illegitimen Angriffen einer externen Macht schützen. Die Gemahlin Leonidas‘ trennt sich nur ungern von ihm, fügt sich aber stoisch der Notwendigkeit seines Opfers, das hier seine überdeutliche Affirmation über die Form erfährt: Nachdem der Heros standhaft einer Übermacht getrotzt hat, geht er von Pfeilen durchbohrt zu Boden und erstarrt in einer Pose, die christlichen Märtyrerbildern nachempfunden ist. Seine letzten Worte – „my queen, my wife, my love“ – klingen wie eine todeskitschige Grußbotschaft. Ein Epilog versichert dem Publikum, dass seine Taten nicht vergebens waren; die Nachwelt wird sich tatsächlich erinnern, wofür er gestorben ist. In Lancelot du Lac zerrüttet ein durch verfehltes Ehrgefühl und Bigotterie befeuerter interner Zwist eine Rittergemeinschaft, deren Spitzen am Ende gegeneinander ins Feld ziehen. Guinevere versteht nicht, warum ihr Geliebter Lancelot gegen Artus kämpfen muss, und er scheint es selbst nicht zu verstehen. Der Determinismus der Bilder kommt im Finale unmissverständliK zum AusdruK, das den Heldentod buchstäblich als folgenlosen Sturz ins Nichts inszeniert: Nach einem kurzen Geplänkel, dessen Verlauf sich der_dem Zuschauer_in kaum erschließt, fällt Lancelot tödlich verletzt zu Boden und der Film reißt abrupt ab. Sein letztes Wort, „Guinevere“, klingt wie eine verzweifelte Erkenntnis, die zu spät kommt – eine Nachwelt gibt es nicht. Bresson entwickelt hier durchaus seine eigene Form von Pathos, die man existentialistisch nennen könnte; mit jener Snyders ist sie aber durchweg inkompatibel und muss auf deren Affektballon im direkten Anschluss wie eine Nadel wirken.

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Anschließend sei nochmals gesagt: Das Trouble-Feature-Konzept, wie ich es ausgeführt habe, ist der Vorschlag einer Methode der fllmkuratorischen Praxis. Ein Beispiel dafür, wie dessen Umsetzung aussehen könnte, wäre etwa der Programmzyklus Was ist Film, den das Österreichische Filmmuseum seit 1996 zeigt. Dieser wurde von Peter Kubelka als kuratorischer Versuch einer empirisch erfahrbaren Deflnition der Essenz des Mediums als originäre Kunstgattung konzipiert. Er umfasst 63 Programme, welche ihrerseits überwiegend aus mehreren aufeinanderfolgenden Einzelfllmen bestehen, die bis auf kurze Lichtpausen ohne Unterbrechung projiziert werden. Die Kontextualisierung der Vorführungen und ihrer Bausteine beschränkt sich auf basale Eckdaten im Programmkatalog. Dabei stehen oftmals „Dokumente, die nicht auf ein und dasselbe hinauslaufen, neben- oder gegeneinander“(28). Kubelka selbst bezeichnet „Filmmontage“(29) als das Modell für seine Programmreihe: „Es bedarf immer der Verbindung zweier Teile, um etwas auszudrücken: Zweier Wörter, zweier Noten, zweier Linien, zweier Meinungen, zweier Einzelbilder – oder eben zweier Filme“(30). Die Kombinationen sind „genau beabsichtigt. In der Zusammenstellung liegt immer auch eine Aussage“(31), deren konkreten Gehalt sich die_der ZusKauer_in allerdings selbst zusammenreimen muss. So wirft der dritte Teil der Serie mit der Kontrastierung unterschiedlicher Formen fllmischer Dokumentation und Wahrheitsfindung – Nanook of the North(32), Auszügen aus Kinopravda(33) und Window Water Baby Moving(34) – die Frage auf: „Welcher dieser drei Filme stellt nun die sogenannte ‚wirkliche Welt‘ dar“(35)? Die Verschränkung von Katzelmacher(36) und Outer Space(37) im 34. Kapitel wiederum bezeichnet der Filmkritiker Stefan Grissemann als „Konfrontationsprogramm“(38), dessen Bestandteile „ästhetische Endpunkte [und] Extrempositionen“(39) markieren. Dennoch ist das Zyklische Programm klar als fllmpädagogischer Erfahrungsraum kodifiziert. Wenn die cinephile Vermittlung ihre politische Sprengkraft wiederbeleben will, sollte sie dem ZusKauer solche und ähnliche Zumutungen auch außerhalb der geschützten Hallen eines Filmmuseums zutrauen.

