The Last Syllable Of Recorded Time: La fin du monde von Abel Gance

„Und so nähern wir uns jetzt der heiligen Zone, dem Gebiet des großen Wunders. Hier ist die Materie geformt, ins Relief einer Persönlichkeit gegossen; alle Dinge erscheinen, wie ein Mensch sie träumt; die Welt ist so geschaffen, wie du sie dir vorstellst; sanft, wenn du sie sanft denkst; hart, wenn du glaubst, sie sei hart. Die Zeit eilt voran oder zieht sich zurück oder hält inne oder wartet auf dich. Eine neue Realität ist eröffnet, eine festliche Realität, die nicht derjenigen der Arbeitstage entspricht, so wie diese ihrerseits mit den höheren Gewissheiten der Poesie nichts zu tun hat. Das Gesicht der Welt mag uns verändert erscheinen, da wir, die wir die Weltbevölkerung der fünfzehnhundert Millionen ausmachen, nunmehr durch Augen sehen können, die gleichermaßen von Alkohol, Liebe, Freude und Leid berauscht sind; durch die Linsen jeder Art von Verrücktheit, Hass und Zärtlichkeit; da wir den klaren Fluss der Träume und Gedanken sehen können; das, was hätte gewesen sein können oder sollen; das, was war sowie das, was niemals gewesen ist, noch je kommen wird; die geheime Form der Gefühle, das beängstigende Gesicht der Liebe und der Schönheit; mit einem Wort, die Seele. Die Poesie ist also wahr, und sie existiert, wahrhaftig wie das Auge.“ (Jean Epstein aus Le Cinématographe vu de l‘Étna)

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In La fin du monde ist das drohende Ende der Beginn eines Krieges und der rettende Anfang das Ende der Welt. Es ist ein Film der Gleichzeitigkeiten, der gleichermaßen nach Gleichheit schielt und in diesem Schielen den Beginn des französischen Tons im Film und das Ende des seinerzeit größten Filmemachers des Landes einläutete. Der Film beginnt schon mit dem heiligen Blick zurück, mit Bach und dem virtuosen Rhythmus der Montage der Gefühle während einer Kreuzigung, die keinen Ton braucht, weil die Gesichter stumm derart laut sprechen, dass man sich die Ohren zuhalten möchte, um den Schmerz und die Freude zu ertragen. Die Tränen in den Augen sind das ewig erklingende Echo des Stummfilms, weil sie mehr sprechen als Sprache. Gance, der mit diesem Film nicht fertig wurde, weil die Produzenten ihn nach zwei Jahren und Unsummen an ausgegebene Geld stoppten (es war nicht das einzige Mal), zeigt uns die pure Kraft der Illusion und ihre zunächst überwältigte, dann gelangweilte Realität im Zuschauerraum. Dabei unterscheidet er bereits zwischen einem Oben und Unten, das er später wie alles andere auch zusammenführen will. Eine Gesellschaft der Lust und eine Gesellschaft der Notwendigkeit. Und wer würde sich mit Spiritualität beschäftigen, wenn es Lust und Unterhaltung gibt, scheint Gance zu fragen. Hier die Tränen eines blinden Glaubens, dort der Zynismus über das Aussehen der Darstellerin der Maria Magdalena. Später, wenn die einen in der Kirche das Ende der Welt begehen, feiern die anderen eine Orgie sondersgleichen, deren Produktionsgeschichte fast an Erich von Stroheims Eskapaden erinnert mit hunderten Darstellern aus Paris und viel Alkohol.

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Kurz bevor die Zyniker in diesem Theaterprolog den Glauben vernichten, fährt die Kamera langsam zurück und offenbart, dass die Kreuzigungsszene nur eine Szene ist. In der Rolle des Jesus in dieser Passion: Abel Gance selbst, ein Poet, ein Prophet, ein Glaubender. Aber auch ein Schauspieler. Dennoch ist alles an dieser Szene und an Gance real. In der Folge wagt der unfertige Film den Versuch, diese Illusion mit der Realität gleichzustellen. Gance tut dies in einer Bewegung, die derart fest an die universale Kraft von Poesie glaubt, dass er dabei gleich einer Welle alles überfahren wird, sodass bestenfalls nur das Licht bleibt, das aus den Körpern geflohen ist und sich nun in den Zuschauerraum erstreckt. Es ist ein gefährliches Spiel, das in der Zerstörung auch eine Reinigung sieht. Diese Reinigung ist die Sache eines Kometen, der sich auf Kollisionskurs mit der Erde befindet (Lars was watching). Der Wissenschaftler Martial Novalic versucht die Angst der Weltbevölkerung zu nutzen, um neue humanistische Maßstäbe zu etablieren, die zum einen den drohenden Weltkrieg stoppen und zum anderen in Zukunft ein anderes Zusammenleben ermöglichen. Dagegen kämpfen die Regierungen mit allen Mitteln und versuchen lange Zeit den Wissenschaftler als Lügner zu entblößen. Wie ein Gewissen schwebt Martials Bruder Jean durch den Film, gespielt von Gance selbst gibt er sich einem Spirtualismus der Ewigkeit hin, der jenseits dieser Panik eine neue Unendlichkeit entdeckt, die nicht an sein Fleisch gebunden ist, sondern an seine Seele. Diese kierkegaardsche Gleichzeitigkeit von Endlichkeit und Unendlichkeit, Fleisch und Seele kennt hier eine Polyphonie von Ausdrücken, die sich letztlich im Rausch überwältigender Töne manifestiert, die trotz des unfertigen Zustandes im Film fortleben.

