EDITORIAL

Wir beschäftigen uns nicht mit Poesie, weil es dazu einen Anlass bräuchte. Wir beschäftigen uns mit ihr, weil Poesie ein Anlass ist.

Poesie, ein Wort. Schneller gesagt als beschrieben. Poesie, die gerade das Ungreifbare auszudrücken versucht. Poesie, die womöglich vom Rest spricht, der überschießt, der in ein Außerhalb und Außergewöhnliches deutet. Oder doch Poesie, die ein für die jeweilige Kunst Exklusives anzeigt, ein Geheimnis tief in der Essenz verborgen. Poesie, die dann doch wieder das ganz Spürbare und Wirkliche zu betonen trachtet. Jean Cocteau, einer der zahlreichen Poeten und Filmemacher, deren Gedanken zu den Überlappungen, Parallelen und Unterschieden von Film und Poesie wir hier nur andeuten können, sprach von der Poesie als etwas, dass alle Künste transzendiert und daher das Kino als Kunst auszeichnet. Es können immer nur Vorschläge sein, Ansätze, Konstruktionen. Wir wissen nicht was genau das Poetische im oder am Kino ist, wir glauben aber fest daran, dass das Kino Poesie sein kann.

In der Geschichte filmischer Diskurse wurde immer wieder auf die Poesie des Films als Film, um einen Ausdruck von Gregory J. Markopolous zu gebrauchen, verwiesen. Eine Poesie also, die allein durch die Mittel des Kinos als solche sicht- und hörbar wird. Nicht irgendwelche Anleihen an geschriebener oder gesungene Poesie. Dieser puristische Ansatz hat seine Notwendigkeit, jedoch übersieht er oft, dass sich das Kino sehr oft vor allem über seine Ränder definiert, über seine Annäherung an all die Dinge, die das Kino nie völlig sein kann. Es sind Grenzbewegung zwischen Sprache und Bild, Musik und Malerei, die letztlich immer wieder ganz besonders stark auf das Kino zurückverweisen und dieses auch im Jahr 2019 als genuine Kunst ausweisen.

In unserer ersten Ausgabe befassen wir uns mit unterschiedlichen Begegnungen von Kino und Poesie: Verfilmte Gedichte, Kinosprache, Poetinnen im Film, poetische Ausbrüche und ihre Kontexte, kinoschaffende Poeten oder poetische Annäherungen an das Kino.

Land of the Dead: Over the Red Top: Carrie und Suspiria

Am zweiten Tag wartete das Österreichische Filmmuseum im Rahmen seiner “Land of the Dead” Retrospektive mit zwei Filmen, die ich zu meiner Schande bis dato noch nicht gesehen hatte: „Carrie“ von Brian De Palma und „Suspiria“ von Dario Argento. Die Programmierung dieser beiden Filme nebeneinander entwickelte eine sehr eigenwillige Dynamik, die voller Spuren des Genres war und mich dennoch heillos überforderte. Das liegt schlicht daran, dass beide Filme mit ihrer Over-the-Top Brachial-Stilisierung einem derart manipulativ ins Gesicht schreien, dass ich als Fremder des Horrorfilms irgendwann Wahrnehmungsprobleme bekam. Aber vielleicht zielen die Filme auch genau darauf. Ich werde wieder einige allgemeine Betrachtungen zum Horrorgenre und dessen Wirkung auf mich anstellen.

