Locarno-Tagebuch: Tag 3: Wo Französisch noch eine Weltsprache ist

"Ventos de Agosto"

Nachdem ich an Tag 2 vor allem den unzähligen Retrospektiven Besuche abgestattet habe, überkam mich ein wenig das schlechte Gewissen. Sollte man auf einem Filmfestival nicht eher die neuen Filme ansehen, die man vielleicht nie mehr im Kino zu sehen bekommt? Stattdessen verschwende ich meine Zeit in Utz und Le Pornographe, die man sich auch auf DVD besorgen könnte. Nun denn, der dritte Tag hatte einiges Neues zu bieten, während Locarno sich von seiner bewölkten Seite zeigte.

Der Piazza Grande in Locarno

Piazza Grande

Der Tag beginnt windig (Achtung Wortwitz!), mit Gabriel Mascaros Ventos de Agosto, einem Film, der sehr im Geiste des zeitgenössischen Weltkinos steht. Ein bisschen Jugend, ein bisschen Generationenkonflikt, ein bisschen Klimawandel, ein bisschen Nacktheit, ein bisschen Quirkiness und ganz viel bewusste Coolness. Die einzelnen Versatzstücke, dieses doch recht episodischen Werks sind zwar schön anzusehen und zeugen von Ideenreichtum, wirken in ihrer Zusammenstellung allerdings unmotiviert und zusammengeschustert. Das macht die Angelegenheit unnötig zäh.

Windmessung in

Ventos de Agosto

Auf Ventos de Agosto folgt mein (voraussichtlich) einziger Besuch eines Kurzfilmprogramms. Ich hatte in der Vorbereitung dieser Sparte nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, und die fünf Filme im gezeigten Programm konnten mich nicht davon überzeugen meine Planung zu ändern. Ehrlich gesagt, erwarte ich mir von einem Programm in Locarno, einem Festival, das für kinematische Innovation steht, ganz einfach mehr. Die fünf Filme waren schnöde und konventionelle Spielfilme – nicht schlecht gemacht aber keineswegs an den Grenzen der filmischen Form. Einzig Morgan Knibbes Shipwreck, eine poetische Reflexion über ein Schiffsunglück im Oktober 2013 vor der Insel Lampedusa schafft es mich formal zu überzeugen. Bezeichnend hingegen, dass es selbst in Locarno reicht, wenn man einen großen Namen im Cast hat (Melanie Griffith im schmerzhaft konventionellen Thirst, der aussieht, als könnte er es in die Oscar-Kurzfilmsparte schaffen – das ist kein Kompliment)

Bestuhlung im PalaVideo in Locarno

Sexy Bestuhlung

Danach gelang es schließlich endlich einem Film mit etwas Kühnheit aufzuwarten. Eugène Greens La Sapienza dürfte ein Anwärter für Jurypreise sein. Ein außergewöhnlicher Film, wenn auch kein persönlicher Favorit, zugleich eine Architekturstudie und ein Musterbeispiel an Verfremdung. Der Film handelt vom Architekten Alexandre Schmidt, der mit seiner Frau Aliénor in die Heimat des tessinischen Barockarchitekten Francesco Borromini reist. Borromini ist ein Idol des Schweizer Stararchitekten, der zur Zeit eine Schaffenskrise durchzustehen hat und sich nun von Borromini inspirieren lassen will. In Bissone (Borrominis Heimatort) treffen sie auf ein ungewöhnliches Geschwisterpaar – die Schwester leidet an Schwächeanfällen, der Bruder ist angehender Architekturstudent. Auf Vorschlag Aliénors bleibt sie zurück und ermöglicht dem Bruder mit Alexandre nach Rom weiterzureisen. Daraus ergeben sich spannende Reflexionen über Licht, Menschen, Raum und Leben. Green weiß in diesen Dialogen über Architektur größere Weisheiten einzubringen, ohne jedoch aufgesetzt philosophisch zu wirken. Die Schauspieler, und das meinte ich mit Verfremdung, spielen mechanisch, ohne Emotion, allen voran Fabrizio Rongione als Schmidt. Greens strenge, symmetrische Kadrierung der Gespräche, die Protagonisten sitzen sich, zumeist kaffeetrinkend, an Tischen gegenüber, verstärkt das roboterhafte Gehabe der Charaktere noch. Alles in allem, wirkt La Sapienza äußert barock und architektonisch, der Inhalt spiegelt sich also im Stil wieder – auf die ein oder andere Marotte hätte man allerdings verzichten können.

Meine tägliche Dosis Léaud wurde mit Jean-Luc Godards Masculin féminin gestillt. Léaud sieht immer noch eher ungesund aus und murmelt abermals ein bisschen weltfremd ein paar Worte ins Mikro. Der Film zeigt vor, was ich mir von den Wettbewerbsfilmen wünschen würde – kühnes, innovatives Filmemachen.

Jean-Pierre Léaud in

Masculin féminin

Auch Agnès Varda ist persönlich in Locarno anwesend (erstaunlich ob ihres doch recht fortgeschrittenen Alters) und legt, anders als Léaud, bei der Vorstellung ihres Films Documenteur so richtig los, sodass ich ihren französischen Ausführungen schon bald nicht mehr folgen kann. Französisch wird hier prinzipiell nicht übersetzt und als Lingua franca vorausgesetzt – auch Masculin féminin wurde in Originalversion ohne Untertitel gezeigt. Italienische Ansagen und Einführungen werden kurioserweise übersetzt – ins Französische. Documenteur ist ein selten gezeigter Film, deshalb habe ich diesmal kein schlechtes Gewissen, dafür auf einen neuen Film zu verzichten. Der Film mischt fiktionale und dokumentarische Form und bietet somit eine großartige Gelegenheit Agnès Vardas Gespür für die Poesie des Alltags zu bewundern.

Anders, wenn auch nicht weniger beeindruckend, mein Tagesabschluss Il sole negli occhi, ein neo-realistisch angehauchtes Melodrama von Antonio Pietrangeli. Ein Film aus dem Jahr 1953, dessen Dramaturgie und Finale seiner Zeit knappe fünfzig Jahre voraus ist. Der Film ist weder besonders flashy, noch besonders „schön“ im herkömmlichen Sinne, aber wirkt sehr organisch (trotz einigen kitschigen Momenten). Die Geschichte eines unschuldigen Mädchens vom Land, das in Rom als Hausmädchen arbeiten muss und sich in der Stadt zurecht finden muss klingt auf den ersten Blick wenig weltbewegend, dank einiger spannender Wendungen und der engelsgleichen Gestalt Gabriele Ferzettis, kann der Film aber über sich hinauswachsen und transzendiert in gewisser Weise die Limitationen seines Genres und Milieus. Ein schöner Abschluss, und vor allem einer, bei dem es keine Mühe macht wachzubleiben.