1. Vgl. Thomas Bedorf, „Das Politische und die Politik. Konturen einer Differenz“, Das Politische und die Politik, hg. v. Thomas Bedorf/Kurt Röttgers, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 13–37, hier S. 13ff.
2. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankf. a. M.: Suhrkamp 2007, S. 25.
3. Ebd., S. 27.
4. Ebd., S. 68.
5. Hierfür muss man ästhetische Entwürfe außen vor lassen, die den Konflikt zum Teil ihrer Struktur machen,
z. B. Lucía (1968) von Humberto Solás, der aus drei klar voneinander getrennten Episoden besteht, die sich verschiedenen Geschichtsperioden Kubas auf formal unterschiedliche Weise widmen.
6. Auch eine Verweigerung des Gesehenen kann in diesem Kontext als Leistung bezeichnet werden.
7. Vgl. Jacques Rancière, „Gibt es eine politische Philosophie?“, Politik der Wahrheit, hg. v. Rado Riha, Wien: Turia + Kant 1997, S. 64–93, hier S. 67f.
8. The Tree of Life, Regie: Terrence Malick, US 2011.
9. Der Hinweistext lautet: „In response to some customer feedback and a polarized response from last weekend we would like to take this opportunity to remind patrons that The Tree of Life is a uniquely visionary and deeply philosophical film from an auteur director. It does not follow a traditional, linear narrative approach to storytelling. We encourage patrons to read up on the film before choosing to see it, and for those electing to attend, please go in with an open mind and know that the Avon has a No-Refund policy once you have purchased a ticket to see one of our films. The Avon stands behind this ambitious work of art and other challenging films, which define us as a true art house cinema, and we hope you will expand your horizons with us“; Eugene Hernandez, „Movie Theater to ,Tree of Life‘ Customers: Enter At Your Own Risk!“, Indiewire, 2011, http://blogs.indiewire.com/eug/movie_theater_to_tree_of_life_customers_enter_at_ your_own_risk, 18. 12. 2013.
10. Rancière, „Gibt es eine politische Philosophie?“, S. 68.
11. Ebd., S. 67.
12. Mouffe, Über das Politische, S. 72.
13. Ebd., S. 70.
14. Dies gilt auch für das Modell zeitgenössischer Filmfestivals. Marijke de Valck bezeichnet diese am Beispiel des Internationalen Filmfestivals Rotterdam als ‚cinephile Multiplexkinos‘, die zwar der Sichtbarkeit marginalisierter Formen Sorge tragen, sich in ihren Programmstrukturen aber unweigerlich von marktlogischen Überlegungen leiten lassen und kaum Engführungen widersprüchlicher Formen bemühen; vgl. Marijke de Valck, „Drowning in Popcorn at the International Film Festival Rotterdam? The Festival as a Multiplex of Cinema“, Cinephilia. Movies, Love and Memory, hg. v. Marijke de Valck/Malte Hagener, Amsterdam: Amsterdam Univ. Press 2005, S. 97–110.
15. Mouffe, Über das Politische, S. 158.
16. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass dieses Modell oftmals produktive Antagonismen auf der Produktionsseite zuspitzte: Der japanische Regisseur Seijun Suzuki etwa hat immer wieder betont, dass das Kastensystem im Nikkatsu-Studio der 60er-Jahre – also die verschiedenen Handlungsspielräume
und Statusdifferenzen seiner A- und B-Abteilungen – ihn erst zu den Grenzüberschreitungen und formalen Wagnissen seiner B-Filme anspornte; vgl. Tony Rayns, „Branded to Kill. Reductio Ad Absurdum“, The Criterion Collection, 2011, http://www.criterion.com/current/posts/2096-branded-to-kill-reductio-ad-absurdum, 12. 12. 2013.
17. Dieses Konzept ist nur insofern dem Grad didaktisch, als jede Form von Filmvermittlung in ihren Grundzügen didaktisch ist. Sie geht bloß einen Schritt weiter als die Praktik, zwei Filme, die die_der Kurator_in in Bezug setzen will, hintereinander in getrennten Vorstellungen zu programmieren. Die Einladung zur Gegenüberstellung ist deutlicher hervorgekehrt. Darin liegt die (milde) Anmaßung und das politische Potential (denn das Politische und die Anmaßung liegen in der radikalen Demokratietheorie eng beieinander). Ob und inwieweit die_der Zuschauer_in darauf eingeht, ist aber weiterhin ihr_ihm überlassen.
18. Bertolt Brecht, „Wahrheit (2)“, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21: Schriften l. l9l4–l933, hg. v. Werner Hecht et al., Berlin/Frankf. a. M.: Aufbau/Suhrkamp 2003, S. 428.
19. Walter Benjamin, „Der Autor als Produzent“, Gesammelte Werke. Bd. 2: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und andere Schriften, Frankf. a. M.: Zweitausendeins 2011, S. 513–527, hier S. 525.
20. Sven Kramer, „Montierte Bilder. Zur Bedeutung der filmischen Montage für Walter Benjamins Denken und Schreiben“,
‚In die Höhe fallen‘. Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie, hg. v. Anja Lemke/Ulrich Wergen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 195–212, hier S. 200.
21. Rancière, „Gibt es eine politische Philosophie?“, S. 67.
22. Es soll aber nicht darum gehen, ideologisch ‚gute‘ Filme auf die Schultern von ‚bösen‘ zu stellen. Es ist z. B. wesentlich einfacher, den ,guten‘ Autorenfilm gegen das ,böse‘ Hollywood ins Rennen zu schicken, als Positionen auf beiden Seiten zu finden, die ihre divergierenden Standpunkte in Grundsatzfragen zum Medium (oder zum Leben) auf überzeugende Weise vertreten.
23. Come and See, Regie: Elem Klimov, UdSSR 1985.
24. Vgl. Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien: Passagen 2008, S. 64.
25. Inglourious Basterds, Regie: Quentin Tarantino, US 2009.
26. 300, Regie: Zack Snyder, US 2006.
27. Lancelot du Lac, Regie: Robert Bresson, FR/IT 1974.
28. Stefan Grissemann/Alexander Horwath/Regina Schlagnitweit, „Vorwort“, Was ist Film. Peter Kubelkas Zyklisches Programm im Österreichischen Filmmuseum, hg. v. Stefan Grissemann et al., Wien: Synema 2010, S. 4–5, hier S. 4.
29. Stefan Grissemann/Peter Kubelka, „‚Keinesfalls durch das Sieb der Sprache‘. Was soll ‚Was ist Film‘ sein? Zur Konzeption des Zyklischen Programms. Peter Kubelka im Gespräch mit Stefan Grissemann“, Was ist Film, hg. v. Grissemann et al., 2010, S. 7–26, hier S. 8.
30. Ebd.
31. Ebd., S. 24.
32. Nanook of the North, Regie: Robert J. Flaherty, US 1922.
33. Kinopravda, Regie: Dziga Vertov, UdSSR 1922–1925.
34. Window Water Baby Moving, Regie: Stan Brakhage, US 1959.
35. Vgl. Ebd., S. 19.
36. Katzelmacher, Regie: Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969.
37. Outer Space, Regie: Peter Tscherkassky, AT 1999.
38. Stefan Grissemann, „Programm Nr. 34“, Was ist Film, hg. v. Grissemann et al., 2010, S. 109–111, hier S. 109.
39. Ebd.

