Glimpses at CHANTAL AKERMAN

PATRICK HOLZAPFEL: Stelle mir vor, obwohl ich das nicht kann, ich wäre Henri Dutilleux und würde eines Tages das Set von Chantal Akermans Trois strophes sur le nom de Sacher betreten. Sonia Wieder-Atherton, Cellistin und große Kennerin meines Werks hätte mich eingeladen, ich würde hingehen, obwohl ich die Stille lieber habe (im Kino oft zu wenig Platz zwischen den Zeilen, aber nicht bei Akerman, das gebe ich zu). 

Das Kino wäre mir ohnedies nicht fremd gewesen (kann das Kino jemals fremd sein?), ich hatte schließlich bereits die Musik zu L’Amour d’une femme von Jean Gremillon und kürzlich erst zu Maurice Pialats Sous le soleil de Satan komponiert. Ich hatte gehört, dass Akerman meine Musik durch den Bogen Sonias kennenlernte; es macht einen Unterschied, ob man Musik zuerst durch den Bogen hört oder von einer Platte.

Ich hätte Angst, dass der Film die falschen Töne spielen könnte; ein falscher Ton, das ist eine Frage zwischen Leben und Tod. Akerman, habe ich gehört, ist keine besondere Kennerin meiner Musik, irgendeiner Musik. Vielleicht gefällt mir das, ja es gefällt mir. Sonia sagte, dass es in meinen drei Strophen um die Suche nach den Instrumenten für das Leben gehe. Mit welchem Instrument man spielt, entscheidet vielleicht, ob man einen Ton trifft oder nicht. Das alles, sagt sie, entwickle sich in eine Explosion des Lebens. Vielleicht deshalb all die Farben an diesem Set, die Tänzer, die durch die Räume geisternden Sinne, die sich finden und wieder auflösen. Ein Licht, das ist auch ein Ton, würde ich denken.

Was ich an diesem Set vorgefunden hätte, wäre die Intimität meiner Musik. ein Raum am Abend, eine Frau, die sich zurückgezogen hat und mit der Musik geblieben ist. Sie verkörpert die unter allem schlummernde Suche und Verzweiflung. Im Bildhintergrund vollführen Nachbarn Schritte des Alltags, sie bügeln und leben und vergraben all das, was sie fühlen könnten. Das schöne an der Musik (und am Kino vielleicht): nicht alle können sie gleichzeitig hören, aber alle leben gleichzeitig. Die Musik ist immer da, aber wir können sie nicht immer hören.

Ich wäre also an dieses Set gegangen und hätte die Stille gefunden, die ich selbst komponiert habe. Bei Akerman spielt sich viel in der Nacht ab oder besser: in der Zeit nach den Tagen. Womöglich ist dann die Sehnsucht am größten oder die Möglichkeiten oder die Angst oder die Einsamkeit. Vielleicht ist es aber auch die Zeit, in der wir die Musik wirklich hören können (wenn wir nicht zu müde sind vom Tag). 

IVANA MILOŠHere’s a dance without partners, a reclamation of space and place, a redefinition of the fully marked, suggested, stipulated, and confined. It is called Saute ma ville, but it might as well be called break-this-place, chirp-without-measure, destroy-the-reduction or daisies-without-daisies, because you don’t need flowers to blow things up, but a scarf can be useful. On the other hand, flowers are brought into the minuscule kitchen Akerman inhabits in the film – in fact, they are the only object to enter it from the outside. Brought in at the very beginning in a whirlwind run up the stairs, they are also found in the heroine’s hand at the very end, reminiscent of bouquets handed to actresses after a star performance. These flowers, an emblem of the decorative, are another sign among many, a signifier without a body and, as such, something that invites destruction. But what is this passerine incantation that accompanies the blows dealt to the reduced existence of women? Mirthful and frenzied, Akerman’s chant fluctuates between laughter and sing-song, just like her movements, both levels together creating an orchestration of reveling and eruption. It is slapstick and tragicomedy, to be sure, but it is also a declaration: The opposite of functional needn’t be dysfunctional, for there are realms and choices to functionality just like there are to living. After all, the question remains: Is disappearance an explosion?

SIMON WIENER: There is something about D’Est which moves me profoundly, but I can’t pinpoint it. It feels as intimate as a film can possibly be, yet it is about vast landscapes, public spaces, anonymous faces. Maybe it is about being lost and lonely; or about resting strong and unfazed by destiny. Every image seems to weep. Every image is weeping, but without bemoaning itself, rather celebrating. Celebrating the tenaciousness of these trees amidst barren land, or the accidental but graceful interplay of lights during a rainy, sombre night. To weep, here, is to dance: to the wind, the light, the music.

SIMON PETRI: She will have to get up early to record the antagonistic blue that welcomes the underclass in the shivering hours of dawn. The first workers of the city form lines at bus stations to get to the factories, where circumstances of maintenance changed during these last years of historical tumult, but that doesn’t seem to improve a lot for the dawn’s crowd and the worst is yet to come. But that’s still more than a decade of a leap into the future. As for now, she doesn’t have to travel east, fear the frost and the burning eyes of the days’ loveless beginnings. As for now, she can have that juvenile, dreamy look – not a teenager anymore but still closer in spirit to the ingenious young girl who blew up a kitchen in a world too burdensome and uninspiring than a traveller of great discipline, stamina and political drive. As for now, she can forget about manners and self-imposed wakefulness, she can enjoy the caress, the food and the warm comfort of the Parisian living rooms. Dazed by satiety, she can slide into sleep. Maybe the sobering breeze between two apartments blows away the odour of pastry and perfume, so she can arrive neatly. Not that there would be any expectation, not that anything can break the deep kindness of old ladies – not even the recollection of the most harrowing evilness can shatter the adoration with which they look at her. As for now, she just has to listen. More or less. That will be good enough for a mitzvah.

RONNY GÜNL:

 

Eindrücke von La Chambre, Hotel Monterey, Là-Bas und Les rendez-vous d’AnnaBeschreibung eines Raumes:

Um was für ein Zimmer handelt es sich? Ein Hotelzimmer? Eine Wohnung? Ein Zugabteil? Wem gehört das Zimmer? Scheint es nicht bewohnt?

Was befindet sich im Raum? Wo ist das Bett? Wie viele Kissen? Gibt es ein Telefon? Gibt es ein Radio? Einen Fernseher? Hängen Bilder an der Wand? Oder Spiegel? Welche Farbe hat die Wand? Trägt sie eine Tapete? Wie gestaltet sich deren Muster? Wie ist der Boden beschaffen? Liegt ein Teppich aus? Säumen Gegenstände den Boden? Bücher? Zeitschriften? Ist es aufgeräumt?

Gibt es ein Bad? Eine Küche? Sind sie gefliest? Gibt es einen Tisch? Steht Essen auf ihm?

Ist es still? Weht der Wind herein? Hängt Rauch in der Luft?

Wo ist die Tür? Ist sie verschlossen? Ist sie geöffnet? Aus Holz? Ist sie alt? Befindet sich ein Schild an der Tür? Wo ist das Fenster? Ist ein Vorhang davor? Eine Gardine? Eine Jalousie? Lässt es sich öffnen? Wo ist der Lichtschalter?