La Grande Dame Agnès Varda

Agnès Varda

PS: Mein Italienisch, das nie besonders gut war, beginnt wieder aufzufrischen und ich zweifle immer mehr an der Sinnhaftigkeit meines Französisch-Schulunterrichts, dass ich vergleichsweise schlecht beherrsche.

PPS: Ein Italiener sah mich heute befremdend an, als ich mir Wasser aus der Leitung in meine Plastikflasche fülle. Er fragt mich, ob man das Wasser trinken kann, ich nicke. Als er so richtig loslegen will, endet unsere Konversation, als ich ihm zu verstehen gebe, dass ich kaum Italienisch spreche. Long story short, ich hoffe das Wasser in Locarno ist trinkbar.

PPPS: Für die Qualität meiner Fotos möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen. Ich bin leider der schlechteste Fotograf, den ich kenne.

Locarno-Tagebuch: Tag 2: Die Musical-Adaption eines Shakespeare-Theaterstücks über einen Porzellansammler aus Rimini, der auch Pornos dreht

Michel Piccoli in "Les Créatures"

Bevor es mit den Filmen losgeht, auch heute noch ein paar Vorbemerkungen zum Festival selbst. Locarno ist ein recht mondäner Badeort und zieht dementsprechendes Publikum an. Das Filmfestival wird, so kommt mir vor, von den gleichen Leuten besucht und das obwohl, ich glaub das kann man so sagen, Filmfestivals durchaus als hipp gelten und andernorts viel junges Publikum anziehen (muss ja nicht immer so eine Hipsterparade wie bei der Viennale sein, aber dennoch).

Eröffnungszeremonie des Filmfestivals Locarno

Eröffnungszeremonie

Obwohl die Sonne Locarno schon frühmorgens verlockend strahlt, versammelt sich doch eine vergleichbar große Schar um neun Uhr im Cinema Ex*Rex (das meinem Eindruck nach, ein stillgelegtes Kino ist, dass nur mehr für dieses Festival seine Pforten öffnet) um Valerio Zurlinis Estate violenta zu bewundern. Und zu bewundern gibt es viel – noch dazu auf 35mm (Daumen hoch, Locarno!): Magische Blicke, großartige Luftangriffe und Kammerspielatmosphäre am Strand Riminis. Selbst die frühe Uhrzeit kann den Effekt dieses Films nicht schmälern – ein guter Start in den Tag.

 Schlangestehen in Locarno

Zwei Stunden später lädt Agnès Varda zu einer Mischung aus Buñuel und Nová Vlna. Spätestens, bei Les Créatures ist die Hütte gut gefüllt und der Film weiß mit einer bildhübschen Catherine Deneuve und allerlei Metafiktion zu überzeugen. Varda hat aber eindeutig bessere Filme in distinkterem Stil in ihrem Repertoire. Ich frage mich bloß, ob Michel Piccoli ausschließlich halbverrückte Charaktere spielt, und deshalb z.B. in quasi jedem Buñuel zu sehen ist, oder ob er ab einem gewissen Zeitpunkt ganz einfach getypecastet wurde. Fragen über Fragen also.

Apropos Metafiktion: Matías Piñeiros Wettbewerbsbeitrag La Princesa de Francia ist auch sehr meta. Das fällt einem zwar erst nach einer Weile so richtig auf, aber spätestens am Ende kapiert man, dass der Film bereits nach etwa fünf Laufzeit seinen Plot verraten hatte. Ähnlich beschwingt und dialoglastig wie Resnais‘ Ayckbourn-Adaptionen kommt La Princesa de Francia daher, immer wieder aber verweilt die Kamera auf Gemälden und Gesichtern und der Dialog tritt in den Hintergrund, wie eine Voice-Over Narration. Passend dazu geht es im Film darum, dass eine Gruppe von Freunden/Schauspielern ein Shakespeare-Radiohörspiel aufnimmt. Das Radio als auditives Nebenbeimedium wird hier filmisch gespiegelt – spannend. Beeindruckend hierbei, dass der Film trotz allem sehr leichtfüßig und spielerisch inszeniert ist (man könnte fast meinen zu spielerisch). Deshalb frage ich mich noch immer, warum Heerscharen an Zusehern die, zugegebenermaßen riesige, Messehalle FEVI, in der das Screening stattfand, während dem Film verlassen (der überdies nur knapp über eine Stunde dauert). Der Film verirrt sich zwar zum Teil in seiner eigenen Raffinesse und seinen multiplen Fiktionsebenen, aber alles in allem kann man ihm ganz gut folgen. Es geht Regisseur Piñeiro offensichtlich nicht bloß darum sein Publikum zu verwirren.

Ein Shakespeare-Radiohörspiel in filmischer Form

La Princesa de Francia

Bei leichtem Nieselregen flüchtete ich mich im Anschluss in Lina Wertmüllers Non Stuzzicate la Zanzara, ein so wahnsinniges Musical, tief dem Geiste der 60er Jahre verschrieben, das man einfach gut finden muss. Ein in Vergessenheit geratenes Stück Trash, dafür aber umso charmanter, das, wie auch „Estate violenta“, in der Retrospektive zur italienischen Produktionsfirma Titanus gezeigt wurde.

Rita Pavone - La Zanzara

Non Stuzzicate la Zanzara

Gar nicht trashig, auch wenn der Name es vermuten lassen könnte, ist Bertrand Bonellos Le Pornographe. Ein Schaulaufen für den französischen Schauspielgroßmeister Jean-Pierre Léaud, der in Locarno für seine Karriere ausgezeichnet wurde. Le Pornographe ist vielleicht einer seiner essentiellsten Spätwerke und alles in allem ein sehr gelungener französischer Autorenfilm. Ein Mann, besser gesagt ein Pornoregisseur, und seine Midlife-Crisis stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Diese Rolle hat Léaud seit den 80er Jahren perfektioniert und das merkt man sehr deutlich. Es ist als würde dieser Mann in seinem Wohnzimmer spielen. Léaud selbst war sogar im Saal anwesend, und murmelt vor Beginn des Films noch ein paar Worte ins Mikro. Er ist kleiner als ich ihn mir vorgestellt habe und sieht etwas ungesund aus.