Weiches/Hartes Rot

Suspiria

Ein zartes und hartes rot (bei De Palma ist es manchmal mehr rosa als rot) beherrscht beide Filme. In „Carrie“ beginnt das schon bei der Haarfarbe der Protagonistin und vieler Protagonisten (Romain Gavras was watching…) und geht weiter in die schulischen Räume und finden ihren Höhepunkt natürlich im Schweineblut, das in der Prom-Night über die junge Frau, die im Inbegriff war, sich zu finden, geschüttet wird und eine übersinnliche Katastrophe auslöst. Dieses Blut findet sich bereits in der ersten Szene, in der De Palma den Zuschauer von Shampoo-Erotik in einen kurzen Moment des Schauderns wirft, bevor er sein soziales Mobbing-Thema im Film platziert. Carrie White, erzogen von einer manisch katholischen Mutter, hat ihre Menstruation bekommen und weiß nicht damit umzugehen. Sie ist ein Mobbingopfer, eine Außenseiterin. Aber niemand ahnt, dass sich mit ihrer Menstruation auch dunkle Kräfte in der werdenden Frau, die von einer tollen Sissy Spacek gespielt wird, entstehen. Es gibt keinen diegetischen Grund für die Dominanz von rot hier, es ist eine Frage der Stimmung und des Stils. De Palma taucht fast seinen gesamten Film in dieses weiche rot und unterstützt sich mit seiner Vorliebe für Split Diopter Lenses, die es ihm ermöglichen das Staubkorn im Bildvordergrund und den Komparsen in der hintersten Ecke scharf zu halten. (In seinem „Blow Out“ perfektionierte De Palma dieses Vorgehen). Dabei schwebt seine Kamera genauso weich wie die rote Farbe. Die virtuosen Fahrten durch die Räume, die wohl in der Prom-Night ihren definitiven Höhepunkt erlebt als die Kamera zunächst immer schneller um das tanzende Paar kreist (auch diese Einstellung sollte De Palma in „Blow Out“ perfektionieren) und dann den Spuren des Schweinebluts folgt, um den Suspense bis zum Anschlag zu spannen, sind der stilistische Höhepunkt des Films.

Carrie3

In beiden Filmen wird das Rot weggewischt. Carrie badet nach ihrem Blutbad in Wasser (zuvor eine wunderschöne Einstellung ihrer Füße neben dem blutdurchtränkten Handtuch) und Suzy, die Protagonistin in Dario Argentos „Suspiria“ versucht den merkwürdigen Wein, der ihr in der mysteriösen und gefährlichen Tanzschule jeden Abend gebracht wird, in das Waschbecken zu schütten. Allerdings klebt die Flüssigkeit mehr an den Rändern des Waschbeckens, als darin zu verschwinden. Bei Argento steht ein surrealer Bilderreigen, der sich immer wieder neu findet und dennoch einer inneren Logik zu gehorchen scheint, über dem Gesamtrot von De Palma. Natürlich schulden beide Filmemacher ihren Abflussfetisch Alfred Hitchcock, der das Ganze in „Psycho“ ja bekanntermaßen ohne die Farbe selbst gemacht hat. Dennoch ist dieses Bild bei ihm eindrücklicher rot und ich beginne ein wenig zu verstehen, warum Lav Diaz sich auch Farbfilme gerne in Schwarz/Weiß ansieht. Ansonsten gibt es bei Argento eine Menge Kunstblut, das sich in meiner Erinnerung wie laute Spritzer über den Film verteilt. Und es gibt einen Red Room, einen Übungsraum für die jungen Tänzerinnen, der während meiner Betrachtung die Prom Night heraufbeschwört. Die auffälligste Verwendung von Farbe in „Suspiria“ und vor allem von Rot findet sich jedoch in einer Art Horrormotivik, die Wände beleuchtet wie normal nur Filmmusik agiert. Der Horror scheint sowieso die ganze Zeit aus dem Film selbst zu entstehen und nicht aus seiner Geschichte. Es sind Lichter im Hintergrund, Lichter im Vordergrund, die verstörende Kultmusik der Goblins, eine plötzliche Supertotale, ein POV-artiges Heranfahren, die Dunkelheit…J. Hobermann hat zurecht bemerkt, dass der Film mehr Sinn für das Auge als für das Gehirn macht. Jedenfalls tauchen einzelne, farbige Spotlights an den Wänden auf im Moment des Horrors. So tanzen rote Schatten auf den angstgefrorenen Gesichtern. Irritierenderweise versetzen mich solche Szenen nicht in einen Zustand des Horrors sondern holen mich aus dem Horror heraus, denn ich sehe plötzlich einen jungen Italiener hinter der Kamera, der das Licht anschaltet. Einen viel stärkeren Horroreffekt erzielt beispielsweise Chantal Akerman mit einem ähnlichen Einsatz einer einzelnen Lichtquelle in „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“. Ein nur vielleicht gewagter Vergleich. Die Künstlichkeit der unterschiedlichen expressionistischen Farbpalletten erzeugt ein Meta-Gefühl für das Genre. Licht und Dunkelheit und die unnatürliche Kraft von Farben sind voller Bedeutung für den Horror. Man kann „Suspiria“ wohl am besten als Farbflut bezeichnen. Ein spezieller Technicolor-Entwicklungsprozess ermöglichte Argento ein dreigeteiltes Farbmuster aus Grün, Rot und Blau. Eine mögliche Interpretation liegt in der psychedelischen Hexenkraft, die den Film ab der Ankunft in der Tanzschule heimsucht.