Ist es Nacht? Oder Tag? In welchem Stockwerk befindet sich der Raum? Und in welcher Stadt? Wie klingt die Straße? Gibt es Nachbarn? Was tun sie? Strahlt Licht von außen herein? Die Sonne? Oder die Reklame? Welche Farbe hat es? Wie wirkt die Umgebung? Belebt oder verlassen? Welcher Tag ist heute? Wie is das Wetter? Sind Flugzeuge am Himmel zusehen? Kann man das Meer riechen?

Was ist nicht zu sehen? Gibt es einen Ausgang? Gehen oder bleiben? Wer lebt hier?

DAVID PERRIN: Jene Tage, an denen das Kino noch geholfen hat; als Mittel des Sich-Sammelns, des freien Durchatmens, des Augenaufgehens. Jene Filme, die einem den Appetit für die Welt wiedererweckt haben, nach denen man aus dem Kino trat und einfach nur geradeaus gehen wollte, oder mit der Straßenbahn zu einer Endstation fahren, in einer fremden Gegend der Stadt. Zum Beispiel, nachdem ich zum ersten Mal News from Home von Chantal Akerman sah und nur noch durch die Straßen gehen wollte, mit U-Bahnen und Bussen fahren, auf Bahnhofsgleisen und Haltestellen herumlungern bis spät in der Nacht, so lange bis ich mich in einen Niemand verwandelt hatte. (Was mir natürlich nie richtig gelungen ist.) Die ruhigen, langen Fahrten durch die Stadt New York, die unendlich langen Einstellungen, die auf den U-Bahnen und deren Stationen aufgenommen wurden sowie die im Morgengrauen menschenleeren Straßen in Downtown Manhattan – durch diese Bilder gewann ich eine Art Bewegungsfreiheit, die ich im Kino bisher kaum erlebt hatte. Es war, als ob die Stadt sich endlich zu einem Rhythmus verlangsamt hatte, in dem ich mich selber bewegen konnte, in dem Körper und Gefühl eins wurden. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass ich zu der Zeit, als ich den Film sah, auch in New York lebte und in dieser übergroßen Reklame-Stadt nicht so richtig Fuß fassen konnte. Aber nach dem Erlebnis dieses Films, als ich abends aus dem Kino auf der 5th Avenue trat, rückte mir zugleich näher und ferner bis sie sich endlich zu einer tatsächlichen Weltstadt ausdehnte, einen Ort, wo man leben konnte.

Und dann gab es auch diesen anderen atemschöpfenden Film von Akerman, dessen Namen, als ich ihn zum ersten Mal hörte, sofort die Sehnsucht auslöste, am Schauplatz des Films sein zu wollen: Hotel Monterey. Das Porträt eines heruntergekommenen Hotels auf der Upper West Side in Manhattan und den einsamen, zumeist greisenhaften Bewohnern dort, vom Keller bis zum Dachboden, ein Film ohne Worte, Dialog oder Handeln. Oder doch: die Räume und deren Linien und Farben waren das Handeln; die leeren Flure, die Schlaf-, und Badezimmer, die Aufzüge verwandelten sich, unter den Blicken und sanften Schwenkungen der Kamera, in Orte der Kontemplation, zu Innenräumen der Einsamkeit. So sind sie seit den Bildern des Malers Edward Hopper noch nie erschienen. Und am Ende des Films, als die Kamera auf den Dachboden des Hotels die Skyline der Stadt im Morgenlicht aufnimmt, hatte ich das Gefühl, trotz des einen Schauplatzes, auf eine Weltreise gewesen zu sein.

Solche Kinoerlebnisse scheinen jetzt immer seltener zu werden (ob es den anderen auch so geht?), und das nicht nur, weil die Kinos mehr als ein halbes Jahr geschlossen waren. Die Bilder, die heute auf der Leinwand zu finden sind, haben, für mich jedenfalls, nichts Entdeckerisches an sich; sie sind einfach da, im Vorhinein fertig und festgelegt. Die Welt starrt einen einfach blöd an, statt zu erscheinen. Daher sind die Filme Akermans, und nicht nur die zwei, die ich oben erwähnt habe, wie ein zusätzliches Licht oder Luft, die einem durch das Leben wehen und es aufleuchten lassen. So weiterleuchten!

ANDREW CHRISTOPHER GREEN: The first film I saw by Chantal Akerman was, of course, Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles. I was 23 then, and it was the first ambitious European film I’d ever seen. I was struck by how evasive it was, how excluded I felt from it. It seemed like there were scenes missing, or as if it were a sequel to a film that had established the characters with whom I should have already been familiar, and I remember thinking the subtitles must have been mistranslated by a poet taking way too much license; the few times the characters spoke with one another the dialogue was far too intense, like everything stored up in the silence between came rupturing out with a violent force of repression. I thought there must be something European about this ambiguity and non-disclosure. I knew I’d be moving to Germany in a few months and this excited me, to get a taste of the world I’d become acquainted with.

It took a good four years for the experience of that film to germinate inside me. I was studying contemporary art and slowly growing disillusioned with it, and it’s as though without my knowing it, the little gaps and intensities I saw in Akerman’s film were becoming the antidote to the shortcomings of my field, which had resigned itself from all the little mysteries that make her works shimmer. At first, I thought myself capable of resolving this discrepancy in my work, but the more evenings I spent with her and then Straub-Huillet and Ford and Ozu, the more I felt myself compelled to take them seriously, until the gap had grown so wide that I looked behind and saw I could never go back. Then it was as though one day a door between my apartment and the world outside silently clasped behind me and I resolved to myself: “Now I’ll just watch films, now I will finally do nothing but just watch films.” And I haven’t stopped since. Every night I spend my time behind a digital projector looking for the little gaps Akerman showed and hid from me for the first time in that film I saw now more than seven years ago, which, though once confusing, now illuminate the entry-points to the truth-content of the medium itself. And my appreciation of her work has grown exponentially as I witnessed her recreate such feats in not just so-called artistic films but, as if summoning the spirits of the Hawks’ and Langs’ and Walshes’ of bygone times, through a spectrum of romantic comedies, musicals, tragedies, documentaries, melodramas, and others forms I’d never have taken seriously on account of their beauty lying so dormant and opaque beneath a flashy surface we tend to only ever see ourselves reflected in.

JAMES WATERS: I’ve kept a document containing all the retrospectives of Chantal Akerman’s work held since her death. The number is approximately 257, including the repeats at the Cinémathèque française in Paris, CINEMATEK in Brussels, ICA in London and the TIFF Bell Lightbox in Toronto. Each is more definitive than the last, with a new kind of selling point. For the Cinémathèque française, in 2018, it was that Hangin Out Yonkers – long thought to be lost – had been discovered and digitized. A friend told me that this wasn’t the first showing of the film, as the previous retrospective at La Cinémathèque française screened a 35mm print in 2013, with Akerman present.

I have another document of all the Chantal Akerman retrospectives dating from May 1st, 1968 to October 1st, 2015. I don’t have an exact number, but it’s less than 200. There have been more of them in the past 5 ½ years than in the 47 – prior to 2015 – Akerman spent thinking seriously about and, henceforth, practicing filmmaking.

I ask Chantal what she thinks of this. Here’s the response I heard:

“Nous avons suivi Pina Bausch et ses danseurs pendant cinq semaines, de Wuppertal à Milan, de Milan à Venise, de Venise à Avignon. J’étais directement frapper au cœur par ces longues pièces, qui se mélange tous dans la tête. Il est le sentiment que les images que nous avons ramenées en transmettent peu, et la trahit souvent.”