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Dabei ist diese technische Gleichzeitigkeit eine, die kaum jemand je vernehmen durfte. Gance entwickelte für La fin du monde ein stereophones Tonsystem (perspecta sonore) und sprach davon, dass der Ton im Film eine ähnliche Erweiterung der Möglichkeiten des Kinos darstellen sollte, wie die drei Leinwände, die es für eine richtige Projektion seines Napoléon bedarf. Es gab wohl keine oder nur sehr rare Screenings mit diesem System. Doch auch darüber hinaus platzt der Film mit räumlichen und zeitlichen Gleichzeitigkeiten, die mal als Gegensätze, mal als Parallelen arbeiten, aber immerzu auf eine Synthese gehen, eine hysterische Synthese des Friedens, der irgendwie gleichermaßen faschistisch und kommunistisch scheint, ein Frieden der Poesie, die keine Grenzen kennen will. Der Film trägt den Enthusiasmus der Texte des Gance-Bewunderers Jean Epstein (der vor allem die Stummfilme von Gance liebte) wie eine Flamme vor sich, an der man sich verbrennen muss, weil dieses Verbrennen so wundervoll ist. Hier glaubt jemand an das Kino wie man seit Jahrzehnten nicht mehr an das Kino glauben kann. Immer wieder führt Gance die Welt in ein enges Kuddelmuddel. Zunächst gelingt ihm dies über seine superschnellen Montagetechniken, die den Raum derart dynamisieren, dass nichts von ihm übrig blaubt außer dem Fluss seiner Formen, die sich ineinander schlingen wie zwei Liebende im Rausch der Gefühle. Aber diese Montage vermag auch die Liebe zu brechen, weil sie uns im Augenblick einer verlockenden Zärtlichkeit den eifersüchtigen, leidenden Blick eines Dritten zeigen kann oder im Moment des Triumphs den Schmerz der Verlierer. Eine andere Methode, die es hier wie für einen frühen Tonfilm typisch eher selten gibt, ist jene der Bewegung. Die Kamera entblößt dennoch immer wieder mit Schwenks oder Fahrten, was sich im gleichen Atemzug abspielt. Gance arbeitet weit weniger mit POV-Shots, als mit einer gottesähnlichen, allumfassenden Perspektive der Wahrheitssuche. Es half sicher, dass einer seiner vier Kameramänner Roger Hubert war, der nicht nur an seinem Napoléon arbeitete, sondern sich später auch für die bemerkenswerten Fahrten in Jean Renoirs La chienne verantwortlich zeigte. (und das ist nur ein Hauch dessen, was dieser Mann vollbrachte).Außerdem macht Gance (oder das, was man von seinem Film übrig ließ) heftigen Gebrauch von sprühenden Doppelbelichtungen, sei es im Feuerwerk, in wissenschaftlichen Prozessen oder in der Sehnsucht zweier überlagerter Gesichter. Fast beiläufig gelingt Gance dabei auch ein Film über die Globalisierung, die Globalisierung von Angst, die wir heute nur zu gut kennen. Sie überträgt sich über Schnitte, Blenden und Kamerabewegungen.

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Passend zur globalen Angst spielt ganz wie in René Clairs Paris qui dort auch der Eiffelturm eine zentrale Rolle. Es ist seine Funktion als Medium der Gleischaltung, das somit auch das essentielle Medium der Macht in diesem Werk ist. Außerdem ist er Symbol für jene Modernität, die im Film in Konflikt mit der Spiritualität steht bis Gance auch diesen Gegensatz aufhebt. Und so erklingen spirituelle Töne aus den Apparaten der Moderne. In ähnlichen Bahnen bewegt sich der hier nur scheinbare Gegensatz von Wissenschaft und Poesie, der alleine schon deshalb obsolet scheint, weil der Autor der Vorlage, Camille Flammarion im Feuer dieses Widerspruchs zwischen positivistischer Forschung und Mystizismus existierte. La fin du monde ist dies jederzeit anzumerken, was auch daran liegt, dass nicht nur Gance dem Kino genau diese Gleichzeitigkeit von Illusion und Dokumentation als große Qualität zuschreibt. Er verwendet hierzu das Bild zweier Brüder (der Poet und der Wissenschaftler) mit den gleichen Augen.Geneviève, die ganz den Gesetzen eines kaum vorhandenen Melodrams folgend zwischen den beiden Parteien (den Spirituellen, nach Frieden suchenden und den Zynikern, nach Freude suchenden) steht, soll in den Augen des einen den anderen sehen. Es ist absolut logisch, dass Gance zunächst Antonin Artaud in der Rolle des Wissenschaftlers Martial Novalic besetzte. Ein fanatischer Poet, der an die Reinigung der Welt glaubt in der Rolle eines dokumentarischen Wissenschaftlers: hier wäre Artaud das Kino gewesen, aber er hasste den Tonfilm zu sehr, um mitzumachen. Der helle Komet am Himmel erscheint dennoch in einer perfekten Illusion, ganz ähnlich wie in August Bloms grandiosem Verdens Undergang. Es sind dies Spezialeffekte, die im Fall von Blom ein Jahrhundert nach ihrer Herstellung nichts von ihrer Wirkung verloren haben. Vielleicht weil die Poesie bleibt, auch wenn die Technik stirbt?

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Was Gance dann macht am Ende dessen, was von seinem Film geblieben ist, ist die schiere Explosion seiner zuvor angedeuteten Poesie. Doch ist das Kino hier ein Medium der Zerstörung, der Reinigung, der Gleichschaltung? In unfassbar real wirkenden Bildern von durch den Kometen ausgelösten Ereignissen auf aller Welt zeigt Gance vor allem, dass er an das Kino glaubt, obwohl oder gerade weil es gefährlich ist. Lichter sprühen durch Körper, die ihr Funkeln verlieren, es ist ein Tanz der Seelen. Man sieht Palmen in einem Sturm, Rehe rasen durch das Bild, ein Baum fällt, dann wieder dieser Komet und die schallende Drohung auf Endlosschleife: Es bleiben 32 Stunden!  Es gibt eine Hysterie der Lust, des Lichts und des Glaubens, die sich vereinigen in einer Zukunfstgerichtetheit, in der eine universelle Weltordnung greifen soll. Dabei entsteht ein filmischer Körper gegossen ins Relief von Abel Gance, ein filmisches Wunder. Kritisch könnte man bemerken, dass in dieser Synthese aus zeitgenössischer Sicht ein politisches Tabu berührt wird, aber die Weltordnung von Gance ist eines des Kinos, in der sich das Notwendige mit dem Überdrüssigen vereint, eine in der aus der Poesie des Filmischen ein neues Bewusstsein geöffnet wird, spirituell und groß. Es ist nicht die Schuld von Gance, dass man ihm heute nicht mehr ganz folgen kann in diesen Enthusiasmus, aber ihm verdanken wir, dass man im ewigen Echo der Tränen vor diesen Bildern und Tönen verharrt und so stark spürt wie kaum sonst, was möglich gewesen wäre, was möglich gewesen wäre, was möglich gewesen wäre.