Die Sehnsucht nach Bewegungslosigkeit im Kino

Ein Text, der von der Bewegungslosigkeit des Kinos sprechen will, muss natürlich voller Widersprüche sein. Denn nicht zuletzt ontologisch betrachtet, besteht das Kino aus Bewegung: Bewegung des Films, Illusion der Bewegung auf der Leinwand, Bewegung in unseren Herzen. Serge Daney hat Film mit dem vorbeiziehenden Himmel verglichen: Die Wolken sind die Figuren, die vom Off-Screen beleuchtet werden. Selbst wenn man im digitalen Zeitalter durchaus einen Unterschied feststellen muss, so bleibt doch dieser unendliche Drang nach Bewegung, die Idee, im Dunklen sitzend die Welt zu umreisen. Nicht zuletzt arbeiten technische Entwicklungen wie 3D genau an dieser Illusion. Aber in der eigenen Bewegungslosigkeit einen sich bewegenden Spiegel zu suchen, ist bereits ein Paradox. Darin liegt die Illusion begründet, eine Lüge, aber auch eine Hingabe, bei der man gibt, indem man vertraut. Und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass man sich selbst beim Betrachten eines Standbildes oder einer Fotografie emotional bewegt, dann fließt man nicht mit dem Strom einer Folge von Bildern, sondern kann sich tief im Bild verlieren, an den Rändern suchen, in den Texturen schwimmend, alles bleibt eine Bewegung. Und genau das ist eine Sehnsucht vieler großer Filmemacher. Denn sie wollen ihre Bilder festhalten, die Zeit festhalten, nicht verlieren, was eigentlich zur Flüchtigkeit verdammt ist. Mindestens soll aber die Dauer manifest werden. Zum einen kann etwas immer wiederkehren, wenn es einmal gefilmt ist (so der Legende nach die Inspiration von Steven Spielberg, der einen Crash zweier Modelleisenbahnen als Kind festhalten wollte, damit er es immer wieder sehen kann), zum anderen kann es sich unendlich in der Zeit entfalten. Es geht hier also um eine im Projektor, in den Pixeln und im Kopf bewegte Bewegungslosigkeit.