“We have been following Pina Bausch and her dance company for the last five weeks, from Wuppertal to Milan, Milan to Venice and Venice to Avignon. I was deeply touched by her lengthy performances. I have the feeling, however, that the images we’ve brought back don’t convey their essence, and often betray it.”

The programmers of these retrospectives also heard this. One in Buenos Aires wrote to me – after having made my documentation public – of the above sentences and how they came to her in a dream. When she heard them prior to the dream, there was nothing remarkable about them. Even in the dream, there still wasn’t anything overtly remarkable about these words, but she woke up in a cold sweat regardless, as one does from a dream in which one trip’s over and, in waking, opens one’s eyes before this dreamed moment of impact. By the time she had this dream, it was already 2017.

Images and quotation taken from Un Jour Pina à Demandé

SEBASTIAN BOBIK: “Today is Saturday and I’m going to make a film about laziness”. With this sentence Chantal Akerman’s Portrait d’une Paresseuse begins. It’s the first film by Akerman I saw. I suppose that is a rather unusual start into her filmography. It was also the first time I saw her image, since she plays herself in this film. The opening sentence already tells us what the film will be: Akerman will make a film about laziness. She is still in bed. She looks as if she doesn’t want to get up. “In order to make cinema, one must get out of bed“ she says. And yet she stays in bed and the film is made. I understand that she couldn’t have made the entire film in bed: organizing, setting up the shot, editing… I doubt all of these steps were done from bed. Yet I enjoy this idea. A film made in bed. Of course, she doesn’t remain in bed. We see glimpses of a morning routine. She takes vitamins. We see several shots of her partner Sonia Wieder-Atherton practicing on the cello, while Chantal Akerman watches her, or just listens to her in a different room. The final 2 minutes of the film Akerman smokes a cigarette. We watch her in a close-up. The next time I saw Chantal Akerman was also in bed. I watched her film La Chambre, which pans 360 degrees through a room several times. For a brief moment, she is again in bed, looking at us. Years later I saw Je Tu Il Elle, in which suddenly a similar image struck me once again.

ANNA BABOS: 

As you set out for Ithaka

hope your road is a long one,

full of adventure, full of discovery.

Laistrygonians, Cyclops,

angry Poseidon—don’t be afraid of them:

you’ll never find things like that on your way

as long as you keep your thoughts raised high,

as long as a rare excitement

stirs your spirit and your body.

Laistrygonians, Cyclops,

wild Poseidon—you won’t encounter them

unless you bring them along inside your soul,

unless your soul sets them up in front of you.

 

Hope your road is a long one.

May there be many summer mornings when,

with what pleasure, what joy,

you enter harbors you’re seeing for the first time;

may you stop at Phoenician trading stations

to buy fine things,

mother of pearl and coral, amber and ebony,

sensual perfume of every kind—

as many sensual perfumes as you can;

and may you visit many Egyptian cities

to learn and go on learning from their scholars.

 

Keep Ithaka always in your mind.

Arriving there is what you’re destined for.

But don’t hurry the journey at all.

Better if it lasts for years,

so you’re old by the time you reach the island,

wealthy with all you’ve gained on the way,

not expecting Ithaka to make you rich.

 

Ithaka gave you the marvelous journey.

Without her you wouldn’t have set out.

She has nothing left to give you now.

 

And if you find her poor, Ithaka won’t have fooled you.

Wise as you will have become, so full of experience,

you’ll have understood by then what these Ithakas mean.

/C.P. Cavafy: Ithaka, translated by Edmund Keeley/

Liebesbrief an Delphine Seyrig

Accident von Joseph Losey

Liebe Delphine Seyrig,

ich habe dich gesehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob du auch mich gesehen hast. Ich sehe dich eigentlich immer wieder. Begleitet von sich wiederholenden Melodien, sich wiederholenden Bewegungen, du bist für mich wie ein ewiger Kreis und immer wenn ich glaube, dass du endest, beginnst du von Neuem. Du erzählst auch kaum etwas zu Ende. Alles ist eine Andeutung, die dir Würde verleiht.

Es ist mir etwas peinlich, aber gestern bin ich lange vor dem Spiegel gestanden und habe deinen Namen wiederholt und wiederholt und wiederholt. Das passt zu dir irgendwie. Man verliert sich in Kreisen. Dein Name klang bei jedem Mal anders. Du wirfst mich aus der Zeit. Einmal wache ich auf und bin mir ganz sicher, dass ich dich schon letztes Jahr gekannt habe. Dann wieder erscheinst du mir wie eine neue Bekanntschaft. Du bist ein Sprung in der Zeit. So sehr, dass du immer wieder die gleichen Schmerzen erleben musst. Egal ob Tag für Tag, Jahr für Jahr oder auch nur in den Ruinen deiner Erinnerung. Ich spüre, dass dir das wichtig ist. Das Erinnern und das Vergessen. Ich habe Angst, dass du diese Worte vergisst, während du sie liest. Ich habe Angst, dass du plötzlich eine andere bist. Mit schwarzgrauen Haaren und einer Zigarette, nervös vorausahnend, was als nächstes passieren könnte, nie mehr die Gegenwart sehend. Alles an dir ist eine Rückkehr.

Ich habe gehört, dass du einen Sohn hast. Ihr redet nicht viel. Du machst alles für ihn, verkaufst dich sogar. Es bricht mir ein wenig das Herz, aber du bist zu stoisch, zu erhaben für Mitleid. Schon als ich dich zum ersten Mal sah, sehr nahe, immer etwas aus der Schärfe fallend, hast du aufgeräumt. Du räumst auf und wiederholst auch das. Du bist stolz dabei. Du hast keine Angst. Auch nicht, wenn du von gierigen Blicken umzingelt wirst. Dann packst du die Männer und schleppst sie hinfort.

Ich habe dich aber auch beim Tanzen gesehen. Du tanzt langsam, du tanzt schnell. Oft in den Armen reicher, müder Männer. Vor riesigen Spiegeln in schwülen Nächten. Du entwindest dich ihrer Zuneigung oder lässt sie abwesend über dich ergehen. Du scheinst mehr als dass du bist. Du kannst so unglaublich gut müde und gelangweilt sein. In deiner Langeweile liegt immer auch eine Wut über dein Leben als Frau. Man spürt das so stark, weil es wie eine Krankheit in dir arbeitet. Du öffnest meine Augen dafür.

Und dann sehe ich wieder dich. Wieder mit irgendwelchen Botschaftern. Was willst du mit ihnen? Du dachtest, dass ihr bei einem normalen Essen seid und plötzlich fandet ihr euch auf einer Bühne wieder. Der Vorhang ging auf und ich sah dich. Ich war dort im Publikum. Du warst schön und hast nicht geschwiegen. Es ist keine Sache der Schönheit, sondern es sind andere Dinge, ja, andere Dinge, zum Beispiel von Verstand und Sinn.

Du kannst sehr kühl sein. Intellektuell, distanziert. Dann aber wieder eine geheimnisvolle Geste, die alles öffnet. Nie erliegst du dabei dem, was von dir erwartet bist. Immer bist du anders, immer wiederholst du. Ich bin mir sicher, dass ich dich wieder sehe. Aber nie, ob ich dich sehe.