Time Through His Hands: Seven Invisible Men von Šarūnas Bartas

Es ist eine kalte Nacht, nasse Augen wachen. Eine Gruppe von Autoknackern, die wir praktisch nie in derselben Einstellung sehen werden, eröffnet die Einsamkeit in Seven Invisible Men von Šarūnas Bartas. Der Film wird als Ausnahme im Oeuvre des Filmemachers gesehen, denn es wird ein bisschen mehr gesprochen als gewöhnlich und vor allem gibt es durchaus Genreelemente. Im Kern aber handelt Seven Invisible Men von der gleichen Ratlosigkeit und Ziellosigkeit, die das außerordentliche Werk des litauischen Filmemachers immer wieder heimsuchen. Man könnte den Film als einen Roadmovie verstehen, einen Roadtrip als Flucht, als Flucht ins Nichts, in ein Nichts zwischen Heimat und Identitätslosigkeit. Lichtpunkte dämonisieren die Nacht in den ersten Minuten, in denen man alles spürt, ohne dass man auch nur irgendeine sogenannte Information bekommt. Die Dringlichkeit, die Armut, die Anspannung, die Überzeugung und die Angst im Umgang mit dem Diebstahl. Dann gibt es einige Schauplatzwechsel. Bartas gibt sich für wenige Augenblicke seiner aus Freedom bekannten epsteinesquen Faszination für die Bewegungen des Ozeans hin, Wellen, die sich verwandeln, die das Meer verwandeln oder einfach nur Bewegung sind. Es ist ein Film der Bewegungen, die kommen und gehen, die wieder zurücklaufen, die auch rückwärts laufen könnten. Kurz darauf ein Vogelschwarm in der Steppe, später sehen wir Sand durch Finger rinnen. Alles ist eine poetische und materielle Sinnlichkeit, die durch ihr Aussehen etwas Greifbares bekommt. Man findet sich ähnlich wie in Victor Kossakovskys Belovy am Ursprung einer Welt und an ihrem Ende zugleich. Das Verlassene ist auch das Verlorene, das Verlorene ist auch das Ewige und das Ewige ist auch das Sterbliche.

Bartas Seven Invisible Men

Wie in jedem Bartas-Film strömt auch hier weißes Licht durch die Fenster. Menschen stehen in diesem Licht, weil man in ihm die Wahrheit sieht. Viele Einstellungen scheinen auf dieses Besondere, Einmalige zu warten, sie scheinen es anzuziehen. Ein kleines Spiel mit dem Licht, eine unerwartete Bewegung, ein Blick, der mehr sagt als jede Dramaturgie. Darauf zielt Bartas, so scheinen seine Einstellungen aufgebaut zu sein. Immer wieder gibt es Totalen, die zugleich wie ein Atemzug und ein Hammerschlag zwischen die Gesichter treten. Der Film spielt auf der Halbinsel Krim, darin liegt eher eine metaphysische denn eine politische Bedeutung. Allerdings wird aus dem Metaphysischen bei Bartas etwas Politisches, wenn die poetischen Bilder einer verlassenen Landschaft auch als soziales Milieu einer beständigen Verlorenheit agieren und von einer gespiegelten Schönheit berührt werden, gespiegelt, weil wir sie sonst nur in den Augen der Verbrecher wieder finden. Worin liegt die Funktion? Worin liegt der Sinn? Eine zugleich philosophische wie auch politische Frage, die bei Bartas zu einer notwendigen Formulierung wird. Er filmt die verlangenden, hungrigen und verdursteten Gesichter und erzählt mit seinem Blick etwas über die Sterblichkeit und über die Machtlosigkeit. Wie bei Pieter Bruegel d.Ä. werden seine Gesichter und Handlungen trotz ihrer Rauheit und Überforderung von einer fast heiligen Würde beseelt, Bartas glaubt nicht zwangsläufig an das Gute im Menschen, aber er glaubt an die Schönheit und Vollendung der Traurigkeit, der Schwächen und der Abhängigkeiten. Dabei ist er ständig auf der Suche nach einem wahren Ausdruck, der genauso zerbrechlich und verloren ist wie jener der Figuren. Bartas offenbart nicht nur eine Welt oder deformiert sie teuflisch (wie man das beispielsweise Ulrich Seidl vorwerfen könnte), er ergreift sie, indem seine Bilder von dieser Welt ergriffen werden, ein Griff ohne Mitleid oder Überlegenheit, sondern eine Begegnung, bei der kein Bild weiß, was es sehen wird, kein Anthropologe analysiert, was das bedeutet, sondern das auf das reagiert, was sichtbar und unsichtbar im Äußeren zum Vorschein tritt.

In all der Zwecklosigkeit entsteht eine Gewalt. Sie liegt zunächst in der Erwartung, in den versteckten Waffen, den harten Gesichtern und ihren Blicken ins Off, ihren Reaktionen aufeinander, vielleicht schlagen sie gleich zu? Bartas verlegt zwar nicht die Wirkung der Gewalt ins Off, aber ihr Ursprung liegt für ihn zwischen zwei Bildern. Zwei männliche Gesichter, zwei Frauengesichter, es gibt Verzweiflung, Neid, Eifersucht. Es ist immer der Blick auf den Anderen, der hier zur Gewalt wird. Jeder Gegenschuss ist eine Zielscheibe. Irgendwann führt Bartas eine Analogie zu den zahlreichen Tieren im Film ein. Ein Warten, ein Erschrecken, ein Getötet werden, ein Schlafen, ein Kampf. Damit verliert sich Seven Invisible Men jedoch nicht in einer plumpen Metaphorik, sondern setzt vielmehr auf die Gleichzeitigkeit der Dinge, auf die Gleichgültigkeit der Welt. Dort könnte man wieder eine Verbindung zu Bruegel ziehen, auch wenn Bartas die Menschen durch die seinem Medium geschuldete Zeitlichkeit durch Montage trennt, während Bruegel sie in einem Bild darstellt. Dennoch passieren hier und dort die Dinge gleichzeitig, sie passieren vielleicht so, dass sie kaum Bedeutung für das Gesamtbild zu haben scheinen.