Den Abschluss des (langen) Tages bildete Utz vom niederländischen Regisseur George Sluizer. Der hat sich dank Armin Mueller-Stahl ins Programm verirrt – der deutsche Schauspieler wurde ebenfalls für seine Karriere geehrt. Der Film, in dem Mueller-Stahl den namensgebenden Titelcharakter, einen tschechischen Porzellansammler, mimt ist ein erträglicher Abschluss für einen langen Tag. In Flashbacks wird Utz‘ Leben nacherzählt und seine Begegnungen mit dem amerikanischen Kunsthändler Fisher (gespielt von „Mr. Sheffield“ Peter Riegert). Nichts Weltbewegendes, und bei Gott kein must-see, aber ein passabler Film für das Abendprogramm eines anspruchsvollen TV-Senders.

Armin Mueller-Stahl in

Utz

PS: Ich habe es geschafft mich hier zu annehmbaren Preisen zu verpflegen. Ein Etappenerfolg sozusagen.

Der Freeze-Frame bei Léaud und Van Persie

Die kinematographische Qualität der großen Fußballdramen ist keine besondere Erkenntnis und allgemein sollte man das Kino immer und überall sehen, fühlen, denken und machen. Wer am gestrigen Abend das Viertelfinalspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen den Niederlanden und Costa Rica verfolgte, hat neben einer klassischen Underdog-Dramaturgie auch auf formeller Ebene einige interessante Aspekte entdecken können. Sehr augenfällig erscheint für mich die Verwendung des Freeze-Frames im Fußball im Vergleich zum Film. Da die Niederländer ein ums andere Mal ins Abseits liefen, kam das eingefrorene Bild auch dementsprechend häufig zum Einsatz. Dabei geht es innerhalb der TV-Übertragung um Evidenz. Durch das angehaltene Bild vermag man wie bei der neu-eingeführten Torlinientechnik einen Moment aus der Zeit herausgreifen und erkennen, ob sich ein Spieler im Moment der Ballabgabe im Abseits befindet oder eben nicht. Dabei wird dem Zuseher ein Erschließen von Gleichzeitigkeit ermöglicht, indem er erst überprüfen kann, ob es sich tatsächlich um den Moment der Ballabgabe handelt (dies setzen die meisten Fußballzuseher voraus, es gibt recht großes Vertrauen in die Fähigkeiten und das Verständnis der TV-Regisseure) und ob der betreffende Spieler sich in einer Abseitsposition befindet. Es ist ein Beweis, der die Entscheidungen als falsch entlarvt oder als richtig unterstützt. Angehalten können wir die Bilder erst wirklich erkennen. Die Information scheint Sache des Standbildes, die Emotion Sache des Bewegtbildes zu sein im Fußball. Diese in Wiederholungen angehaltenen Momente eines Spiels gestalten sich für den Fußballfreund meist in Form einer erhöhten Aufmerksamkeit, einer analytischen Ruhe, die das Bild angestrengt liest. Es ist interessant, dass vergangene Momente im Fußball häufig einen intensiveren Schauwert besitzen als die Gegenwärtigkeit des laufenden Spiels. In der Wiederholung-so sagt man- sieht man erst richtig. Betrachtet man die überintellektualisierten Analysen nach Spielen wird dieses System mit in die Freeze-Frames animierten Hilfsmitteln auf die Spitze getrieben. Fehler, die in Bewegung passieren, werden entlarvt, der Freeze-Frame ist wie eine Lupe, die uns klarmacht, dass wir nichts gesehen haben im laufenden Spiel. Ähnliches gilt natürlich in abgeschwächter Form für die Zeitlupe, deren ultimative und weniger effektive Form der Freeze-Frame in einer Fußballübertragung ist.

Offside

Aber eigentlich zerstört der Freeze-Frame den Bewegungsfluss des Spiels. Im gestrigen Spiel war es ein ums andere Mal der niederländische Star Robin Van Persie, der in seinen Bewegungen verhindert wurde. Das ist insofern spannend, da dieser Van Persie schon bei seinem spektakulären Torerfolg im ersten Spiel gegen Spanien in der Bewegung angehalten wurde. Dabei flog er durch die Luft, um per Kopfball zu treffen. Standbilder seines Fluges gingen um die Welt. Damit versichert man sich gewissermaßen der körperlich-technischen Fähigkeiten des Spielers, man verstärkt den Effekt des Übermenschlichen, der so wichtig ist für die religiösen Rituale des Sports. Aber bei den Abseitsentscheidungen gegen Van Persie kennen wir den Ausgang schon. Es ist als würden wir ihn im Moment einer unnötigen Bewegung anhalten. Im Film gestaltet sich ein Freeze-Frame häufig genau gegenteilig. Als Musterbeispiel wird ja gerne das Schlussbild aus François Truffauts „Les quatre cents coups“ hergenommen: Der junge Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) läuft über den Strand aufs Meer zu. Die Kamera kommt ihm nahe und friert ein. Schluss. Sein Blick geht wohin? In die Zukunft oder die Vergangenheit. Jedenfalls ist es ein verunsicherndes Bild. Verunsichernd, weil die Bewegung des Kinos unterbrochen wird, verunsichernd, weil es eine Ungewissheit im Protagonisten ausdrückt. Statt Evidenz wird dabei eher die Manipulation des filmischen Bildes unterstrichen. Eine Veränderung der tickenden Zeit, ihr Anhalten. Die Bedeutung und Wirkung auf den Zuseher ist also grundverschieden von der im Fußball. Aber so ein wenig wird Van Persie dann doch zu Léaud, denn auch sein Rennen kommt zu einem Halt, es ist fast noch gnadenloser, denn die Ungewissheit des jungen Doinel trägt noch so etwas wie Hoffnung in sich während jene von Van Persie schon lange vorbestimmt ist. Es sei denn wir wissen, dass er treffen wird und der Schiedsrichter das Tor gelten lässt. Dann wird der Freeze-Frame zur letzten Sekunde vor der Eruption eines Vulkans der Emotionen. Hier wusste er noch nichts von seinem Glück oder doch?

