Il Cinema Ritrovato 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

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Erster Zwischentitel in Steamboat Bill, Jr.: „Muddy Waters“

Erster Zwischentitel in Neighbors: „The Flower of Love could find no more romantic spot in which to blossom than in this poet’s Dream Garden.“

Traumgärten in Bologna: In einem Gespräch mit Frieda Grafe, Hartmut Bitomsky und Thomas Tode hat Harun Farocki einmal die Frage gestellt, ob man noch Filme machen könne, wenn es schon von allem Filme gäbe. Bologna lehrt mich vor allem, dass es noch viel mehr Filme gibt. Auf einer Ebene ist das befreiend, auf einer anderen einschüchternd. Es entsteht hier nicht nur eine starre Überwältigung und Handlungsunfähigkeit als Filmschaffender, sondern auch als Cinephiler. Das Schauen von Filmen rückt in einen Modus der Akzeptanz dessen, was man nicht sieht. Erstaunlich in welcher Form der Bericht vom Kinogang immer noch von einer Rhetorik des allgemeinen Verständnis geprägt wird und wie wenig von der tatsächlichen Verirrung, in der das Selbstbewusstsein weniger dem Sehenden, als dem überlegenen Kino selbst angehört. Es gibt natürlich Besucher, die einen Überblick über ein solches Programm haben, aber letztlich habe ich dieses Jahr von sehr vielen gehört, dass sie das Festival „entspannter“ angehen, sich mehr treiben lassen und sich weniger dieser wilden Jagd nach den von Serge Daney beschworenen verborgenen Schätzen hingeben wollten. Es gibt also ganz ähnlich den Essayfilmen von Farocki eine Rückbesinnung auf den Autor, in diesem Fall den Autor des Sehens. Es geht weniger um das Programm des Festivals als das persönliche Überleben darin, die Erkenntnis, dass im Traumgarten nicht jede Frucht erreichbar ist. So reif bin ich noch lange nicht und so habe ich die Woche nach dem Festival damit verbracht, Filme zu sehen, die ich auf dem Festival verpasst habe.

Meine persönlichen Momente des Festivals:

Zum einen eine legendäre Tanzsequenz mit Sehnsuchtsträumen, Überblendungsorgien, betrunkenen Hunden und dem magnetischen Gesicht von Ivan Mosjoukine in Kean ou Désordre et génie von Alexandre Volkoff. Eine Szene, die wie vieles in Bologna derart gut musikalisch begleitet wurde, dass mir die Kubelka-Strenge bezüglich der Projektion ohne Musikbegleitung gehörig um die Ohren flog. In meiner Wahrnehmung sollte es immer beide Möglichkeiten geben. Einmal mit und einmal ohne Musik. Eine Szene, in der ein Film spazieren geht. Eine Szene, in der dem Kino erlaubt wird, zu erzittern. Eine Szene, die meiner dieses Jahr auffälligen, überdurchschnittlichen Liebe zu Hunden (auf der Straße und im Kino) in die Karten spielte genau wie eine grenzwertig brutale Szene in Marie Epsteins und Jean Benoit-Lévys Itto, in der einem Hund die Welpen weggenommen werden, was zu Irritation und schließlich ungebremster Wut im Tier führt. Zum Schmerz des entrissenes Kindes hatte auch Frank Borzage in seinem zärtlichen Until They Get Me einiges zu sagen. Dann waren da die Farben im Schwarz von Blood on the Moon von Robert Wise. Und dann Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey, ein Film, der eigentlich nicht als solcher gedacht war und einen wie die Lumière-Projektionen auf dem Festival an das Kino erinnert, was das Kino ist und sein könnte, nicht was es war. Im weniger als eine Minute langen Film sieht man das Treiben in der französischen Hauptstadt an einem belebten Tag. Es passiert so viel im Bild, dass es gut getan hat, dass der Film mehrfach gezeigt wurde. Wie Abbas Kiarostami einmal sagte: Man fühlt, dass Dinge interessanter anzusehen sind, wenn ein Rahmen um sie herum ist.