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Wenn es einen großen Unterscheid zu Bartas vorherigen Filmen gibt, dann liegt der an manchen Eindeutigkeiten, die er sonst eher vermieden hatte. So wird unmissverständlich klar, dass der Hof, auf dem die zweite Hälfte des Films spielt zur Familie des Protagonisten gehört, dass dort seine Tochter ist. Die Kriminellen flüchten dorthin und sie versinken in dieser endlosen Steppe und im brutalen Rausch ausufernder Besäufnisse, die eine Verzweiflung freilegen, die weit größer ist als die Fragen nach Familie oder Verbrechen. In dieser Rückkehr und der Sprachlosigkeit ob dieser Rückkehr, liegen Parallelen zu Lisandro Alonsos Liverpool. Es geht hier nicht um die Heimatkonflikte, die man aus den meisten deutschen Filmen kennt, also nicht um eine intellektuelle Idee von Identitätsproblemen, hier geht es um das körperliche Gefühl, das keiner Idee folgen kann. Es verlangt, liebt und sehnt sich im gleichen Atemzug, wie es sich völlig fremd vorkommt und nicht kommunizieren kann. Man kann es nicht greifen, weil es wie der Sand durch die Finger rinnt und wie die Wellen ständig seine Erscheinung ändert. Es geht um eine Zerrissenheit, nicht weil die Dinge sich verändern, sondern weil es solche gibt, die beständig sind. Und sei es die Veränderung, die beständig kommt. Zwischen dem tragischen Gesang (eine erstaunliche Darstellung vorschriftlicher Kunstüberlieferung), der Poesie des Gelages fällt die offene Verzweiflung eines Mannes in das Auge und die Ohren der Zuseher. Niemand will und kann ihn hören, es wird sogar über ihn gelacht. Eine außerordentliche Einsamkeit entsteht, die nichts damit zu tun hat, dass die Figuren alleine sind, sondern vielmehr damit, dass sie in sich selbst sein müssen. Deshalb sind die Momente des Friedens im Film auch jene, in denen man durch Sehen (Fotografien, Frauen, Natur) oder Hören (Herzschlag, Schüsse, Gesang) sein Inneres verlassen kann.

Wie Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas ist Seven Invisible Men auch ein Film über den Übergang von Tag und Nacht, ein Musical zum Rhythmus einer Hoffnungslosigkeit, lass uns Tanzen bis wir untergehen. Die anhaltende Dämmerstimmung bringt entweder den Frieden einer unschuldigen Bewegung, die eine Oase entstehen lässt, wie Nuri Bilge Ceylan in seiner Teeszene in Once Upon a Time in Anatolia oder in der völligen Vernichtung und Aussichtslosigkeit, dem Feuer, das wie in Offret von Andrei Tarkwoski nicht nur ein Haus beendet, sondern eine ganze Welt. Meist sind die Oase und die Vernichtung in der gleichen Szene, so wie wenn die junge Tochter von der älteren Frau in einem orangen Licht gesäubert wird und aus eben jenem orangen Licht das tödliche Feuer entsteht. Oder jener bizarre Moment, indem die Frau während sie ausgezogen wird, ihren Mittelfinger in Richtung Kamera richtet, dann ein Victory-Zeichen macht und wieder den Stinkefinger zeigt. Es scheint in Richtung Bartas zu gehen.Ein merkwürdig reflexiver Moment, der in sich jedoch vom gleichen Leiden am Schönen durch den Blick der Kamera, von der Schönheit des Leidens und der Nähe und Offenbarung erzählt, die so schwer herstellbar ist und die doch jede Minute Film von Bartas zu durchziehen scheint.  In dieser Nacht bei Bartas kann man nur in den Augen erkennen, was ihr zum Tag fehlt, aus Mangel an besseren Worten würde ich es Liebe nennen. Aber das Verlangen dieser Augen ist sterblich.