Ansonsten kennt man das gefrorene Bild im Film vor allem aus stilisierten Actionfilmen. Wie sieht es mit der Ästhetik aus? Im Fußball wird dieser Effekt auf die sogenannten Super-Zeitlupen verlegt. Im HD-Zeitalter gibt es mindestens einmal pro Spiel eine Montagesequenz mit emotionalen Gesten, Gesichtern und Bewegungen, die in extremer Verlangsamung ein ästhetisiertes Drama erzählen. Man denke bei der derzeitigen Weltmeisterschaft an die Aufnahmen der ausgemergelten Gesichter von Cristiano Ronaldo oder Xavi. Verlierer des Turniers, die wir in einer verlangsamten Erkenntnis des Schmerzes erleben. Der stilisierte Freeze-Frame benötigt jedoch einen Cut, um nicht analytisch zu werden. Und das widerspricht der notwendigen Nachvollziehbarkeit der Abläufe. Ich würde anregen großen Regisseuren, mal die Regie bei einem Fußballspiel zu überlassen. Die normierten Schnittabfolgen könnten gebrochen werden. Ich träume von vier Minuten langen Einstellungen auf den Schiedsrichterassistenten, die Hände des Trainers, das Flutlicht im Regen, das Gesicht eines Ordners, der abgewandt vom Platz die Zuseher beobachtet und eben Freeze-Frames als schnelle Schnitte oder gar als markeresquer Fotoroman. Dann wird das Ergebnis zur Nebensache.

Van Persie

Aber der Fußballfreund pocht zu Recht auf sein Ergebnis und somit Kontinuität. Schließlich gibt es beim Fußball nichts Schlimmeres als den Off-Screen, wogegen es im Kino fast nichts Schöneres gibt. Das bedeutet, dass im Moment des Einspielens von Freeze-Frame Wiederholungen oder anderen Cut-Aways, wie dem häufigen Zeigen von Zuschauern oder Trainern weitergespielt wird. Es ist daher eine Pflicht für die Regie bei einem Fußballspiel Wiederholungen nicht im laufenden Spiel einzuspielen. Der Zuseher würde es als eine Katastrophe empfinden, wenn er ein Spiel ansieht, aber das Tor nicht live erlebt. Dagegen gewinnt das Kino gerade durch das Nicht-Zeigen, das Auslassen von Raum und Zeit eine spannungsfördernde Note. Man stelle sich vor es gäbe einen Freistoß und die Regie würde in eine Nahaufnahme eines Trainer schneiden. An seinem Gesicht würde man (unterstützt zweifellos vom Ton) ablesen, was passiert. Oder man würde gar aus dem Stadion schneiden und den Verkehr filmen. Ja, die Welt geht weiter, man könnte davon erzählen. Ein wenig leben die Konferenzschaltungen des Pay-TV Senders Sky von dieser Off-Screen Spannung. Schließlich wartet man gespannt auf den Tor-Schrei aus anderen Stadien oder erlebt einen frustrierenden Stadionwechsel in einer spannenden Szene. Was bleibt ist die Zeit. Denn der Fußballfreund begibt sich in eine Illusion, wenn er die Richtigkeit einer Entscheidung in Freeze-Frame-Wiederholungen überprüft. Die Entscheidung wird nicht revidiert werden. Damit ist die neu eingeführte Torlinientechnik ähnlich wie das Hawk-Eye im Tennis ein filmisches Mittel, das ermöglicht die Zeit anzugreifen, sie zu verändern und diese Veränderung der Vergangenheit tatsächlich auf die Gegenwart des Spiels zu übertragen. Man denkt an Michael Hanekes „Funny Games“, indem die beiden Verbrecher die Zeit zurückspulen, um ihren Plan zu einem erbarmungslosen Ende zu bringen. Nur hier wird die Evidenz gebrochen, beim Fußball wird sie bestätigt.

Tsai Ming-liang Retro: Visage

Zum Abschluss meiner Tsai Ming-liang Besprechungen, die im Rahmen der Retrospektive im Wiener Stadtkino entstanden sind, möchte ich mich mit „Visage“ auseinandersetzen, der vor 5 Jahren in Cannes uraufgeführt wurde. Das vom Louvre mitfinanzierte Projekt hat den Neorealismus, der sonst in den Arbeiten des Regisseurs anklingt endgültig in ein L’art pour L’art verwandelt, ein selbstreflexives Kreislaufen, eine Ode an das französische Kino (vor allem an eine romantische Vorstellung von François Truffaut) mit völlig absurden Szenen. Dabei wird trotzdem auch die Geschichte von Hsiao-kang weitererzählt, dessen Mutter stirbt während er einen Film mit Antoine Doinel/Jean-Pierre Léaud in Paris dreht.

Visage

Im Film sind viele Größen des französischen Kinos zu sehen. Fanny Ardant gibt die Produzentin, dabei spielt sie immer Fanny Ardant, die in jungen Jahren für den späten Truffaut spielte. Es gibt Szenen hier, die bestätigen jeden, der das französische Kino hasst. Szenen voller Selbstverliebtheit und kinofremden Klassizismus, die dann von Léaud, für alle, die das Kino lieben, gerettet werden, mit Lebendigkeit, Strangeness, Schönheit und einem guten Schuss Durchgeknalltheit. Unerreicht eine Szene, in der Léaud mit Lee Kang-sheng vor einem Monitor am Filmset sitzt und mit ihm über die großen Regisseure der Filmgeschichte spricht, indem beide Namen sagen. Ansonsten ist die Kommunikation schwer und man erinnert sich an „Domicile Conjugal“, in dem Léaud ähnliche Kommunikationsschwierigkeiten mit einer japanischen Frau hat, wegen der er seine Frau verlässt. In einer Szene treffen sich Fanny Ardant, Nathalie Baye und Jeanne Moreau an einem Tisch, weil das schon genügen muss. Mathieu Amalric schaut für einen Blowjob am Filmset vorbei, zusammen mit Lee Kang-sheng in einem Gebüsch, warum nicht? Laetitia Casta spielt so etwas wie die Hauptrolle im Film von Hsiao-kang. Sie klebt alle Fenster mit schwarzem Klebeband zu, schleppt sich mit ihrem Kostüm durch die Unterwelt, raucht in einem Framing à la Raoul Coutard. Künstlichkeit und Kunst werden hier zum Thema. Da gibt es einen Schneefall im Sonnenschein, den Traum einer transparenten Haut im Ästhezismus der Gefühle.

