Notiz zu The Four Seasons von Alan Alda

The Four Seasons von Alan Alda ist ein Film aus einer vormaligen Zeit, in dem ambivalente Gefühlsregungen von Figuren (beispielsweise das gleichzeitige Aufleuchten einer Zuneigung und Panik, Zärtlichkeit und Angst oder Traurigkeit und Albernheit) nicht nacheinander, in voneinander getrennten Szenen, sondern zur gleichen Zeit greifbar werden. Es ist schwer zu sagen, wann dem fiktionalen Kino diese Fähigkeit zur Komplexität abhandenkam, aber man trifft sie heute nur mehr selten an, so viel ist sicher.

Dabei verrät schon der beiläufigste Blick ins Gesicht eines anderen Menschen, dass dort mehr vor sich geht, als nur diese eine, auf alles zulaufende Eindeutigkeit, mit der sich vielleicht angestrengte Plots, nicht aber das Leben erzählen lassen. Alda, dessen Regiedebüt der Film markierte, orientiert sich dabei irgendwo zwischen John Cassavetes, Éric Rohmer und Woody Allen, um beispielsweise im Gesicht von Nick, einem zu Beginn des Films unglücklich verheirateten Mann, zugleich ein verletztes, einsames Kind, einen albernen Gockel in der Midlife Crisis, einen schuldbewussten Existenzialisten, einen Egoisten, einen körperorientierten Männlichkeitsjunkie, einen treuherzigen Freund und eine verlorene Seele zu entdecken. Niemand würde auf die Idee kommen, dass man Nick (genausowenig wie die vier Frauen und zwei anderen Männer im Film) be- oder verurteilen könnte. Man kann mit oder gegen ihn empfinden, mit oder über ihn lachen, das ist alles, das ist schon viel.

Es mag sein, dass Vereinfachungen wichtig sind für die verdichteten Erzählweisen des Kinos, aber heute werden sie oft als faule, ideologisch gefärbte Ausreden benutzt, um dieses oder jenes theoretische Problem zu erläutern. Ein den Menschen zugewandtes Kino scheint nicht nötig zu sein, wenn es um Parolen geht, die Auswege aus der Unerklärlichkeit des Seins versprechen. Ich kann mir nur vorstellen wie erschrocken manche Apologeten der zeitgenössischen, politischen Propaganda dreinschauen, wenn sie mit den widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert werden, die in einer Welt stecken, in der die süßest winselnden Tiere sadistische Neigungen offenbaren.

Ansonsten zelebriert der komödiantisch angehauchte, aber jederzeit tragische Film in vier Bewegungen, die bereits vom Titel festgelegt werden, die menschliche Mittelmäßigkeit, wobei er den mittelmäßigen zum wahren Menschen erhebt. Ein Film also von jener Sorte, wie er Menschen gefällt, die behaupten würden, das Leben verstanden zu haben, die schulterzuckend und von Enttäuschungen abgehärtet registrieren, dass sie dieses oder jenes nie erleben werden, dass das Leben eben so sei, dass man nicht nach zu viel Ausschau halten solle, weil man ohnehin nichts tun könne gegen den ungerechten, sich in Sackgassen verfahrenden Lauf des Daseins. Ein Film für Menschen, die nichts mehr erwarten vom Leben und darüber lachen können. Das macht ihn traurig in den Blicken jener, die noch leben und grandios in den Augen der Ernüchterten.

Beobachtet werden sechs bis sieben Freunde, eigentlich drei Paare, wobei sich eines auflöst, die durchs Leben schlittern, sich um Kopf und Kragen reden und dabei altern, machtlos sicherlich, aber doch ausgestattet mit dieser menschlichen Fähigkeit zur Selbsteinordnung, als wäre man immer zugleich mittendrin und am Rand der Dinge. Im Frühling treffen sie sich auf einer ländlichen Hütte, im Sommer auf einem Segelboot, im Herbst irgendwo in einem Hotel nahe der Universität ihrer Töchter, im Winter beim Skifahren.

Die vier Jahreszeiten, denen sich der Film unterwirft, von denen er sich zumindest rahmen lässt, dienen dabei nicht als bloße pastoral angehauchte Untermalung der mäandernden Dramaturgie (ein wenig gemahnt der Film an die großen Hanging-Out-Filme à la Le déjeuner sur l’herbe von Jean Renoir), nein, sie verkörpern geradezu natürlich diese Ordnung in der Unordnung, den ludus in der paidia wie Roger Caillois schreiben würde, also das, was wir beim Blick in unsere Kalender erwarten, mit dem, was uns tatsächlich widerfährt.

Aber es stimmt schon, der Frühling kehrt wieder, egal ob es nun der gleiche ist oder ein anderer. Nur diese variantenreiche Wiederkehr ist es, die ihn komplex macht, denn in ihr offenbaren sich die feinen Unterschiede zwischen den Jahren und es zeigt sich das, was man plötzlich zum ersten Mal erkennt, obwohl es jeden April erblüht. Dann liegt es an uns zu handeln, zumindest zu sehen oder uns zu winden, uns dem Strom der Zeit hinzugeben oder ihm zu widerstehen, wahrscheinlich beides zugleich. The Four Seasons fängt diese Sekunden zwischen der Flucht und dem Verharren, der Hingabe und der Aufgabe. Er zeigt die Wut, die nichts zählt und die sich in Kichern auflösende Panik. Das ist wahrscheinlich viel wert und doch hoffe ich, niemals in diesem Film zu leben, obwohl ich es wahrscheinlich längst tue.

The Three Kinds of Love Song – Notes on the Actors Studio in Song

(Listed in order of preference)

The Clash – The Right Profile (from London Calling):

There’s not much to write about this song. Joe Strummer uses Montgomery Clift as a conduit for something, but I’m not sure what. The song equates to the exhaust of spinning wheels; effort exerted over an ignored subject. The line between a pop song and a list is, in this case, diffuse.

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Fugazi – Cassavetes (from In on the Kill Taker):

Not sure how this fits into the Actors‘ Studio chronology. Cassavetes apparently auditioned for Lee Strasberg as a joke then refused the offer to enrol, all to mock the behavioural psychology essential to Strasberg/Adler’s methods. Cassavetes was right, up to a point. He was wrong to let Ben Gazzara cut The Killing of a Chinese Bookie in half. In this way and others, Cassavetes was too generous to his actors. Seymour Cassel is very much in line with Cassavetes‘ anti-studio approach, also a Strasberg reject (involuntary to Cassevetes‘ voluntary). Only Gazzara graduated, per se, and carried into Cassavetes‘ films the notion that film is the actor’s conduit – not vice versa. And with this power imbalance, the teachings of betrayal seep through (c.f. Elia Kazan). This isn’t counting the graduates who shook off appearances and became something greater than their method. What’s the purpose of a teaching if not to transcend it?