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Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Egal ob man apokalyptischen „Ende-des-Kinos“-Gedanken oder hoffnungsvollen Fortschrittsdenkern folgt, scheint in vielen Auseinandersetzungen mit dem kinematographischen Wesen immer dessen historische, ästhetische und emotionale Vergangenheit eine Art Ideal oder Rechtfertigung zu sein. Der Blick zurück ist fester Bestandteil des Kinos. So begründete Adrian Martin unlängst seine Rückkehr in die Arbeit als freier Autor mit der Beobachtung, dass Cinephilie rückwärtsgewandt sei. Dazu zitierte er wie so oft Serge Daney: “Serge Daney once defined cinephilia as „the eternal return to a fundamental pleasure“. A pleasure whose constitution is somewhat different for each culture, each generation and, finally, each individual. But whatever it is that forms the core of the cinephile passion for any of us, it is to that, apparently, we shall return.” Filmemacher berufen sich natürlich fast zwangsläufig auf die Vergangenheit, wenn es um Einflüsse und Vorbilder geht. Sie können sich schlecht an der Zukunft orientieren und den Einfluss zeitgenössischer Filmemacher gibt man nicht gerne zu. So ist es kein Wunder, dass auch hier die Vergangenheit eine große Rolle spielt und sich bei manchem Filmemacher auch deutlich in Form und Inhalt wiederspiegelt. Nuri Bilge Ceylan ist dafür ein sehr gutes Beispiel, wird ihm doch von manchen Betrachter vorgeworfen, dass er sich sehr frei an Filmemacher wie Andrei Tarkowski oder Michelangelo Antonioni bedient. Man könnte eine ganze Liste aufstellen mit den großen Filmemachern von damals und ihrem Überleben im Werk anderer Filmemacher. Aber zum einen verkommen solche Ansätze zu unfertigen Spielereien und zum anderen ist klar, dass ein Einfluss nicht einfach nur ein Einfluss ist, er ist weder mehr noch weniger als das, ohne es jemals nur zu sein. Oft wird so getan als gäbe es die Vergangenheit des Kinos wie einen schwebenden Punkt in der Zeit völlig ohne Relation. Ein gutes Beispiel dafür hörte ich in einem Seminar zum Dokumentarfilm, in dem hintereinander Gerhard Friedls Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? und der berühmte britische Propagandafilm The Battle of the Somme gezeigt wurden und man sich begeistert auf Parallelen in der Art und Weise der Schwenks in beiden Filmen stürzte. Dabei verstehe ich, dass es diese Verbindungen gibt, aber mir fehlen die Brücken, die es ja zweifellos zwischen 1916 und 2004 gegeben hat mit tausenden ähnlichen Schwenks. Dann gibt es da Filmemacher wie Béla Tarr, von denen man immer wieder hört, dass sie sich an einer Ästhetik des Stummfilms bedienen. Das halte nicht nur ich für ziemlichen Schwachsinn, da Kamerabewegungen, Tondesign und das Schweigen in den Filmen von Tarr grundverschieden von der eigentlichen lauten, handlungsfreudigen Ästhetik vieler Stummfilme sind. Dennoch erging es mir selbst so, dass ich vor kurzem Parallelen zu entdecken glaubte, zwischen Tarr und Werner Hochbaums Morgen beginnt das Leben. Ist dieser Drang also eine Folge eines ganz anderen Drangs, der darin besteht, dass man ständig einordnen will, Brücken und Vergleiche schlagen möchte und sich sowieso ständig an seinen eigenen Seherfahrungen abarbeitet? Würde das umgemünzt auf das Kino bedeuten, dass es seit einiger Zeit ein Gedächtnis hat, das von einer solch immensen Größe ist, dass es beständig die Gegenwart durchdringt? Oder anders gefragt: Kann man überhaupt noch beziehungsweise konnte man jemals einen Film machen, der isoliert von jedweder Verbindung zur Vergangenheit des Kinos ist? Wenn man frühe und enthusiastische Theoretiker wie Jean Epstein liest, fällt einem auf, dass sie das Kino immerzu als Potenzial verstanden haben. Begeistert wird da von Möglichkeiten und Innovationen der Wahrnehmung gesprochen, die darauf warten in die Praxis umgesetzt zu werden. Heute werden nur mehr Versuche unternommen, das Kino neu-zu-denken, nicht es neu-zu-machen. Immerzu beschleicht einen das Gefühl, dass alle Wege schon gegangen worden sind, alle Ideen nur eine Wiederholung der immer gleichen und letztlich gleichermaßen scheiternden und in Kraft tretenden Utopien des Kinos sind. Dabei gleicht die Kinolandschaft dann tatsächlich einer apokalyptischen Welt, nicht weil sie völlig zerstört oder leer wäre, sondern weil man auf lauter Einzelkämpfer und Überlebenskünstler trifft, die klagen und jammern und sich von allem abgrenzen zur Gegenwart und zu allen anderen.

Serge Daney

Serge Daney

Ist das alles nicht Resignation? Als junger Mensch muss man sich schon und beständig fragen, warum man heute ausgerechnet im Filmbereich arbeiten will. Es ist eine Branche der Verzweiflung (egal ob Praxis oder Theorie), obwohl das Kino immer noch so vital scheint und auch als solches beworben wird. Nur wenn man sich umsieht, dann kann man eigentlich kaum ignorieren, dass dies eine der aufregendsten Phasen in der Geschichte des Bewegtbildes ist. Wir haben einen übermäßigen Output an Filmen, Festivals en masse und jedes Jahr große und kleine Filme, die absolut großartiges vollbringen und viele der Innovationen und Utopien des Kinos erfüllen. Ein junger Kritiker bekommt bei dieser schieren Masse und Verfügbarkeit ganz neue Möglichkeiten und eine ganz neue Wichtigkeit, da er theoretisch weitaus freier und vielschichtiger Vermittlungsarbeit betreiben muss. Für Filmemacher dagegen ist es eine unfassbar aufregende Zeit, da wir uns in lauter Übergangsphasen befinden, in medialen Übergängen, in Übergängen bezüglich des Dispositivs Kino und schließlich auch neue Vertriebsmöglichkeiten und Diskussionen entstehen. Es sollte eigentlich eine Zeit der puren Kinomanie sein, aber da gibt es einige Probleme. Die gesellschaftliche Wichtigkeit von Film wird marginaler und marginaler. Andere Medien haben die Welt überrollt. Ich spreche bezüglich der Marginalisierung von Film als Kunst. Und damit ist selbstverständlich nicht allein der Kunstmarkt gemeint, sondern auch eine Betrachtungsweise industriellen Kinos als Kunst. Fast lächerlich scheinen mir die Versuche vieler Kritiker, Filme auf ihre gesellschaftliche oder politische Relevanz hin zu analysieren. Es ist deshalb lächerlich, weil es an der völlig falschen Stelle ansetzt und die zunehmende Marginalisierung von Film eher befördert als verhindert (selbst wenn es gegenteilig gemeint ist). Der Ansatz dieser Kritiker und Vermittler ist, dass sie Filme dekonstruieren und damit aufzeigen wie diese arbeiten und was sie über uns und die Gesellschaft aussagen. Das klingt an sich nicht falsch. Nur kann ein Film heute noch was über eine Gesellschaft sagen, wenn er jenseits ihrer Wahrnehmung stattfindet beziehungsweise hilft es den Filmen, wenn man sie so betrachtet? Es scheint mir immer noch fruchtbarer sich für einen filmbezogenen, formalistischen und konstruktivistischen Ansatz stark zu machen und zwar sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Denn nur über ein Interesse und eine Begeisterung für Film jenseits seiner Thematiken und Botschaften, kann man diesen wieder ein öffentliches Gehör schenken. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Kino doch über sein Ende hinaus ist und was dies bedeuten würde. Denn was hat die Form von Film noch mit sich und uns tun?