Visage2

Es ist ein Traumzustand, der die Motivik des Regisseurs zu einem Museumsobjekt macht. Am Ende kriecht Léaud dann auch aus einem Lüftungsschacht im Louvre. Das Set befindet sich dahinter, die Kunst ist woanders. Ansonsten laufen Hirsche an einem Filmset voller Spiegel von einem dumpfen Ton begleitet gegen die Spiegel, es wird gesungen und getanzt, man reist nach Taipeh zur Beerdigung, man sucht den entlaufenen Hirsch. Dahinter verbergen sich dieselbe Isolation, dasselbe Begehren und dieselbe Zärtlichkeit wie in allen Filmen von Tsai Ming-liang. Aus der toten Zeit gewinnt der Regisseur hier ein manchmal absurdes, manchmal transzendentales Gefühl. Als würde seine eigene Filmographie den epischen Sinn in die Bilder des klaren Nichts hauchen. Am Ende kehrt er zum Brunnen aus „What time is it there?“ zurück, dort ist der Hirsch, dort war der Vater, dort war die Liebe, dort bleibt die Einsamkeit. So könnte ein Selbstportrait nicht der eigenen Person, aber des eigenen Schaffen aussehen. Zum Abschluss der Retrospektive war dieser Film genau richtig für mich. Als Einstieg wäre er fatal.

Tsai Ming-liang Retro: What time is it there?

In vielen Bildern von Tsai Ming-liangs „What time is it there?“ gibt es noch ein zweites Bild. Einen Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit, in der Form einer geöffneten Tür, eines Nebenzimmers, einer Nebenstraße. Es ist ein Film, der in jeder Sekunde von einer anderen Welt träumt, von der Sehnsucht nach einer Flucht, die einmal vollzogen in Einsamkeit endet. Drei Protagonisten bevölkern die brillant ausgeleuchteten, feuchten Räume, Straßenecken und Plätze des Films. Da ist zum einen Hsiao-Kang gespielt von Lee Kang-sheng, dessen Vater gestorben ist und der Uhren verkauft an einer Brücke in Taipeh. Dann ist da seine Mutter, gespielt von Lu Yi-Ching, die den Tod ihres Mannes nicht wahrhaben will, die den buddhistischen Glaubensritualen rund um eine mögliche Wiedergeburt bis in die Extreme folgt und schließlich Shiang-chyi, gespielt von Chen Shiang-chyi, die einen langen Urlaub in Paris macht und sich davor noch eine Uhr bei Hsaio-Kang kauft. Es entsteht ein kurzer Funke zwischen den beiden, der in diesem Film zum Erlischen verdammt ist.

What time is it there?

In einer konstanten Übersprunghandlung beginnt der junge Mann sämtliche Uhren, die ihm in die Finger kommen, umzustellen. Dabei portraitiert Tsai Ming-liang das sehnsüchtige Leiden des Fremden inmitten seiner Welt mal absurd, mal tragisch, mal entleert. Immer spürt man dabei den Druck eines möglichen Eskapismus, vom Sex mit einer Prostituierten, bis zum abstrakten Fliehen in eine andere Zeit Das ganze wird in gemäldegleichen Bildern vollzogen, die in ihrer Bildtiefe und Vielschichtigkeit ein sinnliches Fest für die Augen bereithalten. Hier werden auch unterschiedliche Arten der Trauerbewältigung angezeigt. Die Uhren (Mühlen und Windräder) drehen sich unbarmherzig, aber die Geister sind immer noch anwesend. Am Ende sind es nicht die Glaubensrituale, sondern der Traum und das Kino, die den Vater, den wir aus der ersten Szene kennen, zurückbringen. Das Kino als eine Geisterbeschwörung, die dann in „Goodbye, Dragon Inn“ ihre Fortsetzung bekommt.

Nicht viel besser ergeht es Shiang-chyi in Paris. In beängstigender Ruhe werden mögliche Begegnungen gezeigt, die nie zustande kommen. Mal liegt das an räumlicher Distanz, mal an kulturellen oder sprachlichen Unterschieden. Einzig eine junge Frau aus Hongkong scheint so etwas wie Wärme auszustrahlen. Die beiden verbringen eine Nacht zusammen, in der es zu einem verlegenen Kuss, mehr aber nicht kommt. Als die Mutter mit ihren Ritualen am Ende ist, offenbart sie in einer tieftraurigen Szene ihre Sehnsucht, in einer für den Regisseur so typischen Masturbationsszene an den Grenzen zwischen Absurdität und totaler Verletzlichkeit. Ein Zusammenkommen kann es in dieser Welt nicht geben, die nüchterne Einsamkeit bleibt als melancholisches, vom Tod determiniertes Gefühl. Die paradoxen Momente, in denen sich dieses Gefühl vollzieht, sind auch von Komik durchzogen.

What time is it there?

Die versuchte Flucht drückt sich auch in den Kinobildern selbst aus. Zum einen flieht Hsiao-Kang einmal im wahrsten Sinne des Wortes ins Kino. Bei sich hat er eine Uhr, deren Zeit er-wie das Kino selbst-manipuliert. Zum anderen beginnt er sich Les quatre cents Coups von François Truffaut anzusehen, um wenigstens mit dem Kino in Paris zu sein. Darin beobachtet er den jungen Antoine Doinel auf der Flucht. In einem ewigen Kreis, der nur ist und nichts bedeutet oder beim Klauen der Milch. Das musikalische Thema des Nouvelle Vague Klassikers erklingt kurz im Abspann. Aber die Zeit macht vor dem Kino nicht halt und so sitzt Jean-Pierre Léaud plötzlich auf einer Bank neben Shiang-chyi in Paris. Natürlich ist diese Bank an einem Friedhof. Er versprüht den alten Charme, könnte aber auch ein Geist sein, einer der die Wälder von Apichatpong Weerasethakul heimsucht, ein Geist und die Vergangenheit des Kinos.

Wenn Tsai Ming-liang Filme über Entfremdung macht, dann ist What time is it there? am Endpunkt der Entfremdung angekommen, ein Moment, in dem man gar nicht mehr in der Welt ist, in der man vor Trauer nichts mehr wahrnimmt, vor Sehnsucht nichts mehr spürt oder nur noch als Geist ohne Berührung über die Oberflächen zweier Kontinente huscht. Was dann bleibt sind falschgehende Uhren, sind verschwundene Telefonnummern und der Schlaf. Was nicht mehr bleiben kann ist vielleicht das Kino. Oder gerade deswegen.