Film Lektüre: Heimat von Burcu Dogramaci

Heimat von Burcu Dogramaci

There’s no place like home. Nirgends ist es so schön wie zuhause. Im Deutschen hat dieses Gefühl, dass man mit dem Zuhausesein verbindet einen eigenen Namen, der nur unzureichend in andere Sprachen übersetzt werden kann. Heimat ist zu einem bedeutungsschwangeren Begriff geworden, der sich nicht nur schwer übersetzen lässt, sondern sich auch in vielerlei anderer Hinsicht einer Definition entzieht. Die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci hat sich in ihrem Buch Heimat. Eine künstlerische Spurensuche, das soeben im Böhlau Verlag erschienen ist, deshalb daran gemacht verschiedene Zugänge auszuloten, wie mit Heimat als Begrifflichkeit umgegangen werden kann. Gerade nach den Ereignissen der letzten Monate ist das ein kühnes Unterfangen. „Heimat“ ist immer mehr zur Worthülse nationalistischer Parteien geworden, die damit Abgrenzungspolitik gegenüber einer ominösen fremden Gefahr betreiben. Dogramacis Buch kommt da gerade recht, denn sie versammelt eine ganze Reihe von Gegenentwürfen im Umgang mit Heimat, die denkbar wenig mit rechtspopulistischer Rhetorik zu schaffen haben. In erster Linie orientiert sie sich dabei an fotografischen Arbeiten der letzten rund sechzig Jahren. Diese kunsthistorische Perspektive möchte ich um einige Querverbindungen zu filmischen Beispielen erweitern.

Der Abend von Caspar David Friedrich

Der Abend von Caspar David Friedrich

Heimat kann als geographische Verortung begriffen werden, als nostalgische Kindheitserinnerung oder als Traditionspflege, die volle Bedeutungsvielfalt des Wortes zu begreifen fällt jedoch schwer. Ebenso schwer fällt es Heimat von verwandten Begriffen wie Identität und Herkunft zu unterscheiden (Dogramaci selbst nimmt keine klare Trennung vor). Heimat ist all das und noch viel mehr, ist gleichsam subjektive Kategorie (für jeden bedeutet Heimat etwas anderes) und gemeinschaftlich geteilt (jeder hat eine bestimmte Vorstellung von Heimat). In der Heimat sind wir verwurzelt, der Heimat sind wir verpflichtet, und umso mehr wird Heimat zu einem problematischen Begriff, wenn sie nicht ist. Heimatlosigkeit und fehlende Verwurzelung sind eine Geisel unserer Zeit. Millionen Menschen verlassen ihr Zuhause, um in einer globalisierten Welt an anderer Stelle ihr Glück zu suchen. Mehr schlecht als recht versuchen sie an neuen, fremden Orten an Bräuchen ihrer alten Heimat und Kultur festzuhalten, sind aber gleichzeitig dazu gezwungen eine neue Heimat zu begründen. Manchen gelingt das – sie schaffen sich eine neue Heimat, meist ein Amalgam aus altem und neuem Umfeld – viele scheitern daran und leben fortan im Limbo, in einem kulturellen Vakuum, ohne Identität, ohne Geschichte, ohne Zukunft. Ihre Kinder wachsen in diesem Vakuum auf und fühlen sich nicht heimisch, die ursprüngliche Heimat ihrer Eltern ist ihnen meist ebenso fremd. Wer am lautesten mit dem Versprechen auf Identität und Gemeinschaft um ihre Aufmerksamkeit buhlt, findet willige Anhänger. Wer sich nicht zurecht findet in einer komplexen, verwirrenden Welt ohne Bezugssysteme, der lässt sich leicht von eindeutigen Botschaften ködern.

Auf der anderen Seite jene, die in den Staaten der „Westlichen Welt“ am wenigsten von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten einhundertfünfzig Jahre profitiert haben. Sie fühlen sich ebenfalls bedroht, können nicht mehr mit der Veränderung in der Welt schritthalten und klammern sich deshalb an die Heimat von Gestern und Vorgestern, die sie bedroht sehen. Sie wollen zurück in diese vermeintlich bessere Zeit, oder zumindest die Abwärtsspirale stoppen. Es ist die Heimat, die von rechtsgerichteten Konservativen beschworen wird und sich aus überholten Kategorien wie Nation, Vaterland und Tradition zusammensetzt. Sie lassen außer Acht, dass Heimat prozessualer Natur ist, und uns nur deshalb so stark prägt, weil sie sich immerzu verändert und an unsere Lebensumstände anpasst. Wer mit dieser Veränderung nicht mithalten kann, wird ebenfalls zum Heimatlosen. Auch diese Heimatlosen folgen in ihrer Suche nach einer neuen Heimat den verlockenden Rufen der einfachen Antworten, die es natürlich in einer komplexen Welt nie geben kann und auch nie gegeben hat. In beiden Fällen sind die Suchenden eines neuen Heimatgefühls leichte Opfer für die Rekrutierungspraktiken radikaler Strömungen.

Denkt man über Heimat nach, eröffnet sich also schnell ein unüberschaubares Feld und doch gelingt Dogramaci auf schlanken 180 Seiten der Versuch verschiedene Formen der künstlerischen Aufarbeitung von Heimat nachzuvollziehen und miteinander in Verbindung zu bringen. Es geht ihr dabei weniger um eine erschöpfende Aufzählung, sondern um eine Annäherung anhand einer begrenzten Anzahl von Beispielen, die durch ihre Gegenüberstellung neue Einsichten ins unüberblickbare Bedeutungsfeld „Heimat“ bieten. Verschiedenen Nuancen des Heimat-Begriffs werden Kapitel für Kapitel abgearbeitet. Auf den ersten Blick wirken sie recht isoliert voneinander, doch immer wieder tauchen ähnliche Fragen und Problemstellungen auf. Es ist eine dialektische Herangehensweise; das größte Potenzial des Buchs findet sich in den Leerstellen zwischen den Kapiteln, dort wo sie aufeinander stoßen, zueinander sprechen und tiefere Einsichten entstehen. Eindeutig zu trennen sind die verschiedenen Bedeutungsebenen ohnehin nicht.

An diesem Punkt könnte man zurecht fragen, was das alles mit unserem Blog und unseren sonstigen Texten zu tun hat. Die Antwort dazu findet sich nicht direkt im Buch, sondern im Gedankenkomplex, der sich beim Durchlesen eröffnet. Dabei geht es mir weniger um filmische Beispiele, die Dogramacis Argumentation, die sich größtenteils auf fotografische Arbeiten stützt, untermauern oder ergänzen, sondern um Fragen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Eines der Themen, das Patrick und mich in unseren Gesprächen regelmäßig beschäftigt ist die Frage nach den ökonomischen Zwängen von Filmemachern und wie diese ihr Filmschaffen prägen beziehungsweise wie sehr die Masse an Filmemachern sozial vorselektiert wird. Film ist eine vergleichsweise teure Beschäftigung. Einen Film zu drehen verlangt nach größerem Einsatz von Mensch und Material als andere Kunstformen. Das führt dazu, dass Filme (vor allem jene, die uns interessieren, die also nicht in einem kommerziellen, industrialisierten System entstehen) in der Regel von denen gedreht werden, die es sich leisten können, von jenen, die jahrelang für wenig oder gar kein Geld an Filmsets Erfahrung sammeln, Filmschulen besuchen, Förderanträge schreiben und auf Förderzusagen warten. Es gibt sehr wenige Filmemacher aus armen Verhältnissen, die ohne zuvor auf anderen Wegen zu Wohlstand gekommen sind (z.B. als Schauspieler: Chaplin, De Sica) Filme drehten und das Leben aus ihrer Perspektive schilderten. Ausnahmen wie Chantal Akerman sind verbissene Kämpfernaturen, die quasi ohne eigene Bedürfnisse ganz für ihre Kunst leben. Ähnlich verhält es sich mit der Perspektive der „Heimatlosen“. Auch sie sind unterrepräsentiert, da für sie der Zugang zu den Produktionsmitteln erschwert ist. Diese beiden Probleme sind natürlich miteinander verschränkt, da gerade in den unteren Einkommensschichten verhältnismäßig viele Menschen mit Migrationshintergrund zu finden sind. Es wäre im Interesse der Entwicklung der Filmsprache, dass sich diese Schieflage verändert, auch wenn es im Moment eher so aussieht als würde sich die soziale Selektion noch verstärken. Der Vielzahl an filmischen Unternehmungen zum Trotz, die sich in Form von anthropologischen Studien oder Traveloges von außen den Problemen der Heimatsuchenden und Mittellosen annehmen, fehlt es am spezifischen zweigeteilten Blick des Heimatsuchenden, der die Innen- und die Außenperspektive, das Verhältnis von Heimat und Fremde in sich vereint.