Suspiria3

In diesem Haus, dass immer wieder an das Schloss in Jean Cocteaus „La Belle et la Bête“ erinnert, spielen auch beim Film selbst die Farben verrückt. Doch dort wo Cocteau einen ausgeprägten Schönheitssinn aufweist, ist Argento ein Holzhammer, da seine nicht zu leugnende Sensualität nicht aus den Figuren und ihren Bewegungen kommt, sondern aus der schieren Überfüllung. Einen Schönheitscredit vermag man Argento noch für die Zulawski-artige Betonung der Farbe hinter den Pupillen geben (wobei Zulawski sich da womöglich von Argento hat inspirieren lassen…). Die Überfüllung entsteht natürlich auch durch die Doppelprogrammierung zweier Filme, die ganz bewusst over the top gehen, die hysterisch schreien und den Horror in seine expressivsten Art im Kino explodieren lassen. Ich habe den Eindruck, dass der Ton in „Suspiria“ ein wenig lauter als gewöhnlich ist im Filmmuseum. Das erscheint mir etwas unnötig, weil ich schon bei Filmen im Haus gesessen bin, bei denen jeder Ton zählte und erzählte, die fast zu leise gespielt wurden und nun dieser sowieso schon laute Film, bei dem es oft schlicht darum geht, dass es verstörend und laut ist, aber nicht um die Nuancen im Ton, so gespielt wird, dass ich alle fehlenden Nuancen höre. Natürlich gehört sich das trotzdem so, weil Argento eben laut gehört. Die euphorischen Argento-Jünger im Kino würden mir da Recht geben. Das bewusste Über-das-Ziel-hinaus-schießen bewirkt auch ein hohes komödiantisches Potenzial. Vor allem bei „Carrie“ sind viele Schmunzler und Lacher dabei, die sich aus dem Verhalten der Figuren im Verhältnis zur Kamera vollzieht. De Palma zeigt sich als wunderbarer Beobachter von stilisierten Teenage-Klischees. Dagegen entstehen Lacher bei Argento vor allem aus harten Schnitten nach Schockern. Insbesondere der Schnitt auf bayrische Schuhplattler hat es in sich. Außerdem entsteht ein Humor aus der Irrationalität des Verhaltens der Figuren (die Nonchalance mit der Suzy ihr Getränk trinkt, die Gespräche unter den Tänzerinnen) und der Absurdität mancher Brutalität wie die Attacke einer Fledermaus oder den merkwürdigen Blicken des rumänischen Bediensteten. Dasselbe gilt natürlich auch für den Einsatz von Farbe, der eben einem expressionistischen statt einem natürlichen Ideal folgt.