Haben wir vielleicht bereits eingesehen, dass es keine Zukunft mehr gibt und versuchen uns jetzt alle zu retten, wir berufen uns auf die Geister des Kinos wie Apichatpong Weerasethakul oder Gilberto Perez, jene Phantome, die so fest in die Wirkung und Technik von Film einwirken, dass man sich fragen kann, ob die Vergangenheit nicht sowieso in jedem Bild wiederkehrt. Wir berufen uns auf die verbitterten Handwerker des Kinos wie Pedro Costa, auf den Surrealismus wie Bruno Dumont oder das Ende des Kinos wie Godard. Dieses traurige Gefühl einer Nostalgie ist dominant. Nostalgieabende werden veranstaltet, „alte“ Filme werden gezeigt und man betont, was für eine Besonderheit es doch ist, dass man sie noch einmal auf Film projiziert zeigen wird. Das zieht sich von Retrospektiven auf Festivals, die zunehmende Bedeutung von Il Cinema Ritrovato in Bologna bis hin zu der unglaublichen Begeisterung für die Einfallslosigkeit eines neuen Star Wars Films. Man darf sich schon fragen, ob diese ganze Glorifizierung der Vergangenheit, das Schwärmen und die Nostalgie nicht der ultimative Sieg der Hollywoodmaschinerie mit ihren Remakes und Sequels ist, die Filmgeschichte als eine Spirale, 120 Jahre Hoffen auf die Vergangenheit. Damals war alles schöner? So einfach kann es gar nicht sein, schließlich war es doch irgendwie von Beginn an klar, dass Film sich nicht vergessen kann, schließlich hat er sich selbst (neben all den anderen Dingen, die darauf zu sehen und hören sind) gespeichert. Film ist nun mal eine einzige Erinnerung an sich selbst. Nur darf man heute noch an die Utopie des Kinematographischen glauben, an jenes Potenzial unsere Wahrnehmung zu verändern und alles umzuwälzen, uns zu erfinden im Licht der Leinwand oder des Laptops? Oder ist der Weg nach vorne kürzer als der nach hinten und deshalb ist es das Zeitalter der Zyniker, der nostalgischen Brüder, die sich nicht durch ihre Weltsicht verbinden sondern dadurch, dass sie Zynismus zu einer Marke gemacht haben. Gibt es noch Möglichkeiten im Kino? Natürlich! Technische Innovationen, Reaktionen auf eine Welt, die sich zwar nie total verändert, aber immerzu so tut als ob und die bereits angesprochenen Übergangsphasen, die neues Potenzial freilegen und in extrem versierten Interpretationen wie bei Albert Serra oder in Sergei Loznitsas Maidan wirken bereits heute und deuten auf eine Zukunft des Kinos hin. Das Kino stagniert sowohl bei einem filmischen Purismus, der Film nur im Kino und an seine ursprüngliche mediale Form gebunden sieht (vor kurzem erwischte ich mich in einem Gespräch dabei zu sagen, dass die einzige mögliche Rebellion im Kino heute sei, auf Film zu drehen) als auch bei einer formalen Nonchalance, die sich nicht bewusst ist, was sie benutzt, um zu drehen oder zu projizieren und die diese Medialität und Form nicht automatisch zu einem Gegenstand des Films oder seiner Aufführung/Besprechung macht. Letzteres wäre eine Sache der Bildung und da gibt es hierzulande und überall extreme Defizite in diese Richtung. Selbst an Universitäten werden Filme nach wie vor kommentarlos gezeigt, um geschichtliche Ereignisse zu veranschaulichen. Das ist der völlig verfehlte Turn einer Vergangenheitsbezogenheit, weil er so tut als würde Film eine Welt vermitteln, obwohl Film immer in erster Linie sich selbst und einen eigenen Zugang zu einer Welt vermittelt. Man kann daraus natürlich Informationen oder Beobachtungen filtern, aber man muss sich die Arbeitsweise des Films bewusst machen. Wie die Sache auf Filmschulen oder im Bereich der Filmwissenschaften aussieht wurde an dieser Stelle schon häufiger skizziert. Man darf davon ausgehen, dass es kein größeres Interesse an einem formalen Zugang gibt, wenn, ja wenn dieser nicht geschichtlich verifizierbar ist und man ihn in Schubladen stecken kann.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Praxis darf nicht mehr einfach nur eine Selbstverwirklichung sein, es muss wieder den Idealismus einer Kinoverwirklichung geben, die sich individuell, rebellisch und abgrenzend verstehen darf, aber nicht nur mit dem egoistischen Touch einer Willkürlichkeit argumentieren sollte, sondern Fragen stellen muss an das, was da getan wird und wie es getan wird. Was man braucht sind Kämpfer für das Kino, keine Politiker, keine eingebildeten Einzelkämpfer oder Opfer eines kapitalistischen Überlebensdrangs. Das Kino braucht idealistische Realisten, die nicht zynisch sind, weil zynisch cool ist, sondern wenn dann, weil sie es wirklich fühlen. Die ökonomischen Maschinen, die uns sagen wie ein Film auszusehen hat, welcher Film besprochen werden muss und welcher gar nicht erst ins Kino kommt, müssten abgerissen werden. Sie werden es nicht. Sie sind wie eine Selbstvernichtungsmaschine. Aber ein paar Angriffsflächen bietet jedes System.