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The Law of opposites, so far, applies to these songs. The song that has a lot to speak (but not say) leaves me with little, whereas the song with little to say (or comprehend) leaves me overcompensating, perhaps. But it’s a step in the right direction. I seldom understand Fugazi’s lyrics. I tap my feet because of this.

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The Go-Betweens – Lee Remick:

The perfect synthesis and true „Right Profile“ (i.e. the unspoken one). With The Clash my ears strain to understand the half-empty tribute, leaving with it the remains of the name „Montgomery Clift“, without the person. Fugazi and Guy Picciotto make the bare essentials audible, the rest is noise. The plain and simple tactic here is a process of elimination: what you don’t understand isn’t worth listening to. I’ve read the lyrics and they resemble a transcript. Very little reamins after this reading.

I re-iterate „perfect“ to additionally describe the song’s comprehension, as anyone could understand its lyrics in their entirety after a first listen. The process found in Lee Remick isn’t one of elimination, but of sublimation. The lyrics sound bad when read becasue they’ve been sung already. It’s a keen reminder that, for us, singing came before talking.

I’ll summarise each of the song’s effect, with some additional developments:

  1. The Clash: A list instead of a song. A title isn’t enough, but what is?
  2. Fugazi: A couple of names remain from my listening, enough to write about what wasn’t there.
  3. The Go-Betweens: A song that inspires a list. A name is enough, especially one. I do love Lee Remick and it thrills me to sing it in the same accent as Robert Forster.

The Lesson: That these songs can teach one to write as much as they do to listen. And now, a list of names – the most I could do in this chosen medium to to respond to The Go-Betweens.

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A List of Actors Studio almuni who deserve a song, not only named after them, but about them (off the top of my head):

  • Ralph Meeker
  • Barbara Loden
  • Seymour Cassel (in the aforementioned, anti-„studio“ vein)
  • Carroll Baker
  • Jack Garfein
  • Bruce Dern
  • Lois Smith
  • Paul Newman (for Patrick)

Dedicated to my dear friend, Holger

„La Putain“ Maurice Pialat

Maurice Pialat, das sind Körper, die sich reiben, Hindernisse, an denen man hängen bleiben muss. Immer wieder vergisst eine Figur etwas, die Kamera schwenkt mit ihr, der Weg zurück, der doppelte Weg. Man bleibt hängen, an Gegenständen, an anderen Körpern, am Vergessen. Alle Räume sind zu voll. Dann ein Sprung in der Zeit. Ein Schnitt, das sind manchmal Monate, manchmal nur Sekunden. Pialat behandelt beides gleich. Beides als Schnitt. Was dazwischen passiert ist, passiert wirklich. Pialat, das ist ein Schlag ins Gesicht, ins Gesicht von Frauen und damit ins Gesicht von Männern. Es ist schwierig. Pialat, das ist wunderschön, einfach, das kann ein Hund sein, ein Schluck Wein. Wie in Van Gogh, dem schönsten und grausamsten Film des Mannes, weil Schönheit bei ihm Einsamkeit erzählt. Man verbringt Zeit mit Pialat. Zeit miteinander, die einem bewusst macht, wie einsam man ist.

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Pialat hat Angst vor dem Naturalismus und wie seine Kollegen John Cassavetes und Cristi Puiu ist sein Ausweg nicht in die Abstraktion oder Kadrierung, nein, der Ausweg von Pialat ist hinein in die Natur. Diese Filmemacher zeigen, dass es einen Naturalismus gibt, der so weit geht, dass er nicht mehr nur ein Spiel ist, nicht mehr bloß Theater. Wie sonst meist. Es gibt Körper, ja, es gibt ihre Präsenz. Sie atmen, sie rennen, arbeiten, Pialat, das ist Körperarbeit. Manchmal denkt man fast an die Dardennes dabei, aber bei Pialat da existiert das Drama im Körper, nicht der Körper im Drama. Die Dardennes sind in ihrer besseren Zeit nahe rangekommen, aber haben es nie bis zum Anschlag gewagt. Das ist Pialat, ein Anschlag. Der Krieg bei Pialat, das ist der Körper, der nicht kann, der kann, der will. Es sind kranke Körper, sexuelle Körper, sie lächeln mit Hass und schlucken ihre Tränen. Sie können nicht und können nicht anders. Gérard Depardieu ist der perfekte Körper in diesem Tanz, ein gezwungener Tanz, der nicht tanzen kann, aber tanzen muss. Wenn sich die Körper reiben wie im Meer von Nous ne vieillirons pas ensemble, dann stehen Explosionen bevor. Wie er Depardieu und Sophie Marceau von Anfang an reibend, aneinander gekettet filmt in Police, das ist Pialat. Sie sind sich nahe ohne narrativen Grund. Etwas ist in diesen Körpern, etwas Ungreifbares. Es ist fast wie bei Bresson. Ein Drang in die Schuld, das Verbrechen, das Verdorbene. Woher kommt es? Die Kamera blickt an einer entscheidenden Stelle von oben in Sous le soleil de Satan. Aber er ist kein Gott, er ist unter ihnen, selbst verdorben, nur in der Lage das zu sehen. Pialat hatte diese Einstellung zuerst gehasst, den Kameramann (wie so oft) beschimpft. Denn man muss wissen, dass Pialat nicht wirklich eine Auflösung macht. Er schafft vielmehr eine Atmosphäre, in der die Auflösung aus einer Notwendigkeit entsteht. In Loulou ist er sogar verschwunden, es hat ihm gereicht, er hatte Tage nichts gedreht, es ging um die Szene, in der der Körper von Isabelle Huppert die Familie von Depardieu besucht. Produktionsleiter wurden entlassen, Kameramänner wurden entlassen. Jacques Loiseleux hatte Angst, er war von der Produktion als neuer Kameramann bestimmt worden, Pialat kommunizierte nur über seinen Assistenten mit ihm. Aber Loiseleux wagte es. Er dreht die Szene so gut es ging ohne Schnitt. Er hatte Glück, weil ein Hund ein Huhn jagte und Depardieu darauf ansprang. Pialat war nirgends zu sehen nach dem Take. Loiseleux hatte wieder Angst. Er fragte: „Wo ist Pialat?“ Man zeigte ihm, dass Pialat sich die ganze Zeit über im Decors versteckt hielt, in einer Garage, von der aus er das Treiben beobachtete. Er hatte Tränen in die Augen und sagte kein Wort zu Loiseleux. Er nahm ihn wortlos mit sich und ging mit ihm in eine Bar. Dort bestellt er zwei Whiskey und ließ sich ein Telefon bringen. Loiseleux dachte, dass er jetzt entlassen werden würde. Doch Pialat nahm den Hörer, rief den Produzenten an und sagte ihm: „Wenn du mir diesen Kameramann gleich geschickt hättest, wären wir seit Monaten fertig.“ Es endete nicht immer so. Bei Van Gogh wurde Loiseleux entlassen.

