Émplastron

Das Ende der Welt: Auf der Unterseite tausender im Boden versunkener Pflastersteine laben sich kleine Würmer, friedlich und feucht. Sie werden erweckt von einem Zittern, einem anschwellenden Rumoren. Es kommt einmal im Jahr, sie kennen es schon, aber haben es vergessen. Sie vergessen zu schnell, diese Würmer. Hunderte Räder, das Tosen der Menge, ein Sonntag im April, in der Hölle. Die Würmer flüchten schnell. Tiefer, tiefer in die Erde, nur weg von diesen Steinen.

Die Körper der Menschen sind nicht für diese Straßen gebaut. Auch sie zittern. Sie zittern wie die Steine. Die Lippen werden rissig vom aufwirbelnden Staub. Wenn die Sieger im Ziel ihre Partner küssen, schmeckt alles nach Erde. Sie schmecken nichts. Nur das Leiden und den Stolz, es überstanden zu haben. Vielleicht auch ein wenig Dankbarkeit, aber sie haben vergessen für was.

Es ist lächerlich, im Angesicht der Liebe und des Schmerzes auf ein Rad zu steigen, um schneller über Kopfsteinpflaster zu fahren als andere. Aber für die, die es tun, gibt es da keinen Unterschied zwischen der Liebe, dem Schmerz und diesem Kopfsteinpflaster. Das muss man akzeptieren, bei all dem Pathos.

Wer es nicht akzeptiert, sieht nur Staub und alte Straßen im Nichts.

Es ist keine Zeit für Helden. Es muss andere Worte geben. Nur Muskeln und Material am Rand des Möglichen. Ein Test der Sinne. Der Geruch: Frühlingsfelder, Asphalt, Bremsbelag, das billige Dosenbier derer, die die Felder der Bauern zertrampeln für drei Sekunden Schweißgeruch. Der Geschmack: Geschichte, die unwichtige Geschichte, aber Geschichte. Das Hören: Schreie, Quietschen, Rauschen, das Krachen zerbrechender Gabeln, der Ruf nach der Geschichte, nach ein wenig Würde im Schlamm, nach ein bisschen Gerechtigkeit in der Lotterie des Lebens und dieser Straßen. Das Fühlen: der frische Wind, die erste Sonne, ein paar Tropfen Dreck auf der Wange, die aufgeschürften Knie, die gebrochenen Schlüsselbeine, die ausgetrockneten Lippen. Das Sehen: nichts mehr, rein gar nichts mehr, nur Schwarz vor den Augen.

Diese Steine, Pavé sagen die Einheimischen, sind grau, blau, braun oder schwarz. Es kommt darauf an wie man sich fühlt, wenn man über sie fährt.

Das alles bedeutet nichts. Es ist der gemeinsame Traum einiger Unverbesserlicher. Manche von ihnen gehen auf der Strecke verloren. Wenn sie am Ziel ankommen, sind die Tore bereits verschlossen. Niemand wartet auf sie.

Im Wald von Arenberg führt eine 2400m lange Schneise zu diesem Ende der Welt. Jean Stablinski hatte diesen Weg entdeckt. Er arbeitete einige Kilometer entfernt in einem Bergwerk. Man weiß, dass er der einzige Fahrer war, der diesen Weg sowohl über als auch unter der Erde zurücklegte. Im Himmel und in der Hölle. Seine Mutter hasste, dass er mit dem Rad fuhr. Sie zertrümmerte seinen Lenker, vergeblich.

„Wenn du mit dem Aufzug 500 Meter tief unter die Erde fährst, weißt du nicht, ob du jemals wieder nach oben kommst. In Arenberg ist es ähnlich. Aber du darfst darüber nicht nachdenken, denn sonst fährst du nicht weiter.“ (Stablinski)

Es gibt keinen Gott, es gibt nur Glück und Material und Lungenvolumen. Manche helfen nach, manche steigen ab.

Die eingangs frischgeölten Ketten haben nur eines im Sinn. Sie wollen abspringen, sich abseilen, das alles hinter sich lassen. Manche werden in Roubaix von den Rädern montiert wie ausgeleierte Saiten einer zerbrochenen Gitarre. Manche schwören, dass sie dampfen, auch wenn Ketten gar nicht dampfen können. Das Öl sickert in die Erde zu den Kohleresten und verschreckten Würmern.

Auch die, die unter der Erde verschüttet wurden, erwachen an diesem Sonntag und wohnen dem Spektakel bei. Man sagt, dass sie den Ausgang beeinflussen. Dann rutscht wieder ein Vorderrad weg, als wäre da nur Luft und nicht diese alten, furchterregenden Steine.

Allerdings gibt es die, die es leicht aussehen lassen. Sie schweben über den Asphalt. Sie verstehen, dass man mit dem Pflaster umgehen muss wie mit einem Hund. Man darf keine Angst haben, man darf nicht angsteinflößend sein. Es ist eine Harmonie, die aus gegenseitigem Vertrauen erwächst.

Man sagt, dass die gewinnen, die sich besonders gut verstecken können. Man sagt, dass die gewinnen, die immer vorne fahren. Man sagt, dass die gewinnen, die am meisten Kraft haben. Man sagt, dass die gewinnen, die am meisten Glück haben.

Die Sieger erhalten, welch Hohn, einen Pflasterstein. Trotzdem weinen sie fast immer vor Glück, weil dieser Stein so schön ist.

Wenn alles vorbei ist, dauert es Tage bis sich die Würmer wieder an die Steine kuscheln. Aber sie können sich nicht helfen. Da sind die Würmer wie die Menschen, die ebenso einige Monate später wieder mit ihren dünnen Reifen über diese Straßen fahren, die dafür nicht gebaut sind.