Histoire de Cul: La maman et la putain von Jean Eustache

„Permets-moi, je t’en prie, Marie. Permets-moi pour une sombre histoire de cul…”

Bei Jean Eustache und seinem La maman et la putain besteht die Liebe aus Leid. Kaum ein lächelndes Gesicht über 3,5 Stunden. Mit Verachtung sprechen die Charaktere von Sex und Gefühlen; Mit blinder Leidenschaft folgen sie ihren Bedürfnissen fast wie Tiere. Es ist ein anti-romantischer Ansatz bei dem Körper mit Gartenanlagen verglichen werden und Betrug zum Alltag gehört. Es war, wie man hört, ein aufrichtiger und persönlicher Film, der den häufig übergangenen Filmemacher an seine persönlichen Grenzen brachte. Es ist, man mag mir diesen emotionalen Ausbruch verzeihen, einer der besten Filme, die je gedreht wurden. Das liegt in meinen Augen hauptsächlich an drei Dingen:
Aufrichtigkeit+Verortung+Alltäglichkeit 
Dabei soll nicht vergessen werden, dass der Film gewissermaßen ein reflektierender Höhepunkt der Nouvelle Vague ist, der sie zur gleichen Zeit denunziert und auf ein neues Level hebt, der sie vergöttert und ablehnt. Mit einem Cast bestehend aus Jean-Pierre Léaud, Isabelle Weingarten, der kürzlich verstorbenen Bernadette Lafont und Françoise Lebrun zeigt sich der Film in seiner schwarz-weißen, verrauchten, Paris-Atmosphäre schon oberflächlich als später Vertreter einer gewissen neuen Tendenz im französischen Kino der 50er, vor allem 60er und manchmal 70er Jahre. Jean Eustache, der sich im Alter von 42 Jahren erschoss, zählt nicht umsonst zu den ersten Vertretern einer neuen Generation im französischen Kino, der er zusammen mit Maurice Pialat die Krone aufsetzte, ohne jemals die Wertschätzung seiner Vorfahren zu erreichen. Es ist ein Kino, indem das Zitat zitiert wird, indem die Charaktere in einer Kinokultur und Popkultur leben. Es ist die Geschichte von Alexandre, der frisch von seiner Liebe Gilberte getrennt ist und mit Marie zusammenlebt. Alexandre ist finanziell von Marie abhängig und lebt bei ihr und mit ihr in einer offenen Beziehung. Er lernt jedoch in einem Café Veronika kennen und beginnt eine Affäre.  Das Wort „Liebe“ wird ähnlich wie bei Louis Malles Les amants oder ähnlich prekären Melodramen zu häufig benutzt, als das es wahr wäre. Aber von Gefühlen oder einem Melodram ist der Film trotz seiner Dreieckskonstellation himmelweit entfernt. Es ist vielmehr ein Portrait von narzisstischen Intellektuellen, die Zeichnung einer Generation, die man als 68er oder Post-68er bezeichnen könnte, die sich mit einer Geschlechterproblematik auseinandersetzt und daran zweifelt. Wer könnte da geeigneter sein als Jean-Pierre Léaud, jener von Truffaut geborene Antoine Doinel, den man kennt als einen jungen Mann, der vor dem Spiegel steht und seinen Namen wiederholt und wiederholt und wiederholt, der zwischen maskulin und feminin oszilliert und immer gleichzeitig für sich selbst, den Film, seine Schauspielpartnerin und den Zuseher zu spielen scheint. Er ist ein Vertreter der Nouvelle Vague, der sie gleichzeitig von außen ansieht. Wenn man sich fragt, ob Charaktere im Kino reflektieren sollten, dann kann man mit diesem Film-trotz seiner Romanhaftigkeit-mit einem klaren „Ja“ antworten. Romanhaft ist nicht nur das theatrale Spiel von Léaud (das würde ich sogar als unbedingt filmisch betrachten), sondern  auch die Künstlichkeit der Wörter; so verwendet Alexandre die Sie-Form bei seiner Geliebten.

Jean Eustache ist bekannt dafür, dass er seine Drehbücher und Dialoge wortwörtlich nahm. Schauspieler durften nicht ein Wort abändern, alles musste exakt so aufgesagt werden wie er es sich ausgedacht hatte. Dabei erreichen seine Dialoge, trotz aller artifiziellen Tendenzen manchmal die Echtheit und Direktheit einer Improvisation. Damit ähnelt er John Cassavetes, der zum Beispiel in A woman under the influence einen ähnlichen Effekt erzielte. Eustache thematisiert nicht nur inhaltlich immer wieder das Kino selbst und macht sich damit-insbesondere, weil er viel amerikanisches Kino zitiert- zu einem Teil der Nouvelle Vague, gleichzeitig aber scheint ein kritisches Bewusstsein des jüngeren französischen Kinos in seinem Werk mitzuschwingen.