Das stimmt aber nicht ganz. Schließlich habe ich auch die tosenden Grillen in den Bäumen von Bologna gehört, die im heftigen Gewitter wankenden Blätter eines Bananenbaums im Hof vor unserem Fenster, das Licht, das über die Terrakotta-Gemäuer wandert und dieses Jahr auch endlich das unsichtbare Wasser, das zwischen den Häusern, kaum sichtbar durch die Stadt fließt. Kein Rahmen, trotzdem Kino und zwar in einer Art und Weise, das scheint mir nicht wirklich präsent zu sein, die sich eben abhebt von diesem Streben nach dem neuem Film, dem viele Zuseher und die schreibende Zunft so auf den Leim gehen. Das heißt nicht, dass sich in Bologna nicht auch viele Probleme einer Kulturbranche zeigen, die relativ willkürlich entscheidet, was von der Filmgeschichte erhalten und beleuchtet wird. Das Problem ist, dass eine Kritik dieses Vorgehens jenen vorbehalten wird, die mehr Früchte aus dem Traumgarten kennen, als vom Festival zur Verfügung gestellt werden. Weit entfernt von solchem Wissen möchte ich abschließend noch betonen, dass mir das Prinzip der „Gatekeeper“ in der historischen Auseinandersetzung mit Filmen fatal scheint. Verschiedene Figuren schwingen sich auf zu Experten von diesem oder jenen Kino, sie werden zu Entscheidungsträgern, die letztlich sagen, was relevant ist und was nicht und zu bestimmten Themen scheint es nur sie zu geben, die dazu etwas äußern sollen und können. Was dabei an Tradition gewonnen wird, geht an Lebendigkeit, Offenheit und tatsächlicher Auseinandersetzung mit dem Kino verloren. Nach Bologna fahren sollte man trotzdem und zwar nicht, um wie viele das grandiose Essen und die schöne Stadt zu genießen, sondern um die seltene Chance wahrzunehmen, zu erfahren, dass Kino mehr ist, als man sehen kann und dass nicht nur deshalb das Vergangene im Kino immer von der Gegenwart und Zukunft des Mediums erzählt.

Rainer Kienböck

blood on the moon

Mittlerweile habe ich für mich einen dienstbaren Weg gefunden durch das Programm zu navigieren. Recht willkürlich schließe ich vor Beginn des Festivals ein paar der Programmreihen aus, die mir weniger interessant erscheinen, dann lasse ich mich zu Beginn des Festivals treiben und peile dabei eine gesunde Mischung aus halbverschollenen Raritäten und Klassikern, die ich noch nicht gesehen habe, oder wiedersehen möchte, an. Im dritten Jahr habe ich mich auch endlich damit abfinden können, dass das Il Cinema Ritrovato ein Festival des Verpassens ist: jede Entscheidung für eine bestimmte Vorführung ist zugleich eine Entscheidung gegen andere ebenso interessante Programmpunkte. Es hängt sicherlich mit dem Reiz dieses Festivals zusammen, dass manche dieser Entscheidungen Filme betreffen, die vielleicht für Jahrzehnte nicht mehr gezeigt werden.

Ich war in jedem Fall gut beraten, in der Programmgestaltung vieles dem Zufall zu überlassen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich wohl nie zuvor in einem so kurzen Zeitraum so viele Stummfilme gesehen habe. Vor allem die Reihe mit Filmen von vor 100 Jahren hatte es in sich, war 1917 ein annus mirabilis des Kinos oder führt ein sorgfältig kuratierte Auswahl von 50 Filmen aus einem beliebigen Jahr automatisch zu so einem fantastischen Programm? Robert Wienes Furcht mit Conrad Veidt, Tösen från Stormyrtorpet von Victor Sjöström und vor allem Frank Borzages Until They Get Me zählen ohne Zweifel zu den besten Filmen, die ich in Bologna sehen durfte. Und das obwohl kaum einer der 1917er-Filme untertitelt war und die Simultanübersetzungen noch immer so schlecht sind, dass ich im Endeffekt lieber versuche dänische, schwedische oder italienische Zwischentitel zu lesen (es spricht für die Filme, dass sie trotzdem wirken). Until They Get Me muss auch aus einem anderen Grund in diesem Text Erwähnung finden – er spielt in Kanada.

Wie die Zufälligkeiten eines solchen Festivalbesuchs es so wollen, begann mein Bologna-Aufenthalt mit einem Screening von Bill Morrisons Found-Footage-Kompilationsfilm Dawson City. Frozen Time, der sich der Geschichte der namensgebenden Stadt in Nordkanada – einem Zentrum des Gold Rush des späten 19. Jahrhunderts – annimmt. Dawson City war nur der Auftakt für eine überproportionale Menge an Kanada-Western in meinem persönlichen Programm. Neben Borzages Film muss ich an dieser Stelle auch Otto Premingers River of No Return erwähnen: Marilyn Monroe in Cinema Scope und Technicolor und dennoch lebt der Film stärker von der unvergleichlichen Präsenz Robert Mitchums (dem diesjährigen Festival-Posterboy). Nach River of No Return und Blood on the Moon am Folgetag hatte ich mir vorgenommen, zumindest einen Mitchum-Film pro Tag zu schauen. Die Zufälligkeiten wollten es anders, und ich sah zu meinem Bedauern keinen einzigen weiteren.