Wo könnte ein Umdenken stattfinden? Es gibt nicht viele Anhaltspunkte, aber zwei sind mir schon seit einiger Zeit zumindest als abstraktes Konstrukt bewusst. Das erste Umdenken würde die Filmpraxis selbst betreffen, es geht um ein Umdenken bezüglich der narrativen Form. In den zahlreichen Inhalt VS. Form Debatten, die man in Filmkreisen führt, kommen immer wieder unterschiedliche Zugänge zu Begriffen wie „Handlung“ oder „Geschichte“ an die Oberfläche. Ein Grund für diese porösen Grenzen ist sicherlich die Unterscheidung des „Wie“ und des „Was“ bezogen auf den Plot eines Films. Worin es eine erstaunliche Armut gibt sowohl im Kunstfilm- als auch im Mainstreambereich sind Veränderungen in der narrativen Form. Wie anders ist zu erklären, dass Non-Fiction derzeit einen so hohen Stellenwert genießt als damit, dass dort neue narrative Möglichkeiten offenbar werden? Wie anders ist zu erklären, dass ein mittelmäßiger Film wie Boyhood von Richard Linklater derart gefeiert wird, als damit, dass ein innovativer Zugang zur Produktion eines Films mit einer innovativen Erzählform verwechselt wird? Der Film gibt vor etwas Neues und Aufregendes mit der narrativen Form zu machen, tut es aber nicht. Nun mag man mir sicherlich mit einiger Berechtigung widersprechen, denn schließlich arbeiten viele Filmemacher immer wieder an interessanten narrativen Formen. Genannt seien nur Filmemacher wie James Benning, Sergei Loznitsa oder Claire Denis. Der Hunger, den man dennoch hat auf Veränderungen hängt vielleicht mit den frühen Utopien eines Jean Epstein zusammen. Denn dort wurde Kino als eine Möglichkeit begriffen, die Erfahrung der Realität sichtbar zu machen. Heute dagegen ist der bessere Film oft eine Antwort, ja ein Gegenkonzept zu dieser Wahrnehmung. Die Entschleunigung eines Tsai Ming-liang, eines Ben Rivers oder eines Lav Diaz, die mancherorts unter dem Begriff Slow-Cinema zusammengefasst wird (wieder so ein Schubladendenken), wird als Antwort auf unsere Wahrnehmung verstanden nicht als ihre Repräsentation oder gar Realität (darüber ist unser Zynismus nun wirklich schon lange hinaus). Die Mischformen spielen wohl eher unserem Zweifel und dem Versagen gegenüber einer emotionalen Abbildung der Realität in die Karten (Stichwort: spekulativer Realismus), als dass sie das Kino als Möglichkeit verstehen. Film scheint am Limit zu sein, wenn es darum geht, unsere Weltwahrnehmung wiederzugeben. Aber ist das wirklich so. Vor kurzem forderte unser Kollege hier auf Jugend ohne Film, Andrey Arnold in einem Gespräch einen Film, der ihm diese Wahrnehmung und Welt im Facebook-Zeitalter nahebringt. Nach einiger Zeit dachte ich, dass man sich vielleicht mit Chantal Akermans Toute une nuit (1982) an diese Art der Erfahrung heranmachen könnte und später vielen mir noch Michael Snows Presents (1981) oder gar So Is This (1982) ein, alles Film die über ihre Form von einer Wahrnehmung erzählen. Also wieder in der Vergangenheit suchen? Genau hier würde ein zweites Umdenken einsetzen, das damit aufhören muss zu fragen, ob ein Film alt oder neu ist. Natürlich spielen historische Gegebenheiten eine große Rolle im Umgang mit Film, man kann daraus ästhetische, produktionstechnische und politische Richtungen erkennen, analysieren und ja, einordnen, aber für die Erfahrung und Wahrnehmung des Kinos wäre es viel interessanter, wenn man einen Film in der Gegenwärtigkeit seiner Projektion oder Wiedergabe betrachtet und sich endlich eingesteht, dass das Kino, das wir heute sehen können nicht die Vergangenheit sein kann. Stattdessen schauen sich viele Zuschauer ältere Filme an, um sie mit neueren Werken vergleichen zu können beziehungsweise um die Entwicklung eines Autors nachzuvollziehen. Warum sollte es eine Entwicklung geben? Wer sagt mir in welche Richtung sie läuft? Es gibt ein immerzu gegenwärtiges Gesamtwerk. Epochen werden analysiert und als abgeschlossen betrachtet und mehr als genug junge Filmschaffende haben mir schon gesagt, dass sie sich schwer tun mit Filmen von „früher“. Wie könnte ein Medium überleben, das sich so stark mit der Vergangenheit identifiziert, wenn von ihm eine Aktualität verlangt wird, die es zwar immer hat, aber nie bezogen auf den Inhalt haben kann. Historiker töten das Kino. Vielmehr ist die Filmgeschichte doch ein Netz an Visionen, Inspirationen und Verbindungen, das immer wieder eine neue Straße offenbart und eine neue Möglichkeit über etwas zu erzählen, etwas zu beobachten oder es einfach nur zu lieben, bereithält. Wenn man die Vergangenheit des Kinos als seine Gegenwart begreift, dann kann man es wirklich kennenlernen.

Toute une nuit von Chantal Akerman

Toute une nuit von Chantal Akerman

In diesem Kino ist Nostalgie ein Gefühl, das sich im Jetzt verankert. Hou Hsiao-Hsien hat in seinem Millenium Mambo auf unfassbar geniale Weise genau diese zeitliche Verdrehung der Gefühle im Kino kommentiert. Ein Szenario in der ganz nahen Zukunft wird mit dem bedauernden Ton eines Flashbacks erzählt. Das Kino erzählt von der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Das muss sich weder in existenziellen Sci-Fi-Spielereien äußern noch in großen Gefühlen. Es darf auch eine ganz nüchterne Feststellung sein. In diesem Kino kann es nicht die Aufgabe eines Filmkritikers sein, sich exklusiv mit zeitgenössischen Filmproduktionen zu befassen, da es vielleicht Filme gibt, die über das Hier und Jetzt des Kinos und der Welt mehr sagen als Filme des Jahres 2015, die das aber gar nicht sagen müssen, weil sie für sich selbst vielleicht genug sind und damit auch genug für jede Art der Vermittlung, Programmierung und Besprechung. Ich betone, dass eine öffentliche Besprechung aktueller Filme so oder so unabdingbar ist. Es ist eher eine Frage des Umfangs und der Alternativen, aus dieser Sklavenhaltung auszutreten. Nun gibt es in dieser Hinsicht ja bereits viele Auswüchse und versuche im Internet. Nischen für Unbezahlte, Hobbies für Leidenschaftliche. Aber wenn die Kritik den Filmen folgt, dann werden weitere Schritte in diese Richtung womöglich unumgänglich. Sieht man sich an in welcher Regelmäßigkeit große Filmemacher sich in der Zwischenzeit auf vergangenes Kino berufen und dabei dessen Unvergänglichkeit betonen, sich sowohl formal als auch inhaltlich in einem Austausch mit diesem Kino befinden, dann wird es Zeit, dass man das weder als verklärte Nostalgie betrachtet noch als Romantik sondern schlicht akzeptiert, dass das Kino nur in der Gegenwart sein kann.