L'Avventura Antonioni

L’Avventura von Michelangelo Antonioni

Und dann beginnt ein Kampf gegen die Flüchtigkeit der Bilder, der Erinnerung, dieser ewige Drang der nächsten Einstellung, die im Kino lauert, die oft erst die Poesie oder Bedeutung generieren kann: Das nächste Bild, ein unbekanntes Bild, das bei seiner Geburt logisch oder irritierend wirken kann, aber immer am vorherigen Bild arbeitet, obwohl es selbst schon lange heimgesucht wird von einem weiteren nächsten Bild. Wenn man jeden Tag an Filmen arbeitet, dann spürt man womöglich eine Erschöpfung der Bilder, gleich der erschöpften Liebenden, die nur mehr in ihrer umschlungenen Haltung verharren können, eine Bewegungslosigkeit, die man im Kino fast nie sieht, aber die in den Rhythmus der Bilder eingeschrieben ist. Ein Durchatmen, ein erschlaffen, gemeinsam zwischen Auge und Bild.

Nun gibt es einige unhaltbare Versuche, die Sehnsucht von Filmemachern nach einer absoluten Art des Sehens (die, die sich Zeit für das eine Bild nimmt), unter gemeinsamen Begriffen zu fassen. Einer der schlimmsten dabei ist „Slow-Cinema“, weil er genau diesen Widerspruch zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit aus dem Kino verbannt und so tut, als würde sich das Kino langsamer bewegen, wenn Bilder länger stehen. Nur, weil eine Fingerbewegung im Kino mindestens genauso viel Kraft haben kann wie eine Armee, ist dieser Widerspruch möglich. Es wird von einer Rebellion gegen die immerzu beschleunigte Welt der glatten Oberflächen gesprochen, Kino als Antwort, als Lehre des Wiedersehens und Wieder Sehen Könnens. Aber auch kann man von einem inneren Zustand sprechen, in dieser Zeit der Unsicherheiten und Unklarheiten, in denen Vergangenheit, Gegenwart, Traum, Realität, Bild und Schlaf schon lange in ein einziges Aussetzen ihrer Deutlichkeit eingetreten sind, ein schwarzes Loch, das nach zwei Dingen sucht: Sicherheit und Gefühl. Und dafür will man nur noch schauen und trotzdem ans Ziel kommen. Die Bewegungslosigkeit ist ein Weg an dieses Ziel, denn in ihr gibt es weniger Differenzen. In diesem Sinn ist das Kino also keine Rebellion sonder eine Deskription. (Eine Alternative über die man auch schreiben könnte, liegt in der Hyperbewegung bei Philippe Grandrieux.) Es gibt jene Differenz des Blickenden und des Angeblickten, aber es gibt auch eine bewegungslose Pose, die den Darsteller von seiner Darstellung befreit, die ihn von sich selbst befreit sogar. Wer ist man nämlich, wenn man posiert? Wer sind diese starren Gestalten am Ende einer Szene bei Fassbinder? Wer sind die Liebenden in Antonionis L’Avventura? Gibt es sie? Schaut man sich zum Beispiel den Film Now, Voyager von Irving Rapper an, wird man feststellen, dass sich der Gang, die Bewegung von Bette Davis im Lauf (im ewigen Lauf) des Films verändert, es ist ein Machtgewinn, in dieser Bewegung liegt der Ausdruck und der Eindruck ihres Selbstbewusstseins. Sie lebt in einem Hier und Jetzt, das im zeitgenössischen Kontext eigentlich nur eine Illusion sein kann. Wenn sich jemand nicht bewegt im Kino ist er/sie in der Regel tot. Aber dennoch ist er/sie präsent. Oft erwischt man sich, wie Bitomsky schreibt, wie man nach der Bewegung der Toten im Film sucht. Das Pochen einer Halsschlagader, ein leichtes Zucken, ein sich erhebender Bauch…als würde uns die Bewegung Sicherheit geben oder vielmehr eine Kontrolle über den Film. Hier liegt eine Sehnsucht nach Bewegungslosigkeit, weil wir von einer Lücke sprechen zwischen der Darstellung und der Realität. Und diese Sehnsucht lässt uns weitaus genauer blicken, als wir es eigentlich tun würden. Darin versteckt sich womöglich das Potenzial einer Sinnlichkeit, die damit zu tun hat, dass wir selbst lebendig werden wollen. Man muss sich nur diesen unvergesslichen Wimpernschlag in Chris Markers La Jetée vor Augen führen, jenes Erwachen der Bilder, Bilder, die nie wirklich lebendig waren und nie wirklich tot. Hierin liegt der Moment des Verliebens begraben, genau jener Impuls von der Bewegungslosigkeit (der Herzschlag setzt aus, man wird vom Blitz getroffen, man ist blind…) zur absoluten Bewegung, die in sich nur wieder verharren will (die Liebenden nach dem Sex, der Kuss, die Umarmung, die Zeit, die nie vergehen darf…). Wenn ich also in mir und auch in einigen anderen Filmemachern den Impuls spüre, der von der Bewegung zurück zur Bewegungslosigkeit will, dann hat das mit der Suche nach der Unschuld zu tun. Man will wieder jene erste Bewegung sehen, die Ingmar Bergman in seiner Autobiographie so schön beschreibt, jenes Wunder, jenes Verlieben, den Beginn der Zeit des Kinos. Der erste Mensch, der über eine Leinwand läuft. Er kann nur aus der Bewegungslosigkeit stammen.