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Im Grunde, sagt Depardieu in Police in einem falschen Zitat, sei die Welt verdorben. Depardieu sucht in diesem Film eine Frau. Plötzlich kommt das. Er wird immer offensiver. Im Krankenhaus rammt er eine Krankenschwester, dann verliert er sich spielerisch im Stoffteil einer Bardame, dann greift er seiner jungen Kollegin an den Oberschenkel, will sie küssen und schließlich landet er bei der Verbrecherdame selbst. Keine Moral außer Geilheit hinter der sich die vollkommene Leere und Einsamkeit versteckt. Manchmal ist es nicht einmal Geilheit. Es ist einfach nur wie in L‘enfance nue. Die Erklärungen bei Pialat sind in den Bewegungen, den Körpern. Es gibt keine Wahrheiten, nur ihr Treiben.

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Das Wort „putain“ fällt in all seinen Varianten die ganze Zeit bei Pialat, der La Bête Humaine liebt und vieles nicht liebt. Godard wollte einmal ein Remake von Renoirs La chienne mit Pialat in der Rolle von Michel Simon machen. Das Wort „putain“ klebt an Pialat. Es fällt nicht einfach nur, man hört es, man hört wie es gesagt wird, von wem es gesagt wird. In À nos amours ist es Pialat selbst. Die Zärtlichkeit der Erniedrigung, der Verbitterung. Es ist ein Trotz, der eine Aggression rhythmisieren kann. Pialat kann einen brechen. Nicht nur durch seine Weltsicht, seine Konsequenz, sondern auch im Bezug zum Kino. Er macht überflüssig, was man sonst für notwendig hält. Er wirft es über Bord. Es gibt keine Bilder bei ihm. Nur ihren Fluss. Vielleicht ist der Anfang von À nos amours ein Bild und das Ende von La Gueule Ouverte. In letzterem verlässt ein Auto einen Ort und die Kamera blickt zurück, das Haus des Vaters, ein ähnliches Bild wie am Ende von Love Streams von Cassavetes. In beiden Bildern steckt etwas, was in beiden Filmemachern steckt. Das Atmen am Ende. Als müsste man sich erholen. Oft steht das Atmen bei ihnen auch am Beginn. Es gibt ein Einatmen und ein Ausatmen und dazwischen bricht es los, das was den Film vergisst. Nur bei Cassavetes gibt es einen unbedingten Willen zu Leben, zu Erleben während es bei Pialat jenen der Offenlegung gibt. Pialat, das sind Racheakte.

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Sie passieren, wenn man nicht zusieht. Im Off, man sieht ihre Folgen, den Hass, die Liebe, das Blut wie bei Van Gogh. Wenn man spürt, dass er sich umbringt, dann muss man es nicht mehr sehen. Pialat filmt auf diese Art den Tod, den Sex und den Fehler. Sie gehen irgendwo zwischen zwei Bildern verloren, um von dort aus zu existieren, wirklich zu existieren. In Nous ne vieillirons pas ensemble sind es wirkliche Wellen, die durch diese unbestimmte Zeit brechen. Die Quantität der Zeit wird dabei verwischt zugunsten einer Qualität. Nicht wie viel Zeit vergangen ist zwischen einem Streit und einer Versöhnung in diesem Film ist wichtig, sondern welche Zeit vergangen ist. Man sieht es an den Gesichtern, den Körpern, den Berührungen, der Gleichgültigkeit. Kaum ein Filmemacher hat so sehr gegen die leere Dauer und für deren Konsistenz gefilmt. Was die Dauer mit uns macht. Nicht mit dem Zuseher wie bei Tsai Ming-liang, sondern mit dem inneren Kampf, dem Banalen, dem, was man leben will und sucht. Es wird einem schlecht, weil man ein Gefängnis spürt in seinen Filmen, eine beständige Unmöglichkeit des Ausbruchs, der hier versucht wird. Pialat ist nahe an seinen Figuren, fast zu nahe. Er kesselt sie ein, erzeugt Fieber. Aber seine Kamera blickt nicht nur auf diese Eingekesselten. Sie ist selbst bei ihnen, mit ihnen, sie kann nur folgen, aufnehmen, kurz da sein, vielleicht nicht da sein. Es ist in dieser scheinbaren Einfachheit, in der sich die Verlorenheit einer Schönheit etabliert. Eine Verlorenheit, die nie schön ist. Jean-Luc Godard hatte Pialat in einem Brief zu Van Gogh gratuliert. Einer der schönsten Filme sei das für ihn. Schön in seiner Art und Weise, die uns entkommt wie im besten Kino, die uns entweicht, zwischen dieser Schönheit ist eine andere Geschichte. Sie existiert nur im Kino, man glaubt kaum, dass man sie gesehen, ja gespürt hat. Sie war da. Man kann dann nur sagen: Schaut euch diesen Film an. Obwohl man nichts gesehen hat, nur das Schöne. Man liegt im Feld, man tanzt, man trinkt.