Suspiria2

Während rot bei De Palma eine weiche Farbe ist, erscheint sie bei Argento hart. Die Kamerabewegungen von Argento sind deutlich abrupter, er ist getriebener als der souveräne De Palma, der über der Welt und seinem Publikum schwebt. Das bedeutet nicht, dass Argento nicht weiß, was er tut, sondern lediglich, dass er mehr an den Horror glaubt und De Palma mehr an sich selbst und Alfred Hitchcock.Rot ist in beiden Filmen eine Farbe des Horrors. Allerdings ist die Farbe sowohl bei De Palma als auch bei Argento von außen auf die Filme geklatscht. Sie ist ein offensichtliches Stilmittel und kommt nicht aus der Seele der Figuren, aus dem Horror in ihnen selbst. Das liegt zum einen an der Exploitation-Nähe des Blutes selbst und zum anderen am manipulativen und selbstreferentiellen Stil der beiden Regisseure. Eigentlich funktionieren diese Filme mehr wie Pat O’Neill artige Spiele mit der Publikumserwartung als ein narratives Kino, das sich mit der äußeren Welt beschäftigt. Hier stoße ich an meine Grenzen, denn ich befinde mich nun mal im fotorealistischen Camp der Filmbetrachtung und des Filmschaffens. Mir ist bewusst, dass Film immer Fiktion ist, aber diese Fiktion setzt sich aus dokumentarischen Teilen zusammen. Um frei Gilberto Perez zu zitieren: Das Licht der Kamera ist Dokumentation, jenes des Projektors ist Fiktion. Bei De Palma und Argento spielt der dokumentarische Charakter keine Rolle, sie haben kein Interesse an einer Welt, die sie nicht beherrschen können. Einzig in seinen komödiantischen Szenen, vermag De Palma ein solches Gefühl zu evozieren. Die Tatsache, dass „Suspiria“ in Deutschland spielt, hat schlicht keine nennenswerte Bedeutung. Sie verrät das Desinteresse von Argento für die Welt. Ich spüre sie die ganze Zeit wie kleine Teufel hinter der Leinwand, die mich und meinen Blick lenken. Die Künstlichkeit ihrer Filme, die ich prinzipiell mag, entsteht nicht aus einer Weltsicht sondern aus einer auf das und vor allem im Fall von De Palma gegen das Publikum gerichteten Idee. Dasselbe gilt für den Einsatz von Rot. Wie bei abstrakten Avantgarde-Künstlern gibt es keine Welt sondern nur die Welt des Films bei ihnen. Ich verstehe Cristi Puiu, wenn er sagt, dass er seinen Studenten auch vermittelt, dass sie nicht nur Filme sehen sollen. „Suspiria“ und „Carrie“ sind derart filmische Filme, dass sie die filmischste Eigenschaft von Film ignorieren: Ein Dokument der Welt zu sein. Ich bin mir bewusst, dass das ein wenig gezwungen und prinzipienhaft ist und ich will damit nicht sagen, dass diese Filme schlecht sind oder kunstlos. Aber sie sind redundant und können mich nicht über ihre Existenz im Kinosaal hinaus bewegen. Sie langweilen mich mit ihren aufgesetzten Blicken und ihrem fehlenden Beobachtungssinn. Sie sind Genremasturbationen. Ich will Zeit haben für meinen Blick, ich will nicht gelenkt werden. Ich fühle mich sowohl in „Carrie“ wie in „Suspiria“ vergewaltigt, die Filmemacher haben mich nicht respektiert. Ich respektiere ihre Qualität, aber hinterfrage ihre Ethik. Gut, dass es sowas gibt, denn sonst würde ich vergessen wie sich der wahre Horror in Rot in Ingmar Bergmans „Viskningar och rop“ und Michelangelo Antonionis „Il deserto rosso“ anfühlt.

Carrie2

Nein, ich weiß: Nicht jeder Film darf, muss, soll, kann so sein wie man es sich selbst vorstellt, die Filmkultur ist viel zu reich, um sie mit Prinzipiendenken zu erfassen, um sie auch wirklich genießen zu können. Ich glaube, dass jeder der das Kino liebt auch diese Filme liebt. Sie sind so reich an Form, Farben, Bewegungen, Geräuschen und Emotionen. Zudem sind sie unheimlich inspirierend, angefangen vom unfassbaren Szenenbild in „Suspiria“, zu dem Ausharren von Zeit in „Carrie“ bis zu den Bildikonen, die beide Filme schaffen und weitertragen. Beide Filme werden von hochinteressanten musikalischen Kompositionen begleitet und man wird in eine Trance des gefangenen Blicks geleitet. Meine ethischen Betrachtungen sind selbst in sich gefangen und redundant. Sagen sie etwas über das Wesen des Horrors aus? Vielleicht steht am Ende dieser beiden Werke, dass Horror immer eine liebevolle Hingabe des Zusehers verlangt, ein Vertrauen und ein eskapistischer Rausch in uns.

Vielleicht war diese Frontalprogrammierung zweier derart schreiender Horrorfilme auch zu viel für mich? Vielleicht habe ich verlernt, unschuldig Filme zu sehen? Vielleicht ist das gut so? Vielleicht mag ich Kino nicht? Vielleicht sind diese Filme nicht unschuldig? Vielleicht ist das gut so? Vielleicht habe ich doch Recht? Vielleicht stimmt alles, vielleicht stimmt nichts.