Chris Marker

La Jetée von Chris Marker

In Cavalo Dinheiro arbeitet Pedro Costa exakt in diesem Zwischenreich aus Bewegung (Leben, Erinnerung, Gesellschaft) und Bewegungslosigkeit (Sterben, Vergessen, Gesellschaft). Er beginnt seinen Film mit Fotografien, die später wie das Echo einer anderen Welt der Bewegungslosigkeit wiederkehren, die uns in ihrer Starre verfolgen und mit den Masken, Statuen und gefrorenen Einstellungen des Films harmonieren. Einmal filmt Costa eine sterbende Hand, zitternd und kreiert damit ein weiteres Echo zu Alain Resnais Hiroshima, mon amour, einem Film, der die Bewegungslosigkeit und die Bewegung, ja die erschöpften Liebenden, das ultimative Ende und den Beginn der Zeit in sich trägt. Wann dieser Film begonnen hat und wann er endet, kann keine Rolle mehr für uns spielen. Er beginnt mit seinem Ende und endet mit seinem Beginn. Edvard Munch hat gesagt: Ich bin sterbend geboren. Er hatte Recht. Die Bewegung ist nicht echt. Zusammen mit Alain Robbe-Grillet hat Resnais auch in L’Année dernière à Marienbad an dieser Bewegungslosigkeit, ob dem Zwischenreich der Erinnerung und der Realität gearbeitet, aber weitaus sinnlicher und damit sehnsuchtsvoller ist Robbe-Grillet dieser Widerspruch in seinem L’immortelle gelungen.

Unsterblichkeit hängt an dieser Bewegungslosigkeit, eine eingefrorene Zeit als einzige Chance auf Unendlichkeit? Doch kann man in diesen Statuen das Licht einer Lebendigkeit, ja sogar einer Echtheit finden? Vielmehr scheint dieses Prinzip der Wiederholung, der wiederkehrenden Bilder tief mit der Illusion (und der Sinnlichkeit dieser Illusion) verwurzelt zu sein, ein Land der Träume, eine tickende Uhr, die wieder beginnt und wieder beginnt und wieder beginnt. Vielleicht ist es kein Beginn, sondern ein ständiges Aufhören, ein Aussetzen, ein Zweifel an der eigenen Funktionalität. Man hat das Gefühl, dass die Zeit hier selbst reflektieren muss. Sie ist immer weitergelaufen, aber unter welchen Vorzeichen? Kann das heute noch relevant sein? Eine Erschütterung der Zeit (man sagt, dass die Zeit mit dem 2. Weltkrieg erschüttert wurde und das ist auch richtig, aber ist sie heute vielleicht sogar völlig überschüttet?) bedeutet gleichermaßen eine Erschütterung des Kinos.