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Verdorbenheit heißt Unschuld bei Pialat. Es ist ein Aufschreien der schwachen Identitäten, des Wankelmuts. Ich liebe dich, ich töte dich, eingebettet in einen Klassizismus, der alles tut, wirklich alles, um kein Klassizismus zu sein. Dabei ist es egal, ob die Protagonisten Stars sind, ob sie Kinder sind, Jugendliche wie in Passe ton bac d‘abord oder alte Männer. Man kann nichts von sich wegschieben bei Pialat. Man kann sein Kino nicht leugnen, nicht einfach als Kino bezeichnen. Was ihm vorgeworfen wurde und wird ist klar: Menschenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit und so weiter. Als er die Goldene Palme für Sous le soleil de Satan entgegennahm gab es Buhrufe. Pialat streckte seine Faust in die Luft und sagte: „Wenn ihr mich nicht mögt, mag ich euch auch nicht.“. Dabei befreit Pialat all seine Figuren. Er befreit sie von den Rahmungen, er schenkt ihnen Freiheit. Pialats Kino, das ist die Freiheit, der beständig Versuch gegen eine Mauer zu rennen und auszubrechen. Er zieht die Figuren aus, ja, er macht es nicht immer zärtlich oder vorteilhaft, nein. Aber er zeigt uns und auch ihnen selbst, was darunter liegen könnte, es sind Möglichkeitsformen, die sich in sich brechen, gegeneinander springen, neues entstehen lassen. Wer man ist bei Pialat, das wird immer wieder neu verhandelt, man bekommt diese Freiheit. Vielleicht ist man ein letzter Blick, ein erster Blick, ein Kleid, ein Kuss, ein Schlag ins Gesicht, ein Lachen, eine Träne oder nichts von alldem, was man zeigen kann, zeigen will. Pialat, das ist die wilde Suche nach dem, was man ist. Sein Blick ist dabei gleichgültig, niedergeschlagen, wütend und euphorisch zugleich. Es bricht aus ihm. Pialat hat mehr gemacht als seine Filme. Er hat geschrieben, er hat gemalt, er hat gespielt. Pialat, das ist ein ehrliches Kino. Ein Kino, das einen daran erinnert wie verlogen Filme gemacht werden, wie verlogen Beziehungen geführt werden, wie verlogen man lebt. Nicht in den Gedanken und Idealen, aber in den Körpern. Körper, die schwer sind, aber sich schnell bewegen. Wie die Kameras, die es mal gab.

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Dann muss man wieder atmen. Am Anfang seiner Filme steht manchmal eine einzige Chance, sich zu überlegen was man sagt. Die Figuren sagen dann meist etwas Schlimmes, sie lügen, sie stellen sich provokante Fragen, sie äußern ihre Unzufriedenheit.  Es ist als würde Pialat ihnen für ein paar Sekunden die Chancen auf einen anderen Film geben. Aber am Ende kann es bei ihm nur den geben, den wir sehen.

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Faces pt2 (in tears)

To Desire Pain (look at the time)

Transe-Teresa Villaverde-2006

Transe-Teresa Villaverde-2006

Als ich im Kino mein Licht sterben sah in den Tränen einer unbekannten Frau, glitzernd auf ihren Wangen, wollte ich mein Leiden tanzen sehen. Es gibt keine Verachtung im Film, nur ein Verständnis für das eigene Unverständnis. Ich schlucke diese Tränen und schmecke Zelluloid. Ein Äderchen auf meiner Netzhaut explodiert und Blut dringt durch meine Pupille. Ich erwache mit dem Sandmann, der an meinem Augapfel leckt. Das Salz an seiner Zunge löst meine Augen auf und sie zerfließen auf der Leinwand in der Feuchtigkeit von schimmligen Emotionen, die sich wie Unkraut unter meiner Netzhaut vermehren. Ich begehre den Schmerz und die Einsamkeit in dieser leuchtenden Dunkelheit. Meine Augen verlieben sich in das eigene Unheil, sie sind immerzu kurz vor dem Ausbruch.

L'important c'est d'aimer-Andrzej Żuławski-1975

L’important c’est d’aimer-Andrzej Żuławski-1975

A Countess from Hong Kong-Charlie Chaplin-1967

A Countess from Hong Kong-Charlie Chaplin-1967

Aber ich bin ein Heuchler. Eure Gefühle sind ein angenehmes Kribbeln in meinen Fingerspitzen, eure Krisen sind meine Neugier. Ihr zeigt mir wie ich gut aussehe, wenn ich leide und ich leide, um gut auzusehen. Wenn euer Leben so entsetzlich ist wie meines, dann habe ich Recht, wenn ich nur mich selbst für interessant halte.Ich will euer Lächeln gar nicht sehen, ich will mich dannach sehnen. Traurige Augenringe, die sich nicht lösen aus euren gesenkten Gesichtern, Tränen sind Poesie. Wer sie nicht filmt, sucht nicht nach Wahrheit. Im Kino glaube ich, dass das Leben wie die Sonne untergeht, ihr existiert nur solange ich da bin, ihr müsst es auch spüren. Reagiert nicht auf mich, dann liebe ich euch. Das Wasser eurer Tränen ist der Fluss, der aus eurer Seele entspringt.

La Passion de Jeanne d'Arc-Carl Theodor Dreyer-1928

La Passion de Jeanne d’Arc-Carl Theodor Dreyer-1928

The Portuguese Nun-Eugène Green-2009

The Portuguese Nun-Eugène Green-2009

Sie lügen, jeder weiß wie eure Tränen lügen. Sie sind der Zucker eures Ruhmes, das Feuerzeug für die Zigaretten meines Mitgefühls. Eine Pfütze bildet sich zwischen euren Lidern und wie ein Kind will ich nicht vorbeigehen. Ich springe hinein. So schwach ist dieser Untergrund, so zerbrechlich eure Augen. Sie könnten brennen mit ihrer roten Schminke. Eure Tränen sind nur der Dunst am Fenster des Kinos. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, der Zerbrechlichkeit filmt und dem, der Zerbrechlichkeit darstellt und dem, der zerbrechlich filmt. Letzterer ist es, der mich interessiert. Bei ihm ist jeder Schuss der Tropfen einer Träne und jede Träne ein erstickter Liebesgruß an einen zerfließenden Spiegel, der mehr ist als die Welt.

Foolish Wives-Erich von Stroheim-1922

Foolish Wives-Erich von Stroheim-1922

Dann bekommt man keine Luft mehr in einem Tränenmeer, der Gaumen ist voll mit Tränen, man gurgelt und erstarrt. Dann weint man auch nicht mehr aufgrund eines Effekts, sondern weil man auf eine Wahrheit gestoßen ist, auf einen kurzen Augenblick von Klarheit, der fast immer eine stabile Trauer erzeugt, die alles Glück über diese Perfektion verdrängt. Eure Tränen waschen mich wie Asche und Zitronen. Immer wenn es eine Schweigeminute gibt, schreien eure Gesichter nach einer Kamera. Jede Beerdigung ist ein Fest der Gesichter. Jeder Verlust, jeder Schmerz ist eine Freude für mich. Denn dann fließt der Fluss eurer Seele vor meine Linse, erstrahlt im Kino und für ein oder zwei Zuckungen darf man nicht mehr so tun als wäre alles gut.