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Diese Vergangenheit ist kein Punkt ohne Verbindung. Ein Filmemacher, der sich an der Ästhetik von Schwenks versucht, kann daher nie nur in Relation zu einem Film aus den 10er Jahren gesetzt werden. Der Schwenk hat eine Geschichte, die kein Filmemacher ignorieren darf. Natürlich kann nicht jeder Filmemacher sehr viele Filme gesehen haben und obwohl das eigentlich verlangt werden müsste, wird er sich dieses Wissen sozusagen über einen Schneeballeffekt aneignen können, denn sieht er zum Beispiel einen Schwenk bei Visconti, bekommt er eine Ahnung eines Schwenks bei Renoir und so weiter. Das hat natürlich nichts mit dem wirklichen Dreh zu tun, wenn man im Wind steht, Hunger hat und es unheimlich schwer ist, die Schärfe zu halten. Aber was hat einen eigentlich dazu veranlasst, einen Schwenk zu machen? Welchem Gefühl folgt man, wenn man sich für eine Geschwindigkeit und eine Perspektive entscheidet? Da wir in einer Welt leben, in der das Bild schon lange die Realität überholt hat, beruht unsere Seherfahrung auf Bildern. Die Bilder eines Schwenks, bekommen wir am ehesten im Kino oder Fernsehen zu sehen. Selbst ein Filmemacher wie Lisandro Alonso, der sich ganz bewusst von den Orten, also der Realität inspirieren lässt, der seine Einstellungen mehr oder weniger organisch aus der Welt filtert, thematisiert mit einer Beständigkeit die Fiktionalität seines eigenen Werks (insbesondere in Fantasma und Jauja), dass klar sein muss, dass der Realismus immer ein Bild ist und ein Bild kann nicht einfach sterben. Mit Leos Carax, der sich immer wieder von den Ursprüngen des Films inspirieren lässt, kann man die Welt durch die Augen des Kinos betrachten. Dazu muss man aber hinsehen, nicht zurückblicken.

Jauja von Lisandro Alonso

Jauja von Lisandro Alonso

Das Meer bei Šarūnas Bartas und bei Jean Epstein

In Freedom von Šarūnas Bartas ist der Anblick und das Geräusch des Meeres ein bitteres Versprechen, die untergehende Sonne brennt mit ihrem roten Atem über die Ufer einer Welt, die, das wird im Lauf des Films spürbar, einem Gefängnis gleicht. Dabei findet Bartas immer wieder Einstellungen des Meeres, die es zu einem mysteriösen Reich werden lassen, mit Formen, die wir nicht verstehen und Wellen, die an der Zeit kleben und sich gleich einem Schwarm durch dieses Wasser kämpfen. Das Rauschen ist derart penetrant, dass man es selbst im Hinterland, den Geröllwüsten des Films noch vernehmen kann. Nach einer Zeit wird klar, dass diese Bilder, die man leichtfertig mit Freiheit und Aufbruch assoziiert, in Wahrheit ein Gefängnis und eine Qual sind. Man fühlt sich schlaflos am Meer, weil man das Rauschen nicht ertragen kann. Es geht immer weiter, wie ein dösendes Summen im Hinterkopf.

Le Tempestaire2

Le tempestaire von Jean Epstein

In Jean Epsteins Le tempestaire ist die Magie des Ozeans keine Sache der Imagination oder Erwartung. Herrscher über die Stürme kontrollieren die Flut. In einer Kristallkugel verlangsamen sie und lassen das Meer rückwärts laufen. Sie sind in Wahrheit Filmemacher, die jene Zeit manipulieren, die der Motor für jene salzigen Wiesen sind, die gegen die schroffen Felsen brechen. Schon zu Beginn wird das klar, wenn Epstein dasselbe mit seinen Figuren macht und sie aus Standbildern entstehen lässt, wie ein Gott der Zeit mit dem sinnlichen Gefühl einer leichten Brise des ersten Atemzugs. Sowohl Bartas als auch Epstein interessieren sich für die Mechanismen des Meeres und das Leben im Laugenduft der Algen. Sie zeigen das Brachland eines vom Wasser verlorenen Bodens (Die Figuren bei Bartas wandern durch die Wüste einer Ebbe und gehen in einer unfassbaren Szene mit der Flut in Richtung Ufer.) und die Dynamik des Wellenspiels und des Lichts, das auf dem Wasser in tausend Teile zerbricht. In beiden Fällen ist das Meer Hintergrund für einen existenziellen Überlebenskampf. Beide thematisieren damit Emotionen beim Blick auf das Meer, das in vielerlei Hinsicht genauso arbeitet wie das Kino. Bewegung, Licht, Ton und eine Unsicherheit gegenüber den Kräften, die von diesem Wasser ausgehen und die dieses Wasser beherrschen. Beide Filme sind nicht nur Filme über das Meer sondern auch über den Wind am Meer.

Freedom2

Freedom von Šarūnas Bartas

Doch in beiden Filmen ist das Meer beziehungsweise der Wind eine Bedrohung, ein Gefängnis, eine Angst. In Freedom wird das Meer zu einem Sinnbild für politische Grenzen einer hoffnungslosen Flucht, aber einer derart erhabenen Grenze, dass man sich fragen könnte, ob es nur an unserer Wahrnehmung dieses Wassers liegt, dass es so tödlich sein kann. Gleich zu Beginn fallen Schüsse auf dem offenen Meer. Es wird kontrolliert. Doch nicht von mysteriösen Magiern und moralischen Poeten wie bei Epstein sondern von Gesetzeshütern. In einer traurigen Szene müssen wir machtlos zusehen wie Vögel losfliegen. Man selbst kann das nicht. Bei Epstein hängt das Meer an einer regionalen Folklore und am Aberglauben, bei Bartas umspannt es die ganze Welt. In beiden Fällen zeigt es ein Potenzial des Kinos an, das weit über dessen narrative Ideologien hinausreicht. Jeder Filmemacher sollte wenigstens einmal das Meer gefilmt haben, denn es scheint mir eines der wenigen Bilder zu sein, die sich nicht wiederholen können, da das Meer immer etwas anderes ist.

Gustave Flaubert (November)
„Ich stieg eilends zur Meeresküste hinab, mit sicherem Sprung über Geröll hinwegsetzend. Ich trug den Kopf hoch voll Selbstgefühl, ich atmete stolz die frische Brise, die den Schweiß in meinen Haaren trocknete. Der Geist Gottes erfüllte mich. Ich fühlte, wie mein Herz sich weitete. In einer merkwürdigen Erregung betete ich etwas an; ich hätte mich im Sonnenlicht auflösen und in der azurnen Unendlichkeit verlieren mögen, mit dem Duft, der von der Fläche der Fluten stieg.“