Hiroshima, mon amour

Hiroshima, mon amour von Alain Resnais

Also gibt es die Bewegungslosigkeit nur im Angesicht einer aussetzenden Zeit, eines Zweifels gegenüber der Realität, der in den zahlreichen Geister- und Zwischenwelten des modernen Kinos stattfindet? Nein, denn die Bewegungslosigkeit ist auch ein Schatten der Banalität und Erbarmungslosigkeit der Zeit. Je, tu, il, elle von Chantal Akerman und It’s Keiko von Sion Sono arbeiten mit dieser erdrückenden Bewegungslosigkeit (Liegen, Starren, Sitzen, Liegen, Starren, Liegen, Sitzen usw.) vor dem Hintergrund einer brutalen Uhr, die einem nichts sagt, die nur, seit ihrem Beginn der Countdown zum Tod ist. Doch Count-Down ist ein falsches Wort, denn hier zählt nichts runter…vielmehr geht es immer weiter und man kann nur zusehen wie die Uhr tickt. Mit schmerzvoller Sehnsucht wie bei Akerman oder ironischer Leere wie bei Sion Sono, der seine Protagonisten fröhlich die Zahlen einer Minute mehrfach singen lässt. Die Bewegungslosigkeit macht im Kino erst die Zeit bewusst. So auch in Bergmans Hour of the Wolf, in der eine der wenigen Bewegungen dem Zeiger der Uhr gilt. Da sich dieser Zeiger immer bewegt, egal ob wir ihn sehen oder nicht, zeigt sich erneut, dass es keine reine Bewegungslosigkeit geben kann in einem Medium der Zeit. Aber es gibt ein inneres und äußeres Nichts, ein Pausieren, eine Flucht oder Abkehr von der Welt. Oder eben jenes Warten, das bei Akerman und Sion Sono zu- und niederschlägt, ein Warten, dass dann zu einer Bewegungslosigkeit und zugleich Hoffnungslosigkeit wird, wie auch bei Béla Tarr oder Sharunas Bartas. Jacques Rancière hat sich mit Blick auf das Kino von Tarr gefragt, welches Geheimnis in einer Minute (des Wartens) liegt. Er schreibt von einer Koexistenz der Handlungen, die unter dieser Dauer ablaufen. Da ist also wieder die Tiefe dieser Bewegungslosigkeit, die einen Raum öffnet, statt ihn beiseite zu wischen. Die Bewegungslosigkeit wäre also auch die Zeit nach der Geschichte und wenn Bewegungslosigkeit gleich einer Hoffnungslosigkeit ist und Rancière schreibt, dass Filme nicht von Hoffnung handelten, sondern Hoffnung seien, dann wird auch klar, dass Filme Bewegung sein müssen. Aber wohin in oder mit dieser Hoffnungslosigkeit?

L'immortelle von Alain Robbe-Grillet

L’immortelle von Alain Robbe-Grillet

Eine interessante Lösung im Zeitalter der Geister, die bereits zu Phantomen ihres gespenstischen Mythos geworden sind, ist die Kreisbewegung, ja die Wiederkehr. Sogar das Blockbusterkino hat diese Wiederkehr entdeckt, sei es die banale Feststellung in George Millers Mad Max: Fury Road, dass man nicht immer weiter sinnlos in die Hoffnung fahren sollte, sondern lieber zurückfahren sollte oder sei es in Doug Limans Edge of Tomorrow das ständige Durchexerzieren einer vorbestimmten Zukunft, die nur durch eine immerwährende Wiederkehr verändert werden kann (man denke in diesem Zusammenhang auch an Christopher Nolans Inception und Interstellar). Ist die rückwärtige Bewegung also ein Versuch der filmischen Sprache, gegen die Bewegungslosigkeit zu kämpfen? Es gibt kein Ziel außer das Überwinden der Bewegungslosigkeit, die in beiden Filmen mit einer rasenden Geschwindigkeit offenbart wird, als wäre Sisyphos auf Speed. Oder sind es etwa die Blicke bei Filmemachern wie Bartas, Costa, Hitchcock (der hat sich hier nicht verirrt, sondern der ist hier geboren) oder Claire Denis, die eine Bewegung in der Sehnsucht bewegungsloser Augen finden? Schließlich braucht man Bewegungslosigkeit, um Bewegung sichtbar zu machen. (man denke an die Wolken in The Aviator von Martin Scorsese). Erst der eingefrorene Körper lässt uns die Schönheit seiner Bewegung erahnen, weil die Bewegung sich ständig selbst verflüchtigt. Denkt man an die widerkehrenden Bilder bei Robbe-Grillet erahnt man ihre Verbindung zu dieser Frustration der Bewegung. Immer wieder in L’immortelle sehen wir eine Einstellung vom Meeresufer in Istanbul. Und dennoch zeigt sich in der Wiederkehr dieser Einstellungen, in den Bildern, die wir öfter sehen ein gewisses Misstrauen, wir zweifeln, wir erhöhen unsere Konzentration, denn wir sind trainiert und dumm: Wenn wir ein Bild öfter sehen, dann hat es eine besondere Bedeutung, glauben wir und verstehen ganz automatisch Kino als Narration statt als Leben. Robbe-Grillet hat gesagt, dass genau das Gegenteil der Fall wäre. Wenn man etwas öfter sehen würde, würde es an Bedeutung verlieren.