Birth-Jonathan Glazer-2004

Birth-Jonathan Glazer-2004

Vivre sa vie : film en douze tableaux-Jean-Luc Godard-1962

Vivre sa vie : film en douze tableaux-Jean-Luc Godard-1962

Diese Tränen sind meine Lust. Wie ein warmer Schauer in euren Blicken, hinter Glass sind Tränen Schönheit. Ich begehre sie und das ist schwach. Werde ich schwach im Angesicht mit diesem Schmerz oder bin ich es bereits, wenn ich ihn suche hier? Für mich ist das Kino ein Freudenhaus des Leidens und ich kann nicht genug davon bekommen, weil man diese Gefühle draußen auf der Straße ständig verstecken muss. Ich will angelogen werden, will sehen wie ein Lächeln verschwindet, weil es sich nicht mehr halten kann, wie alles auf diesen Gesichtern zusammenstürzt, vergraben in einer Fiktion, die man festhalten kann. Ich will keinen Schnitt vor eurer Träne, weil ich sehen will, wie sie geboren wird.

L'appolonide11

L’Apollonide (Souvenirs de la maison close)-Bertrand Bonello-2011

Natürlich ist mein Traum ein Film, der nur aus Tränen besteht, Tränen, die sich durch den Projektor bewegen, die Licht in sich tragen, die eine Illusion sind und eine Dokumentation, ein Weg nach Innen und nach Außen, Tränen, die nicht sterben können, weil sie immer weiter fließen bis sie keine Bedeutung mehr haben für die Vergangenheit oder Zukunft, sondern nur in ihrer Gegenwärtigkeit existieren. Im Kino können wir Tränen sehen, weil wir sie nicht fühlen müssen. In den Tränen können wir das Kino sehen, weil sie uns bewegen.

Tears.me.apart.

Kış Uykusu-Nuri Bilge Ceylan-2014

Kış Uykusu-Nuri Bilge Ceylan-2014

Faces-John Cassavetes-1968

Faces-John Cassavetes-1968

 

 

 

 

 

Wann sieht ein Filmemacher das Bild?

Hitchcock on set

Die unterschiedlichen Arbeitsschritte einer Regiearbeit ermöglichen auch – wenn man so will – verschiedene Zeitpunkte, zu denen das Bild (und selbstredend ebenso der Ton) dem Filmemacher begegnet, in dem er es sehen kann. Der erste Schritt dabei könnte das sein, was man passend und doch der Prätension vieler, die das Wort gebrauchen folgend, gerne die Vision nennt. Als ich die Ehre hatte auf der Viennale mit Pedro Costa zu sprechen, sagte er mir eindrücklich: You have to see it on the screen…was er damit meinen könnte, sind die Bilder oder Gefühle eines Films, eine Vision eben. So soll es sein und dieses oder jenes muss ich tun, um es zu bekommen. Für Filmemacher wie Costa oder etwa den frühen Philippe Garrel, die sehr reduziert und alleine arbeiten, gestaltet sich dieser Schritt von der Imagination beziehungsweise Beobachtung hin zum tatsächlichen Bild – an dem natürlich nichts (insbesondere in Zeiten der digitalen Lügen) tatsächlich tatsächlich ist – deutlich simpler als für Filmemacher, die ihre sogenannten Visionen in großen Industriekontexten herstellen. Ein erster Freund und Feind der ersten Vision ist immer der Kameramann, denn er wird mit einer eigenen Vision an die eigene Vision treten und je nach Art der Zusammenarbeit (man denke an Christopher Doyle und Wong Kar-Wai oder Agnès Godard und Erick Zonca) durchaus eine bestimmende Kraft für die Bilder sein. Selbiges gilt für die Machenschaften diverser Produzenten und Fernsehredakteure, für die Schauspieler, die Szenenbildner, das Kostüm und die Sonne selbst, die man insbesondere in Zeiten der Low-Budget Befindlichkeiten kaum mehr aus den pixeligen Bildern heraus decken kann und die den Regen der Vision schnell in einen strahlenden Kompromiss verwandelt. Nun gibt es auch Filmemacher wie zum Beispiel den grimmigen Michael Haneke, der von sich sagt, dass er nie in Bildern denkt, der Visionen nicht in Bildern hat. Andere liefern sich ganz bewusst dem Zufall aus, der Nicht-Planung wie der britische König Nicolas Roeg und der heilige König Albert Serra. Irgendwas müssen und werden auch diese Filmemacher spüren, um sich in die schwebenden Strapazen einer Bildmachung zu stürzen, aber wenn es keine Bilder sind, dann kommen diese Bilder wohl später zu ihnen. Zumindest ist davon auszugehen. Manch Filmemacher spricht von einem Bild, das ihn inspiriert habe, man denke an die Dardenne-Brüder und ihren leeren Kinderwagen, der L’enfant initiierte. Wieder andere wie Nuri Bilge Ceylan machen es sich zur Aufgabe, Bilder für die Worte zu finden, die sie gelesen haben. So hat er in Once Upon a Time in Anatolia manch poetische, visuelle Kraft aus der Feder von Tschechow gefiltert (beispielsweise jener Augenblick, der einem Ausatmen entspricht, wenn die junge Tochter den nächtlich Reisenden einen Tee bringt) und in seinem Winter Sleep war seine Vision nicht unbedingt die Übersetzung der literarischen Sprache in Film sondern die filmische Möglichkeit, literarisch zu sein. In diesem Sinn vermag auch die Inspiration eine Vision zu sein und der schmale Grat, der dann zwischen Originalität, Souveränität und Plagiat entsteht, ist eine der großen Versuchungen des Kinos, eines seiner offenen Geheimnisse, die kaum greifbar sind, denn es ist auch klar – und Gus van Sant gehört zu denen, die das bewiesen haben- dass man filmische Bilder nicht wiederherstellen kann, wenn man sie noch so penibel und präzise rekonstruiert. In zwei gleich gedachten Bildern schlagen zwei unterschiedliche Herzen. Da ist etwas Anderes und dieses Andere zu erkennen, es zu ahnen oder zu beobachten, ist das was man wirklich eine Vision nennen könnte und was vielleicht einen großen Filmemacher von anderen Filmemachern unterscheidet.