Trotz der durchgehenden Reflektion, der Länge und der Wortbezogenheit des Films, die in Cannes seinerzeit zur wütenden Nachfrage auf der Pressekonferenz führte, warum Eustache denn nicht ein Buch geschrieben habe, ist La maman et la putain ein zutiefst filmisches Werk. Einer der Gründe dafür ist, dass die Worte und das Denken im Film nur Vorwand vor dem Gefühl sind. Hinter dieser Anti-Romantik, die in offenen Beziehung Affären als normal tituliert und sie in den Alltag einbindet, die keine Lüge und keine großen Geheimnisse kennt, sondern einfach nur bloße Existenz schwingen eben doch auch gefühlsbetonte Abhängigkeiten, ja ein Drang zur Selbstzerstörung mit. Einmal visualisiert Eustache das fast schon plakativ, als Alexandre mit einem Buch im Café sitzt und liest, aber kaum damit beginnt, weil er ständig eifersüchtig zu Veronika sieht, die sich mit zwei Männern unterhält. Was in diesem Film passiert, wird eben kaum ausgesprochen. In den langen und häufigen Schwarzblenden gewährt Eustache einen Nachdenkprozess. Im Dunkel des Kinosaals kann man wirklicher nachdenken, als im philosophischen Diskurs von Alexandre, der Teil einer vom Existenzialismus getränkten Café-Gesellschaft ist, die aus Mücken Elefanten macht, aber aus Elefanten auch Mücken.
“Pour moi, il n’y a pas de putes. Pour moi, une fille qui se fait baiser par n’importe qui, qui se fait baiser n’importe comment, n’est pas une pute. Pour moi il n’y a pas de putes, c’est tout. Tu peux sucer n’importe qui, tu peux te faire baiser par n’importe qui, tu n’est pas une pute.”
1.Aufrichtigkeit
Viel kann man lesen über die autobiografischen Bezüge des Films. Eustache, der eine ähnlich fatale Dreiecksbeziehung führte, seine Beziehung zu Françoise Lebrun im echten Leben, der Selbstmord jener Frau, auf der der Charakter von Bernadette Lafont basierte, die Thematisierung von Selbstmord, den auch Eustache mit 42 Jahren beging. François Truffaut hat einmal gesagt, dass er nur deshalb Filme über Kinder gemacht habe, weil er sonst nichts gekannt habe außer dem Kino. Und man müsse Filme über Dinge machen, die man aus dem Leben kenne. Dies ist schließlich auch der Grund, warum viele Ausbildungsstätten für Filmschaffende ein besonderes Augenmerk auf den Lebenslauf der potenziellen Studenten legen. Was daran fatal und falsch sein könnte, zeigen eben Truffaut und Eustache. Persönliche und echte Geschichten zu erzählen ist nämlich keine Sache des besonderen Lebenslaufs, sondern der Fähigkeit das Besondere im eigenen Lebenslauf verarbeiten zu können. Denn im Kern ist jedes Leben voller Filme. Was La maman et la putain also zu einem so aufrichtigen Film macht, sind nicht zwangsläufig die autobiografischen Bezüge, sondern vielmehr die Offenheit, Ehrlichkeit und Schlichtheit, in der sie Eustache sicht- und hörbar macht. Seine Auflösung ist einfach, statisch und auf den Kern fokussiert. Er hat die Rolle mit Léaud im Kopf geschrieben, aber er hat sie mit seinen Gedanken und seinem Leben gefüllt. Mehr braucht der Film nicht. Hier wird keine kinoästhetische Schlacht im Stil von Jean-Luc Godard geschlagen, keine kinematographische Entfremdung in architektonischen Formen wie bei Michelangelo Antonioni aufgebaut, sondern die Wahrheit und die Fixierung der Zeit liegen bei Eustache im Vergehen von jener Zeit und in den Dialogen/Monologen. Die Konsequenz der Länge des Films ist pure Logik. Ähnlich wie beim diesjährigen Cannes-Gewinner La vie d’Adèle kommt erst dadurch das Leben hinter den Figuren zum Vorschein. Man scheint etwas nur lange genug betrachten zu müssen, um tiefer einzutauchen. Alleine das würde schon das filmische Potenzial von La maman et la putain rechtfertigen, aber die Verortung im Kino ist auch deshalb notwendig, weil die Charaktere in einer Kinowelt leben. Immer wieder macht Alexandre Querverweise auf Filme von Chaplin, über Elio Petri bis zu Bresson; ein großes Thema im Film ist das Rollenspiel. Alexandre ist damit beschäftig so zu sprechen wie andere sprechen, die Stimmungen schwingen unheimlich schnell um. Es geht darum, dass jeder eine Rolle spielen will, aber die Kamera ist unerbittlich und weil sie einfach nicht weggehen will, kann der Zuseher irgendwann tatsächlich hinter die Masken blicken. Eustache bleibt so lange auf der Falschheit bis sie echt wird. Er ist ein großer Künstler des Kinos. Die Rolle einer aufgeklärten und sexuell befreiten Kultur? Nicht umsonst löste der Film einen Skandal in Frankreich aus, denn die Gesellschaft, die er zeigt, ist kaputt. In welchem anderen Medium hätte Eustache seine Idee vom Leben zeigen können? In keinem, weil er ein Kind des Kinos ist und weil Kino durch jedes seiner Bilder und Worte spricht. Wenn man in einem Roman wie High Fidelity das Gefühl hat, dass das Buch eigentlich besser eine Schallplatte wäre, dann macht das Spaß, führt aber zu keinem tieferen Erlebnis. Bei Eustache sind Künstler und Medium eine Einheit und das sollte man dann auch nicht vergessen, wenn Lebensläufe in Filmschulen wichtiger zu sein scheinen, als die Beziehung zum Kino. Denn auch bei Truffaut sind Kinder nur ein Mittel, um seine Liebe zum Medium auszudrücken. Bei Eustache ist diese Liebe aber Leid.
Et je me fais baiser par n’importe qui et on me baise et je prends mon pied.
2.Verortung
La maman et la putain ist derart fest an einem Ort und vor allem in einer Zeit verortet, dass er tatsächlich als Portrait einer Generation verstanden werden kann und zwar im dokumentarischen Sinne. Wie kann ein Filmemacher nur sowas erreichen? Das hat sich auch Olivier Assayas gefragt:
„Je n’aurais pas imaginé ne pas citer La Maman et la Putain. J’ai l’impression de vivre avec ce film depuis qu’il existe. Je me pose, comme beaucoup de gens dans le cinéma, la question de savoir comment on peut refaire quelque chose comme cela, comment on peut atteindre ce qu’Eustache a atteint. Je crois que la réponse est qu’on ne peut pas. Eustache a dans ce film résumé et accompli une idée qui était celle de la Nouvelle Vague. Il a fait le film qui avait été théorisé par la Nouvelle Vague.”