Je, tu, il, elle von Chantal Akerman

Je, tu, il, elle von Chantal Akerman

Die Kreise, die durch Zeit und Ort laufen, verweisen auf eine Nahtlosigkeit, die nicht den nötigen Widerspruch zulässt zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit, das Potenzial zur Befreiung schwindet in dieser narrativen Strategie und dennoch wird das Gefühl einer Befreiung evoziert, weil man sich besinnt, weil es eine Weisheit ist, dass man manchmal zurückgehen muss, um vorwärtszugehen. Aber das filmische Pendant dazu, der Vertigo-Effekt, erzeugt einen Schwindel, der darauf verweist, dass man diese Bewegung nicht mehr aushalten kann. Man wird ohnmächtig und bewegungslos. Auch Vertigo spielt in einem Zwischenreich. Hitchcock verleitet das Bild und den Blick zu einer Starre, die den Tod hervorzaubert, um ihn dann als Illusion und Grausamkeit zu entlarven.

Eine weitere Lösung ist die extreme Verlangsamung der Bewegung, eine Art Kompromiss wie in den Walker-Filmen von Tsai Ming-liang. In seinem neuesten Werk No No Sleep verbindet sich diese Entschleunigung wie so oft mit dem Verlangen einer Einsamkeit. Aus dieser Einsamkeit entsteht dann Aufmerksamkeit. Das Licht ist in Bewegung, aber es ist auch still (so wie die Wasseroberfläche des Bades im Film) beziehungsweise die Bewegung des Lichts wird erst durch die Stille des Bildes sichtbar. Bewegungslosigkeit im Kino meint also nur einen bestimmten Rhythmus der Bewegung. Ich habe immer jene Filmemacher bewundert, bei denen man sich in diesem Rhythmus wohl fühlt, die eine Präsenz schaffen, eine Präsenz, die Bewegungslosigkeit in tausende Regungen zerfallen lassen kann, in denen der Drang zur Bewegung, zur Liebe und zur Befreiung offenbart. Wir sprechen hier weniger von denkenden Bildern als von fühlenden Bildern. Daher ist Kontemplation auch ein falscher Begriff, da hier oft kein Platz mehr ist für eine Reflektion. Es ist die Präsenz der Bewegungslosigkeit. Apichatpong Weerasethakul ist ein Meister dieser Präsenz, die sich vom Potenzial einer Bewegung füttern lässt. Bresson, ein großer Meister der Regungen, Zuckungen und sehnsuchtsvollen Begierden, die aus seiner Bewegungslosigkeit eine Bewegung machen, schreibt: beautiful in all the movements that he does not make (could make).

Kim Novak Hitchcock

Vertigo von Alfred Hitchcock

Man könnte also sagen, dass die Sehnsucht nach der Bewegungslosigkeit im Kino nichts anderes ist, als das Verlangen nach der Wahrheit einer Bewegung, der Wahrheit des Kinos selbst, die immer zugleich Illusion (der Wind) ist und Realität (das abgefallene Blatt, reglos zwischen den Fingern eines toten Soldaten). Hinter dieser Sehnsucht versteckt sich vielleicht auch die Frage: Warum bewegen wir uns überhaupt? (Dante: Love moves the sun and other stars)

Don’t Torture a Duckling in Anatolia: Wiedergängerbilder

Das Gedächtnis des Filmmenschen ist eine Zisterne, dem jeder Kinobesuch neue Bilder zuschüttet. Dann kommt Bewegung in das visuelle Reservoir, es plätschert und wogt, Schichten verschieben und vermischen sich, Versunkenes treibt an die Oberfläche und schafft neue Gemengelagen. Plötzlich zieht man ganz unwillkürlich Parallelen, wo doch völlig unzweifelhaft keine bestehen, weil die Erinnerungsbilder ihren eigenen Willen haben, ihrem eigenen Begehren folgen und sich bei der Partnerwahl einen Dreck scheren um Sitte, Genre und Gebrauch.

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Was haben Lucio Fulcis Don’t Torture a Duckling (Italien 1972) und Nuri Bilge Ceylans Once Upon a Time in Anatolia (Türkei 2011) gemeinsam? Nichts. Nichts außer dem provinziellen Setting und dem Krimi-Genre, und letzteres auch nur, wenn man es ganz, ganz weit fasst. Als Kinoereignisse, als raum-zeitliche Erfahrungen, als formale Anordnungen sind sie einander diametral entgegengesetzt. Es ist, als würde man eine Rhapsodie mit einer Elegie vergleichen: Rhythmus, Klangfarbe und Stilmittel haben andere Ursprünge, andere Ziele, andere Sehnsüchte. Dennoch drängen die Bilder ineinander.

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Es lässt sich wenig schöpfen aus dieser Gegenüberstellung, die Parallelisierung zeitigt keine großen Erkenntnisse – außer jener Offenkundigkeit, das sich bestimmte Kadragen und Kompositionen, Perspektiven und Positionierungen, Motive und Menschenbilder formalen Genotypen gleich durch die gesamte Kinogeschichte ziehen. Man begegnet ihnen an fremden Orten in neuen Gewändern und fragt sich, woher man sie kennt, doch sie sind wieder fort, kaum dass man sich besinnt.