Rodina von Irina Ruppert

Rodina von Irina Ruppert

Ohne der Kapiteleinteilung Dogramacis zu folgen kann man grob fünf verschiedene, ineinander greifende Bereiche ausmachen, die sich in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Heimat ergeben: Landschaften/Orte, Nationale Identität/Pass, Bevölkerung/Bezugspersonen, Kultur/Sprache/Geschichte, Wohnstätte/Heim.

Heimat als geographischer Bezugspunkt

Gleich zu Beginn des Buchs merkt Dogramaci an, dass auffallend viele künstlerische Auseinandersetzungen mit Heimat, fern von dieser unternommen wurden. Literaten wie Heinrich Heine oder Max Frisch wurden sich erst im Ausland bewusst, wie stark ihr Denken von ihrer Heimat geprägt ist. Künstler mit wechselhaften Lebensläufen und –geschichten, wie die in jungen Jahren von Kasachstan nach Deutschland emigrierte Fotografin Irina Ruppert setzen sich laut Dogramaci vermehrt mit Heimat auseinander, suchen nach ihrer eigenen Identität, und nach den Spuren, die ihre Familien auf ihrem Weg hinterlassen haben. Immer wieder wird Dogramaci in ihrem Buch auf Künstler rekurrieren, die sich in der Fremde mit Heimat auseinandersetzen, oder in der Heimat dem Fremden auf der Spur sind. Man ist geneigt zu denken, dass Heimat dort ist, wo man herkommt, doch wie ließe sich so ein Ort definieren? Er ist sicherlich mehr als bloß ein Eintrag im Pass, nämlich mit konkreten Bildern und Vorstellungen verbunden. Diese Bilder entstammen nicht nur der persönlichen Erfahrung, sondern einer gemeinschaftlich geteilten Ikonographie. Dogramaci, die in erster Linie die Heimat der Deutschen behandelt, führt an dieser Stelle die Maler der Romantik an, die in ihren Landschaftsgemälden ein idealisiertes Heimatbild schufen, das bis heute Geltung hat. Für die Deutschen seien es die Wälder, die als identitätsstiftende Landschaften fungieren. Diese germanischen Wälder, die schon den Truppen Hermanns im Kampf gegen die Römer Unterschlupf boten und die Fritz Lang für Die Nibelungen im Studio nachbauen ließ, da er mit dem Aussehen der tatsächlich vorhandenen Wälder unzufrieden war. Fotografische Arbeiten wie Peter Bialobrzeskis Heimat orientieren sich an der romantischen Tradition und adaptieren den Mythos des deutschen Walds für die Gegenwart. Selbst in Christoph Hochhäuslers Märchen-Variation à la Berliner Schule Milchwald steckt ein Stückchen Wald. Ohne Zweifel hat diese Selbstwahrnehmung der Deutschen auch die Fremdwahrnehmung des Landes beeinflusst. Der undurchdringliche deutsche Märchenwald ist zum beliebten Sujet von internationalen Großproduktionen geworden – von Terry Gilliams The Brothers Grimm bis zu rezenten Neuinterpretationen von klassischen Märchen wie Snow White and the Huntsman.

Heimat als Kultur und Sprache

Wie eben beschrieben werden Allgemeinplätze (ob sie nun landschaftlich sind oder nicht) durch Kunst vermittelt. Diese Kunstwerke sind Teil einer bestimmten Kultur, die ebenfalls als Heimat verstanden werden kann. Gerade im Falle Deutschlands, das aufgrund der späten Staatsgründung eine Sonderstellung einnimmt, sei das der Fall. Im Gegensatz zu anderen Nationalstaaten definiert sich die deutsche Identität weniger über territoriale Grenzen, sondern über Sprache und Kultur. Besonders deutlich wird das, wenn sich Vertriebene mit der Frage auseinandersetzen, ob an einem anderen Ort wieder so etwas wie Heimat entstehen kann. Bestes Beispiel hierfür ist der oben erwähnte Heinrich Heine, der sich erst im französischen Exil des Einflusses seiner Heimat auf sein Werk bewusst wurde. Dogramaci widmet sich zudem eingehend dem Fall Jean Améry, der nach seiner Flucht aus Österreich ohne Pass, Geld, Vergangenheit und Geschichte dastand und sich ebenfalls mit der Brüchigkeit von Identität und Heimat konfrontiert sah. Seine Identität ging nicht nur aufgrund seines Ortswechsels verloren, sondern vor allem durch den Verlust eines „Wir-Gefühls“, das unentbehrlich sei für die „Ich-Bildung“: „Heimat ist damit mehr als ein Herkunftsland, es ist im Verständnis von Améry eine Prägung durch Sprache, soziale und kulturelle Erfahrung“, und somit etwas, was durch den Kontakt mit anderen entsteht und darin begründet liegt (so wie auch Sprache, wie Wittgenstein gezeigt hat, immer schon eine gemeinschaftliche Komponente enthält). Erwähnenswert auch Amérys Konzeption des Passes, dem in erster Linie die Funktion zukommt „eine Geschichte über seinen Eigner“ zu erzählen, also den bisherigen Lebensweg des Passinhabers festzuhalten, sie ins Verhältnis zur restlichen Gesellschaft zu setzen und sich für ihre Authentizität zu verbürgen. Es zeigt sich, dass verschiedene Konzepte von Heimat miteinander in Konflikt stehen können. Jean Renoir hat diesen Konflikt in Form von La Grande Illusion zu Zelluloid gebracht, wo Pierre Fresnay als Capitaine de Boëldieu mit Jean Gabins Lieutenant Maréchal zwar die Staatszugehörigkeit teilt, ihn mit Erich von Stroheims Rittmeister von Rauffenstein jedoch ein gemeinsamer kultureller Hintergrund verbindet. Schlussendlich gilt Boëldieus Treue seinem Vaterland, doch der Film bezieht einen Großteil seines Konfliktstoffs aus der Ungewissheit, ob Boëldieu sich letzten Endes dem geteilten Gedankengut der intellektuellen Elite des Abendlands, oder einem abstrakten Nationalbegriff stärker verpflichtet fühlt.

Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans

Let Us Now Praise Famous Men von James Agee und Walker Evans

Heimat als formale Kategorie

Unter bestimmten Voraussetzungen könne auch ein Nationalstaat als Heimat wahrgenommen werden und wie im Fall von Capitaine de Boëldieu kann er sogar die Zugehörigkeit zu einer kulturellen oder sozialen Klasse übertönen. Nach Jean Améry, sei der Nationalstaat unter anderem dafür zuständig dem Bürger eine Identität in Form eines Ausweises zuzuweisen. Tatsächlich seien es Vertriebene ohne Ausweisdokumente, die sinnbildlich für Heimatlosigkeit stehen. Im Film sind es die vermeintlich über alle Zweifel erhabenen Geheimagenten, die ihre Feinde zu Dutzenden über den Haufen schießen, die beständig ihre Identität wechseln müssen (James Bond, der ikonischste von ihnen, stellt die Ausnahme der Regel dar) und regelmäßig mit der damit verbundenen Verlorenheit des Seins hadern: Matt Damons Jason Bourne als Musterexemplar, der überhaupt auf der Jagd nach seiner ursprünglichen Existenz ist, und gar nicht mehr unabhängig seiner gefälschten Pässe existiert. Der Verlust des Passes komme für Dogramaci auf bürokratischer Ebene dem Verlust der Identität und aller Bürgerrechte gleich. Das zeigt, dass Heimat und Identität nicht zuletzt auch durch Fremdzuschreibungen gebildet werden. Heimat entstehe auch als Abgrenzung gegenüber einem „Anderen“/„Fremden“, nicht nur durch ein inneres Selbstverständnis, sondern auch durch Zuweisungen von außen. Durch die Abgrenzung gegenüber einem Außen identifiziere man sich automatisch mit einer Gruppen von Gleichen oder Ähnlichen. Diese Identifikation könne auf der Ebene einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamer Traditionen und Bräuche oder dem Leben im gleichen Staat oder dem Besitz des gleichen Ausweisdokuments basieren.

Heimat als Miteinander

„Nationen basieren maßgeblich auf einem kollektiven historischen Bewusstsein, das retrospektiv formuliert ist und seinen Ausgangspunkt in der Gegenwart hat.“ Es sind also, in Dogramacis Fall, nicht zuletzt die Deutschen selbst, die ihre deutsche Heimat ausmachen (Edgar Reitz hatte wohl ähnliche Gedanken). René Burris Fotobuch Die Deutschen oder die Fotografien von Stefan Moses stehen dabei stellvertretend für fotografisch-anthropologische Bevölkerungsquerschnitte, die den Versuch unternehmen Heimat als Gruppe von Mitmenschen oder Mitbürgern zu begreifen. Sie versuchen eine kritische Masse an Menschen abzulichten, die in ihrer Querschnittsmenge so etwas wie die Essenz des Deutschen ausmachen. Ein ähnlicher Wunsch treibt höchst unterschiedliche Filmemacher an, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine möglichst ungeschönte Form von Leben aufzuzeichnen. In Umfang und Form unterscheiden sich diese Versuche sehr stark. Sie reichen vom nationalen Prestigeprojekt der Up Series, dass der britische TV-Sender ITV seit nunmehr über fünfzig Jahren als Langzeitquerschnittsstudie fortführt, bis zu Pedro Costas Fontainhas-Trilogie, die mit bescheidenen Mitteln entstanden ist und in der er sich im Lissaboner Einwanderungsviertel Fontainhas der lokalen Bevölkerung annähert. Candida Höfer widmet sich in ihren Fotografien ebenfalls Familien mit Migrationshintergrund, unternimmt dabei, anders als Costa, nicht den Versuch sich ihrem Interessenssubjekt weitestgehend anzunähern, sondern behält einen Blick von außen. Höfer ist weder daran interessiert den „Durchschnittsdeutschen“ und seine autochthone Kultur zu zeigen, noch eine migrantische Parallelgesellschaft, sondern Konzeptionen und Möglichkeitsräume neuer Heimat zu schaffen, sowie zu zeigen wie sich Heimat in Abgrenzung zum Fremden konstituiert. Abermals haben wir es also mit verschiedenen Verfahrensweisen zu tun, dem Blick nach innen, der die Essenz der Heimat sucht, und einem Blick, der Fremdkörper in Kontrast zur bekannten Heimat setzt.

Heimat als Heim

Nicht zuletzt verbindet man mit Heimat auch eine spezifische Wohnstätte, ein Heim, das über die geographische Zuordnung eines Herkunftslands hinausgeht. Ein Blick in die Wohnzimmer eines Landes lässt verschiedene Künstler Einblicke in die Volksseele geben. Fotografische Streifzüge dieser Art können also ebenfalls eine bestimmte Auffassung von Heimat herausarbeiten. Tausendsassa James Agee hat zusammen mit dem Fotografen Walker Evans einen solchen Streifzug für ihr Buch Let Us Now Praise Famous Men unternommen und darin die amerikanischen Südstaaten porträtiert. Herlinde Koelbl versuchte ähnliches in Deutschland mit ihrem Fotobuch Das deutsche Wohnzimmer. Die Wohnung als Mikrokosmos lasse Schlüsse auf größere Fragestellungen zu. Form und Gestaltung des Heims seien geprägt von Wohnbaupolitik, von der Mode eines bestimmten Zeitgeists und von den Bewohnern, die durch die Ausgestaltung des Wohnraums tief in ihre Seele blicken lassen. Es werde deutlich, dass die vertraute Umgebung einer Wohnstätte, die Anordnung der Zimmer und des Hausrats ebenfalls ein Gefühl von Heimat vermitteln können. Ein Gefühl, wie es Manoel de Oliveiras Visita ou Memórias e Confissões vermittelt, in dem er sein eigenes Heim (das er aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben muss) durchstreift. Ulrich Seidl pervertierte dieses Gefühl mit seinem Hybrid-Bastard Im Keller. Darin interessiert er sich weniger für das repräsentative Wohnzimmer, in dem Besuch empfangen wird, sondern für die verborgenen Kellerräumlichkeiten, die sich der öffentlichen Preisgabe gemeinhin widersetzen. Seidls Inszenierung macht deutlich, dass diese Heime nicht unabhängig von ihren Besitzern existieren und ordnet die Bewohner in ihren Kellern als Teil des Einrichtungsverbunds an. Die klaustrophobe Dimension von Heim, wird in Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles deutlich. Die spießbürgerliche Wohnung der Protagonistin Jeanne ist ein Gefängnis – halb selbstgewählt, halb durch gesellschaftliche Zwänge auferlegt – das die Bewohnerin überdeterminiert. Wer sein Heim und seine Heimat aber verlassen muss, der versuche laut Dogramaci notdürftig das wichtigste Hab und Gut in einem Koffer unterzubringen. Menschen mit Koffern seien ebenfalls Sinnbilder für Flucht und Vertreibung. Marcel Duchamp hat darauf 1941, bei seiner Abreise aus Frankreich, reagiert und im Boîte-en-Valise seine Schlüsselwerke in Miniaturform in einem Koffer untergebracht – ein Werksverzeichnis im Geiste des Zeitalters der Massenmigration.

