Die Bedeutung des Verzichts im Film

Ich glaube, dass die Radikalität eines Verzichts in der filmischen Sprache heute von einer noch zu benennenden Relevanz ist, die zu keiner Zeit als bloßer Formwille oder als Prinzipiendenken abgetan werden sollte. Die Frage, ob ein Film nun etwas sagen und kommunizieren soll, oder ob er eher beobachten soll und somit ein womöglich ethisch haltbareres Verhältnis zur Realität aufbaut, ist inzwischen zu einer Frage zwischen Kommerz und Festival, zwischen Klassik und Moderne im Film geworden. Daran geknüpft findet sich die Frage, ob Film überhaupt eine Aufgabe hat. Es ist klar, dass Filmemacher wie Bruno Dumont (ein expressionistischer Minimalismus), Carlos Reygadas (ein impressionistischer Minimalismus, in dieser Hinsicht ein Bruder von Claire Denis), Nuri Bilge Ceylan (ein Minimalismus der Literatur oder zuvor einer der schweigenden Gesichter), Cristi Puiu (ein realistischer Minimalismus), Jia Zhang-ke (ein elliptischer Minimalismus), Apichatpong Weerasethakul (ein spiritueller Minimalismus) oder Pedro Costa (ein abstrakter Minimalismus) Filme machen, in denen wir nicht alles sehen und hören, was unser Kopf zur Herstellung eines in sich schlüssigen, klassischen Narrativs benötigen würde. Wir sind zurück auf uns selbst geworfen oder aber die Filme geben eine Wahrnehmung der Welt wieder, die sich nicht in eine Nachvollziehbarkeit, sondern eher in Gefühle, Fragmente, Figuren und die Realität dreht.

Still Life Jia Zhang-ke

Still Life von Jia Zhang-ke

Erstaunlich daran ist, dass diese Filmemacher häufig von einem politischen Standpunkt aus betrachtet werden, obwohl oder gerade weil sie sich um eine klare Aussage und Haltung herum winden. Im Verzicht liegt bekanntermaßen bereits ein politisches Moment. Dieses hat sich lediglich auf die Form verlegt (und wird im Inhalt gespiegelt). Das Musterbeispiel bleibt Pedro Costa, der seine Filme als demokratisches Unterfangen etabliert und im Verzicht eine Betrachtung von Menschlichkeit entwickelt. In diesem Sinn wird auch Sharunas Bartas interpretiert. Es heißt, dass durch das Schweigen von allen den Schweigenden eine Stimme gegeben wird. Im Aussparen macht man auf etwas aufmerksam, man betont gewissermaßen, dass etwas fehlt und das ist politisch. Aber ganz so einfach ist das nicht. Oft betrachten die Filmemacher des Verzichts eben auch politische Themen wie Jia Zhang-ke oder Claire Denis. Sie betrachten diese aber anhand des Banalen oder Außergewöhnlichen, auf keinen Fall mit der Idee selbst oder in Form eines Statements. An dieser Stelle sei bemerkt, dass Wang Bing in seinem Le fossé durchaus gezeigt hat, dass Minimalismus auch politisch lauter und deutlicher formuliert sein kann. Das wirkt dann aber aufgesetzt.