Bruno Dumont Set

Bruno Dumon am Set

Eine nächste Möglichkeit für den Filmemacher seine Bilder zu sehen, ist jene des Storyboards. Da ich selbst einmal mit einem Storyboard gearbeitet habe und ich es damals als sehr fruchtbar wahrgenommen habe im Arbeitsprozess, aber als sehr schädlich im fertigen Film bin ich inzwischen der Meinung, dass ein solches Storyboard nicht dem Filmemacher bei seiner Arbeit hilft sondern dem Produzenten beziehungsweise der Kommunikation zwischen den Departments und der Angst im Filmemacher. Denn was man auf einem Storyboard sieht, ist ein Ideal ohne Leben. Nun sind perfektionistische Filmemacher wie David Fincher oder Stanley Kubrick mit einer solchen Energie hinter der exakten Umsetzung ihrer Storyboards (und nur dann machen diese übrigens Sinn) her, dass man in ihren Filmen durchaus einen Mehrwert erkennen kann. Die Bedingung sich erlauben zu können, seine Bilder als Filmemacher in Storyboards zu machen, ist jedoch Geld. Denn nur wer Geld hat, kann die Sonne im Schritt vom Storyboard zum Filmbild heraus decken. Nichts spricht gegen die Erstellung eines Storyboards, aber vieles spricht dagegen, dass ein Filmemacher dort sein Bild sieht. Unterschiedliche Faktoren können die Relevanz eines Storyboards verändern. Es ist zum Beispiel eine absolute – aber sehr selten umgesetzte – Notwendigkeit, dass Storyboards am Drehort entstehen und nicht in einer fernen Imagination, die so tut als könne sie jedes Bild vorausdenken. Deutlich näher am Bild selbst könnten die sogenannten Moodboards sein. Vor kurzem habe ich über das Caderno von Pedro Costa geschrieben, aber die sogenannten Moods sind eigentlich eine gängige Möglichkeit Felder zwischen den Emotionen, den Bildern und der Kommunikation zu eröffnen, die alle Beteiligten von einer gemeinsamen Seele bezüglich des Films sprechen lässt. Allerdings werden sie kaum ernst genommen, denn insbesondere in heutiger Zeit haben alle Beteiligten eines Films oft ein individuelles Bild von Film (weil es einfach derart viele Filme gibt). Daher ist es so wichtig für den Filmemacher, ein Bild von Film zu haben, denn nur so können am Ende (oder Anfang) alle mit dem gleichen Bild von Film einen Film machen. Die Schritte um allen dieses Bild zu zeigen, sind die Krux und die Freude des Vorgangs. Ein Storyboard ist in diesem Sinn eine Hilfe, aber es kaschiert nur die fehlende Kontrolle und kommuniziert lediglich auf einer handwerklichen Ebene die Bilder, aber nicht auf einer gefühlsbezogenen oder filmischen Ebene. Moods sind ein deutlich organischerer Schritt. Allerdings können sie alleine stehend niemals ausreichen, da jedes Augenpaar eine andere Inspiration aus den Bildern oder Texten filtern wird. Womöglich entstehen Bilder im Gespräch oder dessen Verweigerung.

Ein weiteres Tool, das das Bild vor dem Bild zum Filmemacher bringt, ist der Viewfinder. Man denke an den energischen Roman Polanski, der seine weiblichen Darstellerinnen mit dem Viewfinder vor seinen feuchten Augen umkreist(e), sich animalisch wandelnd während der Schauspielproben die Kamerapositionen überlegt. Hier stellt sich natürlich auch die Frage, wessen Aufgabe die exakte Positionierung der Kamera ist. Denn wenn der Kameramann mit demselben Bild von Film beziehungsweise des Films am Set steht, dann wird er auch die richtigen Positionen und Objektive wählen. In diesem Fall kann ein Filmemacher über die Gefühle und Essenzen einer Szene kommunizieren (er kann natürlich auch nach wie vor selbst die Kameraarbeit erledigen oder sich dem Zufall unterschiedlicher Visionen hingeben), was vermutlich deutlich fruchtbarer für alle Beteiligten ist. Durch den Viewfinder hindurch sieht die Welt wie ein Film aus. Leos Cara X hat einmal gesagt, dass er die Welt mit den Augen des Kinos sieht. Die Wahrnehmung von Bildern im Alltag bestimmt wahrscheinlich die Blicke des eigenen Kinos. Ein Viewfinder ist sehr zielgerichtet, in diesem Sinn wirklich ein effektives Instrument. Aber das Bild muss schon vorher im Filmemacher sein sonst wird er durch den Viewfinder nur dieselben Dinge sehen wie mit seinen eigenen Augen. Wann entdeckt man beispielsweise eine Tiefenschärfe oder Schärfenverlagerung? Wann versteht man wirklich einen Raum als filmischen Raum so wie Lisandro Alonso, der monatelang durch Patagonien fährt, um Bilder zu schaffen, die aus der Logik des Raums (beziehungsweise der Leere) hervorgehen? Ein Weg im Bildhintergrund wird von ihm nicht geschaffen, sondern die Kamera kann nur dort stehen, wo dieser Weg sich bereits aufgetan hat. Vielleicht benutzt er ähnlich wie sein neuester Protagonist aus Jauja, Kapitän Dinesen einen Viewfinder oder ein Fernrohr (dessen Verwendung vermutlich nicht umsonst auch in den Filmen von Polanski eine große Rolle spielt), um den Blick zu einem filmischen Blick zu wandeln. Der Viewfinder ist ein Übersetzer, der einen kinematographischen Filter auf die Bilderrealität der Welt legt. Die Antwort auf die titelgebende Frage dieses Artikels wäre in diesem Fall, dass der Filmemacher in jeder Sekunde seines Lebens das Bild sieht und dass die Frage viel eher wäre: Welches Bild wählt der Filmemacher aus?