Assayas selbst scheint mir zumindest manchmal eine modernere Version von Jean Eustache mit einer guten Prise Hongkong-Kino und einer sich ständig bewegenden Kamera zu sein. Es geht hier um nichts geringeres, als Leben auf die Leinwand zu bannen, das etwas über das eigene Leben aussagt. Und zwar individuell und auf die Gesellschaft bezogen. Die On-Location Drehs der Nouvelle Vague helfen da natürlich ungemein. Die Cafés und Wohnungen atmen den Geruch von Paris um 1970. (Ich war nicht da, ich kenne ihn nur aus Filmen, darüber könnte man einen weiteren Blogeintrag verfassen…) Die Themen sind von Film- und Popkultur durchdrungen; Kostüm, Frisuren, Komparsen. Da ist nicht viel gestellt, da wurde nicht viel konstruiert. Film als Zeitdokument. Heutzutage werden diese Zeitdokumente anderes hergestellt, sie scheinen konstruiert werden zu müssen, wie in Fight Club von David Fincher oder kürzlich in Spring Breakers von Harmony Korine. Der Entwurf und das nicht zu Ende Denken, ja nicht zu Ende schauen sind hier Teil einer Generation, die es zu portraitieren gilt. Das sind schon fast keine Filme mehr, sondern montierte Eindrücke, die sich nicht an Charakteren festhalten, deren Charaktere sich sogar auflösen. Doch kommt da Film nicht an eine merkwürdige Grenze? Wenn man die Stimmung einer Generation nur mit MTV-Ästhetik einfangen kann, kann man sie dann noch mit Filmen einfangen? Oder wäre die Rolle von Filmen nicht eine gänzlich andere, eine die nach Wahrheit unter der Oberfläche sucht, statt die Oberfläche zur Wahrheit zu verklären? Was sowohl Korine als auch Fincher versäumt haben im Vergleich zu Eustache ist einen echten, glaubhaften Charakter ins Zentrum ihrer Gesellschaftsanalysen zu stellen. Denn genau dieser Alexandre, der in seinem Macho-Narzissmus versucht ein mondänes Intellekt erscheinen zu lassen, ist der Grund warum der Film auch 2013 noch genau so funktioniert wie vor 40 Jahren.  Vor kurzem habe ich mir über ein Kino der Deformation Gedanken gemacht. Auch bei Eustache gibt es diese Deformation, die das Filmsetting zu einem echten Setting macht und einen verzerrten Spiegel vor das Gesicht des Zusehers hält: Sie liegt im Verhalten der Charaktere, im Humor des Films, in den Stimmungswechseln. Die Verortung könnte naturalistischer nicht sein und die Deformation bei Eustache ist eine naturalistische, denn sie obliegt nicht einer bewussten Veränderung des Alltäglichen, sondern dessen messerscharfen Analyse.
Il ne faut baiser que quand on s’aime vraiment.
3.Alltäglichkeit
Was ist Alltäglichkeit eigentlich im Kino oder was kann es sein? Eine genau so vager Begriff wie Realismus, vielleicht ist Alltäglichkeit der irrelevante Bruder von Realismus? In erster Linie mag man, gerade im Bezug auf La maman et la putain denken, dass es mit dem Verstreichen von Zeit zu tun hat. Oft bleibt die Kamera von Eustache lange Zeit auf den Charakteren, obwohl scheinbar nichts passiert. Die Abwesenheit von Handlung oder einer motorischen Umsetzung des Denkens liegt auf der Hand. Oft scheinen Alexandre und vor allem auch Veronika beziehungsweise Marie genau das zu tun, was sie nicht tun wollen. So versucht Marie Alexandre zärtlich zu berühren, als dieser mit Veronika schläft, aber ihre Hand wird von Veronika immer wieder weggeschlagen.  Mehr noch scheint mir Alltäglichkeit aber eine Frage des Rhythmus zu sein.  Von der ersten Einstellung an wird Zeit nicht manipuliert bei Eustache sondern abgebildet. Selbst die Schnitte entstehen in Form einer Blende daher langsam. La maman et la putain als Denkprozess, der Vivre sa vie nochmal entschleunigt und vor allem sich die Zeit nimmt lose Teile zu verbinden. Entfremdung entsteht hier nicht durch Lücken, sondern durch deren Betonung. Alltäglichkeit ist immer auch einer Auswahl unterzogen. Es geht darum, nicht immer die scheinbar entscheidende Handlung zu zeigen, sondern den Moment der Zeit im Bild einzufangen. Nachdem Alexandre und Veronika Marie verlassen, bleibt die Kamera gegen den Impuls der Handlung, die eigentlich Alexandre folgt bei Marie. Sie legt eine Platte auf und man betrachtet sie das ganze Lied ohne sie wirklich zu sehen, weil sie sich von der Kamera abwendet. Hier ist also ein entscheidender Moment, der aber alltäglich ist. Es geht nicht darum etwas Besonderes zu zeigen, sondern darum, dass aus dem Banalen etwas Besonderes entsteht. Natürlich gehört das Understatement in der Kameraarbeit auch dazu. Kaum eine Einstellung würde man als speziell schön oder ästhetisch bezeichnen, immer steht die Kamera dort wo sie steht. Meist effektiv, aber nicht zwangsläufig. Das erinnert dann an Cassavetes, der Figuren unscharf hatte oder aus dem Bildkader verschwinden ließ, oder eben modernere Fassungen eines solchen Kinos der Alltäglichkeit wie die Gebrüder Dardenne oder den unglaublichen Cristi Puiu.  Puiu ist deswegen unglaublich, weil er wie ein Musterbeispiel dienen kann, um Alltäglichkeit im Kino zu erklären oder sich dem anzunähern, was es sein kann. In seinem Marfa și banii folgt er einer Gruppe von Jugendlichen, die Drogen transportieren auf ihrer Fahrt nach Bukarest. In Jump-Cuts drängt sich der Film mit langen Einstellungen in Richtung der rumänischen Hauptstadt und immer schein Puiu sich für die unbedeutenden Ereignisse zu interessieren. Damit erschafft er eine Echtheit, die das Kino zu seiner immer noch wahrsten Form führen können: Realität. Selbst wenn dramatisches passiert, sind nicht alle Weichen auf Drama gestellt bei Puiu und auch bei Eustache. Lachen und Weinen, Zuneigung und Ablehnung, Liebe und Ekel wechseln sich ab. Ein absurd-existenzialistisches Element schwingt dabei mit. Diese Filme fragen sich was es heißt zu leben und damit fragen sie auch automatisch das Kino nach seinen Fähigkeiten. Es passiert unheimlich viel, aber die Bewegung muss nicht immer linear sein. Kino hat die Möglichkeit ein Bild und mehrere Bilder quer zu lesen, es stehen zu lassen, in der Zeit aufgehen zu lassen. Der einzelne Moment kann an Bedeutung gewinnen und sich in der Zeit entfalten. Die scheinbare Willkür offenbart sich sowohl bei Eustache als auch bei Puiu und allen anderen genannten Filmemachern als präzises Auge und Ohr. In den leeren Momenten liegt oft mehr Gehalt als in den handlungsdominierten. Leben muss ja nicht unbedingt heißen etwas zu tun. Gerade Kinogänger, die während sie den Film sehen, sitzen und schauen, sollten wissen, was möglich ist, in einem solchen „leeren“ Moment, der mir in der aktuellen, von Bildschirmen und Passivität beherrschte Gesellschaft umso wichtiger erscheint.  In der Alltäglichkeit entsteht dann das, was Deleuze ein Zeit-Bild nannte. Er hat das verbunden mit einer Überwältigung, einer Machtlosigkeit der Protagonisten, die selbst zu Zusehern werden. In La maman et la putain werden die Protagonisten sogar zu Zusehern ihrer eigenen Handlungen. Einmal spricht Alexandre davon, dass er sich nicht von Menschen trennen kann, weil das die Zeit sowieso regeln wird. Er wolle nicht den Job der Zeit übernehmen. Grausam und wunderschön daran ist, dass die Zeit diese Dinge wirklich regelt.
Im Leben, im Film.