Japón von Carlos Reygadas

Japón von Carlos Reygadas

Ihre Wahrnehmung scheint in den meisten Fällen politischer als ihr Inhalt. Es wird erst in der Annäherung an den Inhalt klar, dass es sich dabei um etwas Politisches handeln könnte. Im Verzicht liegt auch ein Respekt vor der Komplexität politischer Vorgänge. Nicht die politische Haltung und Meinung der Filmemacher ist von Interesse, sondern die Realität. Eine objektive Realität ist natürlich nicht herstellbar mit einer subjektiven Sprache, aber das Aufmachen von Lücken und Fragen ist ein ehrlicherer Ansatz, als das forcierte Vertreten einer Position. Das Schwimmende und Unklare, das spätestens seit Michelangelo Antonioni eine gewisse Kontur im Kunstkino bekommen hat, ist ein politisches Statement. Aber es ist viel mehr, denn im Verzicht liegt auch die größtmögliche Hinwendung zur Konstruktion und Illusion von Raum und Zeit im filmischen Bild. Wenn bei Puiu verschiedene Dinge nicht geäußert werden oder wir bei Ceylans Filmen vor Winter Sleep enigmatische Gesichter betrachten, die ihre Emotionen hinter einem Berg aus Reflektion und Persönlichkeit verstecken, wenn sich Räume bei Jia Zhang-ke durch konstruktive Montagen und vor allem den Einsatz von Tiefenschärfe deutlich mehr als seine dieser Umwelt ausgesetzten Figuren erschließen oder Bruno Dumont beziehungsweise Claire Denis an entscheidenden narrativen Stellen eine Ellipse aufmachen, dann wird klar, dass sich die Filmemacher der Verpflichtung einer Fiktion bewusst sind. Sie wissen, dass Film in vieler Hinsicht seine Spannung aus dem „Wann und Was zeige Ich NICHT“ gewinnt. Der filmische Raum wird mir dann bewusst, wenn es ein Off-Screen gibt oder ein Bewusstsein der Richtungen der Realität, in der sich die Kamera befunden hat. Außerdem wird die Illusion derart als solche angezeigt und wir beginnen ihrer Konstruktion zu glauben. Hier beginnt für mich ein filmischer Realismus, in dem Augenblick, in dem ich ein offenes Verhältnis von der Kamera zur Realität wahrnehme und diese Offenheit kann nur durch Verzicht entstehen.

Twentynine Palms Bruno Dumont

Twentynine Palms von Bruno Dumont

Dieser Verzicht kann auch geringer und weniger radikal sein wie zum Beispiel die Rahmungen eines John Fords oder die RKO-Filme von Jacques Tourneur zeigen, denn dort wird nicht ein Gefühl von Verzicht etabliert, sondern lediglich auf das verzichtet, was unnötig erscheint. In dem Moment spricht man dann von einem Handwerk und von einer Notwendigkeit. Dieser Notwendigkeit unterliegt aber ein Verzicht auf das Ausschmückende, das Bombastische, das Prinzipienhafte. Plötzlich wird Film zu dem, was wir nicht sehen. Eine erhöhte Konzentration, ja ein Wiedererlernen des vergessenen Sehens ist nur in diesen Filmen möglich. Natürlich kann man auch in klassischeren Filmen genauer hinsehen, man kann mehr sehen, man kann sie auseinandernehmen. Die Intelligenz dieser Betrachtung geht dann aber zumeist vom Zuseher aus und nicht vom Film selbst. Zugespitzt könnte man formulieren, dass uns Filme wie jene von Claire Denis erst ermöglichen, in Filmen von David Fincher etwas anderes zu sehen als Plot.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Der zweite Verzicht liegt wie bereits formuliert in der Zeit. Zunächst handelt es sich um einen Verzicht der narrativen Manipulation von Zeit, also ein Spürbarmachen der Zeit. Andy Warhol hat dieses Spiel wohl am weitesten getrieben. Cristi Puiu hat in seinen Filmen einen perfekten Ansatz gefunden, um die manchmal absurden Bewegungen von Figuren in der Zeit zu seinem eigentlichen Inhalt zu machen. Das zeigt auch, dass es im Verzicht nicht um das gehen kann, was passiert, sondern darum, wie es passiert. Und es gibt deutlich spannendere Möglichkeiten etwas über das Wie zu erzählen als über das Was. Der zweite zeitliche Verzicht liegt in der Ellipse, dem Auslassen. Nun erscheint das Fragmentieren zunächst als besonders konstruiert und realitätsfern. Das hängt allerdings damit zusammen, ob man die Realität als subjektive Wahrnehmung oder als objektive Größe versteht. Ohne mich in einen zu philosophischen Diskurs zu stürzen, möchte ich doch behaupten, dass die filmische Sprache einzig zu einer Wahrnehmung der Realität, einer kinematographischen Realität befähigt ist. Einzig im Verzicht ermöglicht sie uns diese Wahrnehmung anzuzeigen und somit deutlich näher an eine Objektivität, nennen wir es im Sinn von Godard Wahrheit heranzukommen. Daran hängt natürlich auch das impressionistische Prinzip der Erinnerung, der Inspiration, der Flüchtigkeit. Das Kino wird davon angetrieben und generiert es im Zuseher. Carlos Reygadas stürzt sich in vielen seiner Filme in solche inneren Bewegungen. Das Erstaunliche bei ihm und bei vielen anderen Minimalisten wie beispielsweise auch Semih Kaplanoğlu oder Sergei Loznitsa ist, dass die Subjektivität in der Betrachtung der Realität entsteht und nicht wie bei fantastischen Filmemachern oder Kommerzmenschen in der Herstellung einer Welt. Nein, Reygadas filmt einfach seine Tochter und drückt damit etwas über sich selbst aus, was uns angeht, weil es eben ein Verhältnis zur Realität hat. Das Ehrliche, Subjektive entsteht bei ihm durch seine Form, also auch durch seinen Verzicht.