Polanski und Nicholson

Roman Polanski

Am Set selbst, gibt es dann gemeinhin drei Möglichkeiten das Bild zu sehen. Die erste ist die Kamera. Entweder kann man direkt durch den Sucher der Kamera blicken oder in unserem digitalen Zeitalter durch die kleinen Monitore, die sich an der Kamera befinden. Man wird dort allerdings nichts sehen außer dem On des Bildes (und damit gewissermaßen automatisch, wenn man nicht blind ist das Off). Es ist dies nur eine Kadrierungshilfe, nicht aber eine Möglichkeit ein Bild zu sehen. Dennoch ist sie absolut essentiell für jede Arbeit eines Filmemachers. Die Konzeption des Bildes am Set geschieht im Tanz mit der Kamera. Der große Feind meiner Auffassung ist dann die zweite Möglichkeit: der externe Monitor, jenes zeit- und platzstehlendes Instrument, mit dem Filmemacher über Filmsets stolpern während Kameraassistenten und Videooperator Kabel quer durch die Sets legen, damit sich alle darum versammeln können. Ein auf den ersten Blick absolut sinnvolles Mittel, um das Bild zu sehen und so auch Fehler zu vermeiden, eine Vorstellung zu bekommen und allen Departments einen Einblick zu gewährleisten. Immer professioneller werden diese Monitore an das anvisierte Endbild angeglichen…Kalibrierungen und Farbkorrekturen im Telenovela-Live-Style inklusive. Es darf niemand ein falsches Bild des Bilds haben. Was keiner bedenkt ist, dass der Monitor schon einen Schritt zu weit geht, denn er macht den Filmemacher zum Zuseher, der nicht mehr versucht zu sehen, sondern der schon wirklich sieht. Das Bild, das eigentlich noch entsteht, wird damit fixiert und nur im Bezug zum Bild selbst justiert, nicht aber im Bezug zur Realität. Außerdem gewinnen ziemlich simple Schönheitsideale der Bildmachung dadurch an Bedeutung und lassen die Möglichkeiten eines filmischen Bildes hinter dem Klischee seiner Lichtwerdung im Anbetracht eines Instinkts verschwinden. Was ich damit sagen will ist, dass die meisten Filmemacher Auge in Auge mit dem Monitor nicht mehr auf die tatsächlichen Umstände reagieren, die von einer solchen Wichtigkeit für die filmische Sprache sind, sondern nur auf ihr eigenes Ideal. Das bedeutet in den schlechteren Fällen beispielsweise eine Angst vor Entleerung (denn diese sieht auf dem Monitor immer schlimmer aus als in der Realität), eine Angst vor Dekadrierung, eine Angst vor dem Imperfekten, das so lebendig gegen unsere Wahrnehmung pochen könnte. Es gibt selbstverständlich Filmemacher, die sich gegen diese Instinkte des Sehens erwehren können oder sie schlicht nicht haben. Sie werden den Monitor vielleicht anders benutzen als ich selbst es könnte. Der mächtige Olivier Père hat Philippe Garrel an dessen Filmset besucht und dort keinen Monitor gefunden. Immer wieder hört man von Filmemachern (insbesondere dann, wenn sie aus dem Theaterbereich kommen), die sich nur auf die Schauspieler konzentrieren und erst auf die dritte, bereits vergangene Art des Bildersehens zurückgreifen, nämlich das Replay. Die Wahrheit ist natürlich, dass jede Arbeitsweise ihre Berechtigung hat. Einen Monitor halte ich dennoch für ein gefährliches Instrument. Seine Bedrohung liegt in seiner Bequemlichkeit, seiner Abgeschlossenheit. Im Augenblick des Drehens vibriert ein Raum (selbst im digitalen Zeitalter). Wenn man dann ein Bild sieht, wird man nichts sehen. Sich das Bild im Rückspiel auf dem Monitor anzusehen, ist etwas anderes. Dann liegt die Gegenwart auf der Vergangenheit (während beim Monitor während des Drehens die Vergangenheit auf der Gegenwart liegt), die das Kino so sehr bestimmt. Nur wenn man zumindest ein wenig an die performative Kraft von Film glaubt, dann kann man sich nicht davon distanzieren. Das bedeutet nicht, dass man den Zufall regieren lassen sollte, aber man sollte ihn zumindest erkennen.

Tsai Ming-liang

Tsai mag seinen Monitor

Es folgen die Sichtung der Muster und der Schnitt. Hier sehen die meisten Filmemacher das, was von ihren Bildern übrig geblieben ist oder das was ihre Bilder geworden sind oder sie sehen dort zum ersten Mal ihre Bilder und finden wie beispielsweise John Cassavetes ihre Filme im Schnitt. Im Gegensatz zum Monitor ist die Mustersichtung kein passiver Vorgang, denn sie präsentiert einen Anfang und kein anvisiertes Ende. Plötzlich beginnt ein ganz neues Bild, man kann – wenn man es für nötig erachtet- gar neu beginnen mit dem Film. Jetzt liegt das Bild nicht mehr im konkreten Bild sondern zwischen den Bildern. Es geht wieder um das Andere, das Unaussprechbare, das man erkennen oder finden kann zwischen und hinter den Bildern. Hier zeigt sich ganz eindeutig wie mysteriös das Kino ist. Ein Filmemacher kann zwei Bilder sehen. Er sieht sie genau vor sich, er zeichnet sie, er findet sie an der Location durch seinen Viewfinder, kontrolliert sie durch die Kamera, den Monitor und das Replay und er sieht die beiden Bilder genau seiner Vorstellung entsprechend in den Mustern und dann montiert er sie hintereinander und alles was zählt ist, was zwischen diesen Bildern passiert, das dritte Bild sozusagen. Kann man dieses dritte Bild sehen? Vermutlich nicht, es ist aber davon auszugehen, dass man es erahnen kann, dass man es antizipieren kann und die Arbeit an dieser Antizipation, an dieser Vorstellungskraft ist die große Suche für jeden ernsthaften Filmemacher, denn sie hat mit einer Wahrnehmung zweier Dinge zu tun: Zum einen der Welt, die die Bilder selbst speist und zum anderen des Kinos, das dieses dritte Bild erst ermöglicht.

Eines ist sicher: Auf der Premiere wird kein Filmemacher mehr seine Bilder sehen, denn zu sehr hat er sie schon konstruiert und dekonstruiert, gelebt und gelitten, zu weit weg und zu nahe ist die Erfahrung des Bildes, um wirklich sehen zu können. Jeder Filmemacher (egal was er behauptet) ist blind gegenüber seiner eigenen Arbeit und jedes Filmemachen ist eine Erblindung dessen, der die Bilder macht. Wann auch immer.