Tsai Ming-liang Retro: Goodbye, Dragon Inn

Am Anfang des Films steht eine Sequenz nicht unähnlich jener von Leos Carax in “Holy Motors”. Durch einen Vorhang späht jemand in den Kinosaal, in dem King Hus „Dragon Inn“ zu sehen ist. Einige wenige schemenhafte Gestalten geistern durch das fast leere Kino. Da sind eine hinkende Ticketabreißerin auf der Suche nach dem Projektionisten, ein älterer Herr mit einem kleinen Jungen, eine aufgetakelte junge Frau, ein steifer Herr und ein verirrter Japaner, der auf der Suche nach einem homosexuellen Kick zwischen Toilette und Kinosaal pendelt. Die Gestalten sind größtenteils stumm, denn das Kino spricht. Der Soundtrack des Films sorgt für die Stimmung des Films. Etwas scheint übergeblieben zu sein, aus dieser längst vergessenen Zeit des Kinos. Tsai Ming-liang erzählt in „Goodbye, Dragon Inn“, den man fast als Spin-Off von „What time is it there?“ bezeichnen könnte, von einem weiteren Geist: Diesmal ist es nicht sein Vater, sondern das Kino (seines Vaters). Anders als Carax verlässt Tsai Ming-liang das Kino mit seinen Bildern nicht. Einzig der Regen dringt von außen in die abgeschlossene Welt der toten Bilder auf der Leinwand.

Goodbye Dragon Inn

In einer der schönsten Einstellungen der Dekade führt Tsai Ming-liang den melancholischen Filmvorführer, der von seinem Lee Kang-sheng (in Tony Leung-Mood) verkörpert wird ein. Eine Einstellung irgendwo zwischen Jean Cocteau und Charles Laughton zeigt ihn in einem Gang links oben auf der Leinwand, während in der Mitte des Bildes schwebende Fetzen von der Decke hängen wie die nicht-greifbaren Geister einer vergangenen Zeit. Später wird der Vorführer dem Japaner sagen, dass es Geister gibt im Kino: „This theater is haunted.“ Und man beginnt sich zu fragen, ob es sich dabei um die Mitarbeiter, die Besucher oder alles zusammen hält. Es ist spannend, dass der Regisseur ausgerechnet die heute aussterbende Gattung des Filmvorführers mit dieser Konnotation belegt. Er ist es doch, der die Bilder wirklich berühren kann. Ein Fluch liegt auf dem Kino, ein Fluch, der dem Kino nichts von seiner Schönheit nimmt. Die Bilder dringen durch ein Gitter und beleuchten das Gesicht der Ticketverkäuferin Chen Shiang-chyi. Wir alle waren schon in „Goodbye, Dragon Inn“, in fast leeren Kinosälen alleine mit unserer Erinnerung und Wünschen. In diesem Film bezieht sich die Sehnsucht auf das Sehen selbst.

Eine ähnlich absurd-unheimliche Stimmung wählte auch Lisandro Alonso in seinem „Fantasma“. Dort lässt er seinen Hauptdarsteller Argentino Vargas in eine merkwürdige Premiere ihres gemeinsamen Films „Los Muertos“ gehen. Bei Alonso sind es seine eigenen Bilder, die würdevoll und doch verloren über die Leinwand eines unheimlichen Kinos laufen, wogegen Tsai Ming-liang die historischen Bilder des asiatischen Kinos verwendet. Bei Alonso doppelt sich der Blick des Zuschauenden, als er sich-nicht wesentlich jünger-auf der Leinwand erkennt (Hier mein Essay zum Thema des Spiegels auf der Leinwand), bei Tsai Ming-liang scheinen diese Bilder schon fast ein Eigenleben zu führen. Miao Tien und Shih Chun allerdings sitzen im Kino. Sie spielten auch in „Dragon Inn“. Sie sehen anders aus und betrachten ihre eigene Vergangenheit vor sich. In diesem Moment wird die Zeit sich ihrer selbst bewusst und die Sterblichkeit des Kinos/der Erinnerung wird klar. Wenn sich niemand dafür interessiert, gibt es auch keine Bilder. Sind diese beiden Männer die Geister des Kinos? Vor kurzem habe ich einige Fotos des Life-Magazins von Cannes Festspielen der 60er Jahre gesehen. Auf einem war eine Schauspielerin zu sehen, die offenbar sehr beliebt war. Zig Fotografen versammelten sich aufgeregt um sie und lechzten nach ihren Posen am Strand. Doch unter dem Foto stand, dass der Name der Schauspielerin verlorenen gegangen sei. Nur im Gedächtnis des Bildes kann ihr Ruhm und ihre Bedeutung gespeichert werden, nicht aber in Kultur und Gesellschaft. „Goodbye, Dragon Inn“ erzählt von der verlorenen Zeit des Kinos, nicht des Films. Am Ende wird dieses geschlossen, the last picture show, eine Einsamkeit im Regen, dieses Kino ist ein Mensch wie jeder andere in der Großstadt von Tsai Ming-liang: Verloren, einsam, entfremdet und in seiner absurden Existenz bedroht.