Ne change rien

Ne change rien von Pedro Costa

Je radikaler dieser Verzicht, desto mehr macht er auf einen Missstand aufmerksam. Dieser Missstand liegt in der Pornographie der subjektiven Erinnerungen, den Bilderfluten, denen wir uns heute ausgesetzt sehen, den Filmen, Clips und Profilen, die uns alles zeigen, der Tatsache, dass fast jeder Mensch heute seine eigene, geschlossene und schöne Geschichte in Bildern erzählt. Darin gehen Erinnerungen und Wahrheiten verloren. Die Frage heute ist: Töte ich meine Erinnerung oder rette ich sie, wenn ich ein Bild mache? Da das Bild schon lange Zeit die Realität überholt hat, sehen wir oft die gespeicherte Wahrnehmung der Realität vor der eigentlichen Realität. Nun zeigt ein Filmemacher, der sich dieser Flut widersetzt und etwas nicht zeigt, etwas spürbar macht (Tsai Ming-liang wäre hier ein besonders rebellisches Beispiel) und auf etwas verzichtet, dass es sich durchaus noch lohnt hinzusehen. In diesem Hinsehen, dieser erhöhten Bedeutung des Blicks werden dann nicht nur Zeiten und Räume wahrnehmbar sondern auch Gefühle. Dabei sind nicht die theatralen Gefühle eines gelungenen Plottwists gemeint, sondern Gefühle, die in unserer Relation zu den Bildern entstehen. Dies ist gerade in der heutigen Zeit eine große Kunst, da wir natürlich leichter und schneller Gefühle empfinden, wenn wir Bilder sehen, auf denen wir selbst oder Freunde zu sehen sind. Aber die filmischen Bilder des Verzichts lehren uns, dass auch die Bilder selbst Gefühle haben. Wenn ein Film etwas nicht zeigt, dann liegt das auch daran, dass es ihm vielleicht unangenehm war, dass er sich etwas scheut. Die geschlossenen Türen von Pedro Costa, die Unschärfen bei Jia Zhang-ke oder das Nicht-Zeigen bei Claire Denis sprechen alle von einer Zärtlichkeit des emotionalen Einflusses. Wenn Denis den Autounfall in Les salauds nicht zeigt, aber das völlig zerstörte Auto, dann ist das ein Bild, das uns sofort trifft. Es ist ein Bild, das wir kennen, das die Gewalt spürbar macht statt sie einfach zu zeigen und es zwingt uns zum Hinsehen. In diesem Hinsehen verbinden sich dann Imagination, Realität und Erinnerung zu einem Gefühl, das durch Framing, Ton- und Musikgestaltung usw. eine subjektive Wahrnehmung widergibt. So betrachten wir ein Bild, statt es nur mehr zu machen und zu teilen. Es bleibt also keine Überraschung, dass diese modernen Filmemacher sich mit Erinnerungen auseinandersetzen und diese spürbar machen. Warum sollte dies nicht eine der wichtigsten Möglichkeiten von Film im 21. Jahrhundert sein?