Dogramacis Buch ist ein gelungenes Projekt. Wer letztgültige Antworten sucht, wird enttäuscht sein, doch wer mehr an Fragen interessiert ist und sich diverse neue Diskursfelder erschließen möchte, der ist mit Heimat. Eine künstlerische Spurensuche gut bedient. Dogramaci bietet eine Ausgangsbasis für weiterführende Überlegungen, die sich nicht in der der überschaubaren Zahl an Fallbeispielen erschöpft, die sie anführt, sondern Raum lässt für eigene Konzepte und Gedanken.

Land of the Dead: Over the Red Top: Carrie und Suspiria

Am zweiten Tag wartete das Österreichische Filmmuseum im Rahmen seiner “Land of the Dead” Retrospektive mit zwei Filmen, die ich zu meiner Schande bis dato noch nicht gesehen hatte: „Carrie“ von Brian De Palma und „Suspiria“ von Dario Argento. Die Programmierung dieser beiden Filme nebeneinander entwickelte eine sehr eigenwillige Dynamik, die voller Spuren des Genres war und mich dennoch heillos überforderte. Das liegt schlicht daran, dass beide Filme mit ihrer Over-the-Top Brachial-Stilisierung einem derart manipulativ ins Gesicht schreien, dass ich als Fremder des Horrorfilms irgendwann Wahrnehmungsprobleme bekam. Aber vielleicht zielen die Filme auch genau darauf. Ich werde wieder einige allgemeine Betrachtungen zum Horrorgenre und dessen Wirkung auf mich anstellen.

Weiches/Hartes Rot

Suspiria

Ein zartes und hartes rot (bei De Palma ist es manchmal mehr rosa als rot) beherrscht beide Filme. In „Carrie“ beginnt das schon bei der Haarfarbe der Protagonistin und vieler Protagonisten (Romain Gavras was watching…) und geht weiter in die schulischen Räume und finden ihren Höhepunkt natürlich im Schweineblut, das in der Prom-Night über die junge Frau, die im Inbegriff war, sich zu finden, geschüttet wird und eine übersinnliche Katastrophe auslöst. Dieses Blut findet sich bereits in der ersten Szene, in der De Palma den Zuschauer von Shampoo-Erotik in einen kurzen Moment des Schauderns wirft, bevor er sein soziales Mobbing-Thema im Film platziert. Carrie White, erzogen von einer manisch katholischen Mutter, hat ihre Menstruation bekommen und weiß nicht damit umzugehen. Sie ist ein Mobbingopfer, eine Außenseiterin. Aber niemand ahnt, dass sich mit ihrer Menstruation auch dunkle Kräfte in der werdenden Frau, die von einer tollen Sissy Spacek gespielt wird, entstehen. Es gibt keinen diegetischen Grund für die Dominanz von rot hier, es ist eine Frage der Stimmung und des Stils. De Palma taucht fast seinen gesamten Film in dieses weiche rot und unterstützt sich mit seiner Vorliebe für Split Diopter Lenses, die es ihm ermöglichen das Staubkorn im Bildvordergrund und den Komparsen in der hintersten Ecke scharf zu halten. (In seinem „Blow Out“ perfektionierte De Palma dieses Vorgehen). Dabei schwebt seine Kamera genauso weich wie die rote Farbe. Die virtuosen Fahrten durch die Räume, die wohl in der Prom-Night ihren definitiven Höhepunkt erlebt als die Kamera zunächst immer schneller um das tanzende Paar kreist (auch diese Einstellung sollte De Palma in „Blow Out“ perfektionieren) und dann den Spuren des Schweinebluts folgt, um den Suspense bis zum Anschlag zu spannen, sind der stilistische Höhepunkt des Films.

Carrie3

In beiden Filmen wird das Rot weggewischt. Carrie badet nach ihrem Blutbad in Wasser (zuvor eine wunderschöne Einstellung ihrer Füße neben dem blutdurchtränkten Handtuch) und Suzy, die Protagonistin in Dario Argentos „Suspiria“ versucht den merkwürdigen Wein, der ihr in der mysteriösen und gefährlichen Tanzschule jeden Abend gebracht wird, in das Waschbecken zu schütten. Allerdings klebt die Flüssigkeit mehr an den Rändern des Waschbeckens, als darin zu verschwinden. Bei Argento steht ein surrealer Bilderreigen, der sich immer wieder neu findet und dennoch einer inneren Logik zu gehorchen scheint, über dem Gesamtrot von De Palma. Natürlich schulden beide Filmemacher ihren Abflussfetisch Alfred Hitchcock, der das Ganze in „Psycho“ ja bekanntermaßen ohne die Farbe selbst gemacht hat. Dennoch ist dieses Bild bei ihm eindrücklicher rot und ich beginne ein wenig zu verstehen, warum Lav Diaz sich auch Farbfilme gerne in Schwarz/Weiß ansieht. Ansonsten gibt es bei Argento eine Menge Kunstblut, das sich in meiner Erinnerung wie laute Spritzer über den Film verteilt. Und es gibt einen Red Room, einen Übungsraum für die jungen Tänzerinnen, der während meiner Betrachtung die Prom Night heraufbeschwört. Die auffälligste Verwendung von Farbe in „Suspiria“ und vor allem von Rot findet sich jedoch in einer Art Horrormotivik, die Wände beleuchtet wie normal nur Filmmusik agiert. Der Horror scheint sowieso die ganze Zeit aus dem Film selbst zu entstehen und nicht aus seiner Geschichte. Es sind Lichter im Hintergrund, Lichter im Vordergrund, die verstörende Kultmusik der Goblins, eine plötzliche Supertotale, ein POV-artiges Heranfahren, die Dunkelheit…J. Hobermann hat zurecht bemerkt, dass der Film mehr Sinn für das Auge als für das Gehirn macht. Jedenfalls tauchen einzelne, farbige Spotlights an den Wänden auf im Moment des Horrors. So tanzen rote Schatten auf den angstgefrorenen Gesichtern. Irritierenderweise versetzen mich solche Szenen nicht in einen Zustand des Horrors sondern holen mich aus dem Horror heraus, denn ich sehe plötzlich einen jungen Italiener hinter der Kamera, der das Licht anschaltet. Einen viel stärkeren Horroreffekt erzielt beispielsweise Chantal Akerman mit einem ähnlichen Einsatz einer einzelnen Lichtquelle in „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“. Ein nur vielleicht gewagter Vergleich. Die Künstlichkeit der unterschiedlichen expressionistischen Farbpalletten erzeugt ein Meta-Gefühl für das Genre. Licht und Dunkelheit und die unnatürliche Kraft von Farben sind voller Bedeutung für den Horror. Man kann „Suspiria“ wohl am besten als Farbflut bezeichnen. Ein spezieller Technicolor-Entwicklungsprozess ermöglichte Argento ein dreigeteiltes Farbmuster aus Grün, Rot und Blau. Eine mögliche Interpretation liegt in der psychedelischen Hexenkraft, die den Film ab der Ankunft in der Tanzschule heimsucht.