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Solch eine Übung ist kein Kunststück. Mit der entsprechenden Intention und einer basalen Expertise lassen sich sicherlich Myriaden von Filmen auf diese Weise engführen. Eine oberflächliche Verwandtschaft kann selbst da herbeigezaubert werden, wo nicht mal der großzügigste Betrachter eine erkennen würde, indem man den Bildkorpus seziert und Frames absondert, die dem natürlichen Wahrnehmungsfluss verborgen bleiben. Aber was ist schon natürlich, wenn es um Kino geht?

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Und diese Art von Kleinarbeit steht ohnehin selten am Anfang solcher vergleichenden Studien. Der Impuls geht nicht von einem intrinsischen Schaffensdrang aus, sondern von den Filmen. Ein unscheinbares Bild stößt beiläufig eine Geheimtür in der Leinwand auf, durch die sich unangekündigt alte Bekannte vorstellig machen, und hat man sie bewirtet, machen sie keinerlei Anstalten, sich zu verabschieden, im Gegenteil: Nach und nach kommen immer mehr hereingeschneit.

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Auf einmal sieht man alles doppelt. Eine Folie legt sich über die Bilder, und Ähnlichkeiten, die einem sonst niemals in den Sinn gekommen wären, sind plötzlich evident. Man könnte diesen Blick verwerfen, aber das Schauspiel ist zu verlockend: Eine Fusion, eine Verschmelzung, ein unmögliches Hybridwesen ist da vor den eigenen Augen im Entstehen begriffen, wie die sonderbaren Mutationen in John Carpenters The Thing, nur gespenstischer und weitaus weniger grotesk.

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Manchmal versiegt die Quelle nach kurzem Sprudel. Dann bleicht der Schleier aus, und der Film läuft weiter wie zuvor, eigenständig, ungestört. Aber ab und zu will der Strom einfach nicht aufhören, immer und immer wieder zieht es die Bilder zueinander, sie kippen von einer Umarmung in die nächste wie im Freudentaumel und lassen den Zuschauer nicht zur Ruhe kommen. Irgendwann sind die Filme dann so stark ineinander verkeilt, dass man sie gar nicht mehr zu trennen vermag.

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Dann braucht es nicht mehr viel, um eine Verbindung herzustellen. Dann reicht schon eine Textur, ein Winkel oder eine Farbe, um das Spiel am Laufen zu halten, und die Filme sind wie Katzen, die um ein Wollknäuel kämpfen: Sie können nicht davon lassen, es einander zuzuschupfen und sich wieder zu entringen. Das ist nicht regelhaft, das ist kindisch und frei von Vernunft, das ist auch eine Lust am Text.

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Dabei geht naturgemäß etwas verloren, sehr viel sogar. Der Schlagabtausch intertextueller Referenzen übertönt die originären Appelle der Filme und ihrer Urheber, sie können ihre Wirkung nicht mehr so entfalten, wie es ihnen zusteht. Die Fabeln, falls es welche gibt, durchkreuzen sich gegenseitig. Aber gerade dies ist Glück und Elend des Kinos, sein bestimmender Wesenszug: Niemals hat es zur Gänze Macht über sich selbst.

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Was würden wohl die Regisseure sagen, wenn man sie mit diesen Montagen konfrontieren könnte? Würden sie lachen, sich empören, oder gleichgültig mit den Achseln zucken? Spielt es eine Rolle? Es ist dies eine Form der Aneignung, die ein inneres Wollen stillt und keiner Verwertung bedarf, keiner Bestätigung außer der Kenntnisnahme des Hinweises. Der Cinephile ist derjenige, der sagt: Seht her, was ich gefunden habe!

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Jacques Rancière schreibt in seinem Essay über den emanzipierten Zuschauer: „Auch der Zuschauer handelt, wie der Schüler oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das, was er sieht, mit vielen anderen Dingen, die er gesehen hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten von Orten. Er erstellt sein eigenes Gedicht mit den Elementen des Gedichts, das vor ihm ist.“ Und der Vergleich von dem, was nicht gemacht wurde, um verglichen zu werden, birgt vielleicht sogar etwas Politisches.

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Könnte es am Ende sein, dass die Überlappungen doch mehr sind als bloße Spiegelfechterei? Dass tatsächlich derselbe Geist durch diese Filme spukt? Etwas Unheimliches und Übernatürliches, das sich nie offen zu erkennen gibt, aber doch unleugbar präsent ist, die Figuren umtreibt, über den Landschaften liegt… Ein bloßes Hirngespinst, keine Frage.

Keine Frage.