L’important c’est d’aimer von Andrzej Żuławski

In Andrzej Żuławskis erstem Exilfilm „L’important c’est d’aimer“ geht es um den Tod und das Sterben von Liebe und Kunst. Die Schauspielern Nadine (Romy Schneider) muss sich mit illegalen Pornofilmen über Wasser halten. Dort wird sie zufällig von Fotograf Servais (Fabio Testi) entdeckt, der das Leiden der häufig unter Drogen und Schmerzen agierenden Schauspielerinnen einfängt. Er entschließt sich der jungen Frau zu helfen und hilft bei der Finanzierung einer Theaterproduktion von Richard III. Servais bringt Nadine dort unter. Ihrer Liebe steht nur noch der Ehemann von Nadine im Weg: Ein verspielter Cinephiler, der in meisterhaften Tanzschritten von Jacques Dutronc verkörpert wird. Sie habe ihn als Geist kennengelernt. Ein Unbekannter, der bei einer ihrer Engagements am Theater immer in der letzten Reihe gesessen wäre. Stechend blaue Augen und dann hat der Wahnsinn bei Zulawski schon lange begonnen.

L'importan c'est d'aimer

Seine Kamera bewegt sich immer durch Räume hindurch. Sie ist mal hin, mal weg. Sie folgt nicht einzelnen Figuren, sondern meist deren Gefühlen. Ein Moment der Entfremdung und plötzlich fährt die Kamera rückwärts aus der Szene. Ein Moment der Erregung und die Kamera bewegt sich in eine extreme Naheinstellung. Dabei treibt sie sich durch die Räume und Bühnen wie ein Geist auf Kokain. Bei ihm ist jedes Gefühl die blanke Hysterie. Ein Schrei, eine große Geste, ein Schlag, Blut, Sex und Tränen. Es ist als wollten die Charaktere unbedingt spüren, was sie laut gesellschaftlichen Konventionen spüren sollen. Eine Jagd nach den eigentlich abgestorbenen Emotionen. Das betrifft immer zu gleichen Teilen die Liebe und die Kunst. Zulawski jagt damit wie in seinem gesamten Schaffen das Chaos. Obwohl er beispielsweise in „L’amour braque“ oder „Mes nuits sont plus belles que vos jours“ deutlich mehr Irrsinn in seine Welten lässt (oder sind es einfach irrsinnige Welten?), bricht auch hier die Ratio zeitweise völlig aus den Fugen. Dialoge führen oft völlig aneinander vorbei. Jeder lebt in seinem eigenen Gefängnis und die meisten versuchen gar nicht mehr herauszukommen. Die bittere Ironie mit der Dutronc nicht akzeptieren kann, dass ihn seine Frau verlässt, ist ein solches Beispiel. Er ist ein Kind, ein verspielter Clown, der sich selbst Schmerzen zufügen will. So wie sich alle und alles selbst Schmerzen zufügt bei Zulawski. Wie in seinem „Possession“ ist die Liebe das Grauen dieser Erde. Und gleiches gilt für die Kunst. Der Blick wird leer, obwohl er bombardiert wird mit sinnlichen Bildern. Man spürt durch jede der übertriebenen Bewegungen einen verzweifelten Hass.

L'importan c'est d'aimer

Eine gewisse Nähe zu Jean-Luc Godards „Le Mépris“ liegt nicht nur aufgrund einer ähnlichen musikalischen Unterstützung durch Georges Delerue auf der Hand. „L’important c’est d’aimer“ beschäftigt sich auch mit dem Ende des Kinos und mit der Freude und Schuld am Sehen. Als Servais ein Foto von Nadine machen will während sie eine Sexszene dreht, bittet sie ihn mit Tränen darum, es nicht zu tun. Das wäre nicht ihr richtiger Beruf, sie tue es nur, um essen zu können. Der Voyeurismus des Kinos verkehrt sich hier in eine pure Selbstverachtung. Vielleicht sagt der Blick von Dutronc in die Kamera unmittelbar bevor er sich umbringt mehr aus, als alles was man dazu sagen kann. Tote Menschen werden genauso fotografiert wie Frauen beim Sex. Das Kino wird hier zu einem wunderschönen Störfaktor. Und dann die Kunst: Eitelkeit, Geld, Stolz, Besitz, negatives Feedback, kein Feedback, Einsamkeit, Extravaganz, Missverständnisse, Angst. Und dann die Liebe: Impotenz, Betrug, Besitz, Verlust, Vergänglichkeit, Missverständnisse, Einsamkeit, Eitelkeit, Angst. Es ist ein Bild der fehlenden Zukunft von Leidenschaft, das hier droht auf die darum kämpfenden Menschen zu krachen. Nadine will geliebt werden, sie will geliebt werden, sie will geliebt werden, sie will geliebt werden. Immer wieder wiederholen die Schauspieler Sätze, um sie richtig zu spüren, um ihr Verlangen nach eine Mehr und einem Anders zum Ausdruck zu bringen. Man hat das Gefühl, dass Zulawski dreht bis ihm das Blut aus der Nase kommt. Klaus Kinski gibt den emigrierten Schauspieler Zimmer, der Richard III im Stück spielt. Kinski ist hier völlig dabei, als poetischer Teufel, der am Ende im Geld sein Heil findet. In einer Szene schlägt er nachdem er von einer Zeitung für seine Performance kritisiert wurde einen Mann nieder, der seinen neuen Mantel berührt hat. Er schnappt sich dessen zwei weibliche Begleiterinnen, schläft mit ihnen und steht am nächsten Morgen weinend am Fenster, die zwei Frauen nackt in seinem Bett. Die Doppelungen zwischen Theater, Film und Leben haben viel mit jenen von John Cassavetes oder Pedro Almodóvar zu tun.

L'importan c'est d'aimer

Bei aller surrealistischer Wut und impressionistischem Dekadenzstreben gelingt es Zulawski den Zuseher in eine ähnliche Distanz zu versetzen wie die seiner Figuren zu ihrem Leben. Das Weinen von Nadine ist schön, der Selbstmord ist vollendet, ein Lachen im Moment des Sterbens, Horrorfilmmusik und wilde Zooms über nackte Körper in einer Orgie. „L’important c’est d’aimer“ ist wie alles im Werk von Zulawski nicht auf eine reine Schockwirkung aus. Der Schock ist ein anderer: Es ist der Moment indem man begreift, dass man auch weinen und hassen muss, um lieben und lachen zu können. Und dann schreit man die Leinwand an: Keine Antwort.