Les salauds von Claire Denis

Les salauds von Claire Denis

Kritiker und viele Zuschauer bemängeln, dass sich diese Filme mit Absicht einem Verständnis entziehen. Diese Behauptung kann ihren Grund aus meiner Sicht nur in zwei Dingen haben. Zum einen ist es schlicht die Faulheit einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Filmen, die bei den Kritikern aufgrund einer alltäglichen visuellen Reizüberflutung zu Stande kommt und bei den Zusehern an einer fehlgeleiteten Wahrnehmung sogenannter Aufgaben von Kunst sowie schlichtem Desinteresse, Ignoranz und Zeitproblemen festzumachen ist. Zum anderen haben sie wohl tatsächlich verlernt hinzusehen, denn in allen genannten Beispielen wird mehr erzählt, mehr gesagt und mehr gefühlt als in jedem Unterhaltungsfilm. Dies ist keine Verneinung von Narration, da alle Filme narrativ sind. Es geht einzig darum, dass unsere bequemlichen Erwartungen an Narration durchkreuzt werden müssen, damit wir einen neuen Raum und eine neue Zeit für etwas Politisches, etwas Persönliches und etwas Filmisches bekommen. Wenn es so etwas wie eine filmische Wahrnehmung gibt, dann muss diese auch nach eigenen Mustern funktionieren, sie muss poetisch sein und notwendig, sie muss verzichten und fließen, sie hat das Bild, den Ton, die Montage, die Erzählung, das Schauspiel und die Kombination all der Dinge, die in all das einfließen. Sie tut gut daran, sich dieser Mittel bewusst zu sein, denn wenn sie nicht verzichtet oder einen ihrer Aspekte ignoriert, wird sie untergehen zwischen all den oberflächlichen Bildern dieser Welt. Denn wo ist sonst der Unterschied?

The World von Jia Zhang-ke

Der melodramatische Reigen in einem Freizeitpark: Der Welt-Park in Peking, man muss nicht reisen, um die ganze Welt zu sehen. Das ist wie im Kino. Nur politisch fragwürdiger. In „The World“ (2004) blickt Jia Zhang-ke in seinem ersten staatlich autorisierten, aber nicht weniger gefährlichen Film auf die Liebesgeschichten von Mitarbeitern des real existierenden Freizeitparks in Peking, der einen mit einer Schwebebahn in nur wenigen Minuten um die ganze Welt schickt. Die Künstlichkeit dieser Welt, droht die Protagonisten zu verschlucken, die Menschen wirken gefangen, weil Jia Zhang-ke die Absurdität des Eifelturms oder der Tower-Bridge in Peking in weitwinkligen Porträtaufnahmen unterstützt und dabei von einer Isolation und Fehlkommunikation erzählt. Dabei reden wir aber nur selten von Wes Anderson Postkarten-Chic, sondern meist von einem tatsächlichen Leben in und zwischen den absurden Gebäuden. Tao, eine Performerin im Park, die in einer bemerkenswerten Eröffnungssequenz nach einem Pflaster schreit und begleitet von der Kamera, die stets den unverstellten Blick sucht, durch die Back-Stage Bereiche eines riesigen Show-Areals marschiert, energievoll und eigenwillig, ist in einer Beziehung mit Taisheng, einem Security-Mann auf dem Gelände. Die Arbeiter kommen aus der Provinz oder gar aus Russland.