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In diesem Haus, dass immer wieder an das Schloss in Jean Cocteaus „La Belle et la Bête“ erinnert, spielen auch beim Film selbst die Farben verrückt. Doch dort wo Cocteau einen ausgeprägten Schönheitssinn aufweist, ist Argento ein Holzhammer, da seine nicht zu leugnende Sensualität nicht aus den Figuren und ihren Bewegungen kommt, sondern aus der schieren Überfüllung. Einen Schönheitscredit vermag man Argento noch für die Zulawski-artige Betonung der Farbe hinter den Pupillen geben (wobei Zulawski sich da womöglich von Argento hat inspirieren lassen…). Die Überfüllung entsteht natürlich auch durch die Doppelprogrammierung zweier Filme, die ganz bewusst over the top gehen, die hysterisch schreien und den Horror in seine expressivsten Art im Kino explodieren lassen. Ich habe den Eindruck, dass der Ton in „Suspiria“ ein wenig lauter als gewöhnlich ist im Filmmuseum. Das erscheint mir etwas unnötig, weil ich schon bei Filmen im Haus gesessen bin, bei denen jeder Ton zählte und erzählte, die fast zu leise gespielt wurden und nun dieser sowieso schon laute Film, bei dem es oft schlicht darum geht, dass es verstörend und laut ist, aber nicht um die Nuancen im Ton, so gespielt wird, dass ich alle fehlenden Nuancen höre. Natürlich gehört sich das trotzdem so, weil Argento eben laut gehört. Die euphorischen Argento-Jünger im Kino würden mir da Recht geben. Das bewusste Über-das-Ziel-hinaus-schießen bewirkt auch ein hohes komödiantisches Potenzial. Vor allem bei „Carrie“ sind viele Schmunzler und Lacher dabei, die sich aus dem Verhalten der Figuren im Verhältnis zur Kamera vollzieht. De Palma zeigt sich als wunderbarer Beobachter von stilisierten Teenage-Klischees. Dagegen entstehen Lacher bei Argento vor allem aus harten Schnitten nach Schockern. Insbesondere der Schnitt auf bayrische Schuhplattler hat es in sich. Außerdem entsteht ein Humor aus der Irrationalität des Verhaltens der Figuren (die Nonchalance mit der Suzy ihr Getränk trinkt, die Gespräche unter den Tänzerinnen) und der Absurdität mancher Brutalität wie die Attacke einer Fledermaus oder den merkwürdigen Blicken des rumänischen Bediensteten. Dasselbe gilt natürlich auch für den Einsatz von Farbe, der eben einem expressionistischen statt einem natürlichen Ideal folgt.

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Während rot bei De Palma eine weiche Farbe ist, erscheint sie bei Argento hart. Die Kamerabewegungen von Argento sind deutlich abrupter, er ist getriebener als der souveräne De Palma, der über der Welt und seinem Publikum schwebt. Das bedeutet nicht, dass Argento nicht weiß, was er tut, sondern lediglich, dass er mehr an den Horror glaubt und De Palma mehr an sich selbst und Alfred Hitchcock.Rot ist in beiden Filmen eine Farbe des Horrors. Allerdings ist die Farbe sowohl bei De Palma als auch bei Argento von außen auf die Filme geklatscht. Sie ist ein offensichtliches Stilmittel und kommt nicht aus der Seele der Figuren, aus dem Horror in ihnen selbst. Das liegt zum einen an der Exploitation-Nähe des Blutes selbst und zum anderen am manipulativen und selbstreferentiellen Stil der beiden Regisseure. Eigentlich funktionieren diese Filme mehr wie Pat O’Neill artige Spiele mit der Publikumserwartung als ein narratives Kino, das sich mit der äußeren Welt beschäftigt. Hier stoße ich an meine Grenzen, denn ich befinde mich nun mal im fotorealistischen Camp der Filmbetrachtung und des Filmschaffens. Mir ist bewusst, dass Film immer Fiktion ist, aber diese Fiktion setzt sich aus dokumentarischen Teilen zusammen. Um frei Gilberto Perez zu zitieren: Das Licht der Kamera ist Dokumentation, jenes des Projektors ist Fiktion. Bei De Palma und Argento spielt der dokumentarische Charakter keine Rolle, sie haben kein Interesse an einer Welt, die sie nicht beherrschen können. Einzig in seinen komödiantischen Szenen, vermag De Palma ein solches Gefühl zu evozieren. Die Tatsache, dass „Suspiria“ in Deutschland spielt, hat schlicht keine nennenswerte Bedeutung. Sie verrät das Desinteresse von Argento für die Welt. Ich spüre sie die ganze Zeit wie kleine Teufel hinter der Leinwand, die mich und meinen Blick lenken. Die Künstlichkeit ihrer Filme, die ich prinzipiell mag, entsteht nicht aus einer Weltsicht sondern aus einer auf das und vor allem im Fall von De Palma gegen das Publikum gerichteten Idee. Dasselbe gilt für den Einsatz von Rot. Wie bei abstrakten Avantgarde-Künstlern gibt es keine Welt sondern nur die Welt des Films bei ihnen. Ich verstehe Cristi Puiu, wenn er sagt, dass er seinen Studenten auch vermittelt, dass sie nicht nur Filme sehen sollen. „Suspiria“ und „Carrie“ sind derart filmische Filme, dass sie die filmischste Eigenschaft von Film ignorieren: Ein Dokument der Welt zu sein. Ich bin mir bewusst, dass das ein wenig gezwungen und prinzipienhaft ist und ich will damit nicht sagen, dass diese Filme schlecht sind oder kunstlos. Aber sie sind redundant und können mich nicht über ihre Existenz im Kinosaal hinaus bewegen. Sie langweilen mich mit ihren aufgesetzten Blicken und ihrem fehlenden Beobachtungssinn. Sie sind Genremasturbationen. Ich will Zeit haben für meinen Blick, ich will nicht gelenkt werden. Ich fühle mich sowohl in „Carrie“ wie in „Suspiria“ vergewaltigt, die Filmemacher haben mich nicht respektiert. Ich respektiere ihre Qualität, aber hinterfrage ihre Ethik. Gut, dass es sowas gibt, denn sonst würde ich vergessen wie sich der wahre Horror in Rot in Ingmar Bergmans „Viskningar och rop“ und Michelangelo Antonionis „Il deserto rosso“ anfühlt.

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Nein, ich weiß: Nicht jeder Film darf, muss, soll, kann so sein wie man es sich selbst vorstellt, die Filmkultur ist viel zu reich, um sie mit Prinzipiendenken zu erfassen, um sie auch wirklich genießen zu können. Ich glaube, dass jeder der das Kino liebt auch diese Filme liebt. Sie sind so reich an Form, Farben, Bewegungen, Geräuschen und Emotionen. Zudem sind sie unheimlich inspirierend, angefangen vom unfassbaren Szenenbild in „Suspiria“, zu dem Ausharren von Zeit in „Carrie“ bis zu den Bildikonen, die beide Filme schaffen und weitertragen. Beide Filme werden von hochinteressanten musikalischen Kompositionen begleitet und man wird in eine Trance des gefangenen Blicks geleitet. Meine ethischen Betrachtungen sind selbst in sich gefangen und redundant. Sagen sie etwas über das Wesen des Horrors aus? Vielleicht steht am Ende dieser beiden Werke, dass Horror immer eine liebevolle Hingabe des Zusehers verlangt, ein Vertrauen und ein eskapistischer Rausch in uns.

Vielleicht war diese Frontalprogrammierung zweier derart schreiender Horrorfilme auch zu viel für mich? Vielleicht habe ich verlernt, unschuldig Filme zu sehen? Vielleicht ist das gut so? Vielleicht mag ich Kino nicht? Vielleicht sind diese Filme nicht unschuldig? Vielleicht ist das gut so? Vielleicht habe ich doch Recht? Vielleicht stimmt alles, vielleicht stimmt nichts.