The World3

Es entfaltet sich ein präzise beobachtetes Beziehungsgeflecht bei dem die Frage nach Vertrauen mindestens genauso wichtig ist wie jede kleine Regung dazwischen. Jia Zhang-ke schafft es immer wieder, den toten Moment in der Kommunikation zwischen Mann und Frau zu finden. Es ist in diesen Augenblicken, wenn Peinlichkeit und Anziehung, Angst und Erregung zu einem Gefühl verschmelzen. Damit bewegt er sich immer an der Grenze zum Klischee, aber geht jederzeit Meilen darüber hinaus, weil er sich gerade für die Ausbreitung eines Klischees in der Zeit interessiert. So versucht Taisheng Tao in einem Hotelzimmer dazu zu bringen, sich mit ihm aufs Bett zu legen. Die Bewegungen, die Scham und die Anziehung passieren vor uns, sie sind echt. Sie will nicht, er zieht sie zu sich und als er versucht mit ihr zu schlafen, weicht sie zurück. Später wird Taisheng mit einer anderen Frau ähnliches erleben. Die Unbeholfenheit von Mann und Frau sah noch nie ungezwungener aus. Die Szene beginnt wie ein Kinotraum. Taisheng kommt im Atelier der Modedesignerin Qun an und dort tanzt sie gerade mit ihren zwei Cousinen zu einem Lied. Sofort übernimmt Taisheng das Kommando und tanzt mit der jungen Frau, die er von nur einer anderen Begegnung kennt, die ihn aber zu sich eingeladen hat. Die Kamera bewegt sich leicht und schwer zugleich, sie tanzt mit den Emotionen und Bewegungen der Figuren. Die Cousinen verschwinden. Ein peinlicher Moment, denn bisher war es ein Tanz als Performance, jetzt beginnen sie den Atem des jeweils anderen zu spüren und wir im Kino mit ihnen. Sie setzen sich auf ein Sofa als die Musik langsam leiser wird. Taisheng, der die Gunst der Nähe vollenden möchte, versucht Qun zu küssen. Sie verweigert sich und nimmt seinen Arm von ihrer Schulter. Sie sitzen auf dem Sofa, sehen sich an. Einer dieser poetischen toten Momente, die Jia Zhang-ke immer wieder bedient. Plötzlich gibt es eine entscheidende Bewegung in der Szene, denn die beiden beginnen sich über ihre jeweiligen Beziehungen zu unterhalten. Fast jede Szene führt an ein Gefühl, dass man am Anfang der Szene nicht erahnen konnte. Die scheinbare Ruhe täuscht nur den unaufmerksamen Zuseher. Jia Zhangke gibt uns die Freiheit, Menschen wirklich zu sehen. Meist steht die Kamera dann ruhig und lässt das Geschehen in detaillierten Tableaus, die an Yasujirō Ozu und demnach auch Hou Hsiao-hsien erinnern, in all seinen Facetten entstehen. Häufig bedient er sich auch langsamer Schwenks, die ein aufregendes Spiel zwischen On- und Off-Screen entfachen, indem ein Blick entscheidend sein kann und man sich der Limitierung seines eigenen Sehens bewusst wird. Zudem erreichen die Schwenks zusammen mit den langsamen Zufahrten durch die engen Korridore im Film eine fließende Wirkung, die einen in die Fatalität der Liebesgeschichte einladen. Eine Sucht entwickelt sich, die vor allem von der scheinbaren Autonomie der Kamera ausgeht. Wie der Geist eines Autors schwebt sie durch die Innenräume als die Seele eines schlechten Gewissens, das jederzeit einen Effekt bewirkt, der mir sagt, dass die Welt im Kino ein Fenster ist.

Jia Zhang-ke betreibt ein Wechselspiel aus formaler Strenge und völliger Verspieltheit. So verwandelt sich das Bild bei jeder ankommenden SMS für einige Momente in einen Comic. Am bemerkenswertesten ist der Einsatz dieser Ästhetik als eine Blüte durch einen Schacht in das Gebäude fliegt, in dem Taisheng auf Qun treffen wird…der Einfluss westlicher Kultur und Lebensweisen kracht subtil mit den traditionellen Vorstellungen und Merkmalen der Figuren aufeinander. Ehrgeiz ist hier immer eine Frage der Perspektive, denn er ist eingebettet in ein System. Die Figuren träumen nicht. Vielleicht weil sie nicht leben: You are a fugitive but you don’t know what you are running from… Neben den animierten Sequenzen gibt es dokumentarisches Material von Auftritten im Welt-Park, Tanzsequenzen, auf Mauern erscheinende Schriften, Truffaut-Zitate und Lieder. Es ist einfach erstaunlich wie Jia Zhang-ke ein unheimliches Gefühl für die Wahrheit der Dinge mit einer surrealistischen Nonchalance verbindet. In „Still Life“, der kurz darauf entstand, sollte er diesen Hang perfektionieren.

The World4

Die Welt ist ein Fenster, die Welt ist eine Illusion. Die Illusion könnte sich im Blick auf ein vorbeifliegendes Flugzeug offenbaren und der Frage, wer eigentlich in diesen Flugzeugen fliegt. Die Geschichte und Politik Chinas ist hier nicht Thema sondern schlicht ein Teil der Existenz. Erst dadurch vermögen diese Aspekte jenseits intellektueller Interpretationen zu berühren. Sie sind unübersehbar, aber keiner der Schauspieler spielt sie mit. Aber die Welt ist immer noch eine Illusion und ähnlich wie Tsai Ming-liang oder Apichatpong Weerasethakul ist es die Schönheit des Anderen, des Fremden, des vielleicht Nicht-Existierenden, die sich in der Dauer der Momente entblößt. Die Traurigkeit eines Rhythmus zwischen nächtlichen Autofahrten und einer Fontäne vor dem Triumphbogen, die Eifersucht als einziger Kanal der Unzufriedenheit. „The World“ berührt jederzeit in einer Art, die man nicht kennt: Unknown Pleasures.