Aber noch einmal zurück zu den Stummfilmen. In einem längeren Text  habe ich bereits über die grandiosen Lumière-Programme geschrieben, die es in Bologna zu entdecken gibt, samt großartigen Einführungen (ich verweise noch einmal auf Aboubakar Sanogo) und wunderbarer Musikbegleitung – einer der Pianisten hat das Musikrepertoire sogar um seine Stimme ergänzt. Diese Aktion war für mich sicher der skurrilste musikalische Moment des Festivals, bei dem Musik eine große Rolle gespielt hat. Bei den Freiluftvorführungen am Piazza Maggiore gab es gleich zwei solche musikalische Höhepunkte: zum einen die Live-Performance von Maud Nelissen & The Sprockets zu The Patsy von King Vidor und zum anderen Monterey Pop von D.A. Pennebaker, der Konzertfeeling aufkommen ließ. Umgeben von hunderten Leuten, die Soundanlage bis zum Anschlag aufgedreht, der Applaus des Publikums am Piazza mischt sich mit dem Applaus des Publikums im Film. Eine überwältigende Erfahrung, die mich zumindest ein wenig mit der Praxis digitaler Projektion von analog entstandenen Filmen versöhnt – auf konventionellem Weg hätte man den 16mm-Film wohl kaum auf der 20 Meter hohen Leinwand am Piazza zeigen können.

Zum Abschluss noch ein paar weitere Eindrücke vom Piazza, die ich einfach erwähnen muss: L’Atalante auf Riesenleinwand wiederzusehen, über Michel Simons Brillanz zu staunen und natürlich über die vernebelten Traumbilder von Jean Vigo, in denen dennoch das „echte Leben“ pulsiert; der Festival-Trailer, in dem Jimi Hendrix zu Because the Night lipsynched und Brigitte Bardot zum gleichen Lied ein Tänzchen wagt. Leider, leider hat er es (noch) nicht auf die gängigen Video-Plattformen geschafft, um ihn hier zu teilen – es wäre ein würdiger Abschluss für einen Text über die Höhepunkte des Festivals.

Ivana Miloš

danse

Every Love Has Its Landscape

Where architecture and summer join, bringing about a hazy, misty awareness of movement and fiction caught in a tête-à-tête lasting several days, there cinema can soak the streets and inhabit a sanctuary upon a hill, overlooking the landscape with the decisive stance of a searcher akin to Sterling Hayden in the opening shots of Johnny Guitar. Here, only a celebratory blink of the eye separates the fear of being caught in a storm and buried by the rubble of an explosion bringing in the future from the feeling of mercifully basking in the past. Have the images invaded and pervaded your consciousness or has the sun gone to your head? Blissfully, there is no way of telling. Bologna’s Il Cinema ritrovato resembles what Hélène Cixous calls an “exploded” reading, with splitters and fragments building up the experience of a festival, a history, and a cinema.

The cinema revealed in Bologna may well be one of many, but its fruits are more alluring than most and whet the appetite with a delicious twist. If a screening such as the 1917 Pathé Frères’ treasure box Les danses enfantines can serve as a foundation of a festival visit, there is much to be discovered lying in wait in the intertwined shadows of arcades. The study of the movement of young ballerinas thus easily metamorphoses into a glimpse of a mysterious forest glade inhabited by nimble, fawnlike dancers with inimitable expressions, secrets, and promises. Chief among them is the promise of motion, made manifest by the rise and fall of feet cushioned upon grass, divulging the magic of dancing bodies with a touch of the camera shutter responsible for the wondrous slow motion of the dancers. Mechanical marvels commingle with revelations of (almost) unknown realities, as the program section of hundred-year-old films featured every year eloquently goes to show. Étienne-Jules Marey’s Place de la Concorde, a 88mm wide and 19m long filmstrip also breathes mystery when projected as it was never intended to be. These early sprouts of an art, their intentions partly uncertain, partly ignored and reassembled for the present, meet and traverse the humanity of Frank Borzage’s Until They Get Me (1917), Tay Garnett’s hyperbolized Destination Unknown (1933) and Tamizo Ishida’s lacework masterpiece Hana Chirinu (1938).

Then there is Arne Sucksdorff’s My Home is Copacabana (1965), riveting in its image-capturing skillfulness, whose spirit exactly matches its sapling protagonists. Somewhere between the sea and the sky, real-life yet fictional favela orphans Lici, Jorginho, Paulinho and Rico reimagine themselves based on the stories they have experienced and related to the director. Their feverish, incredibly fragile existence is led on the Atlantic shore of the beach in Copacabana and the ramshackle shelter they built for themselves on top of Morro da Babilônia. Both of these are at all times open to invasion, unwelcome intervention and the heedlessness of others. The children may and do try to defend them, but failure is pre-inscribed in their actions. My Home is Copacabana portrays the lack of home by gently, but unsparingly sculpting the spaces of its non-existence. But the issue of homelessness does not bring on an edifying, moralizing or pitying perspective; the film remains as clear and respectful as can be towards the children’s struggle to survive. A wild, dancing kite criss-crossing the skies during the opening credits personifies the quicksilver nature of a ruthlessly shaky life as well as the succulence of short-lived delights characteristic for and belonging to a child. When the children get chased away from their hill shack by bandits, they take to sleeping in fishermen’s boats on the beach. Dream meets devastation in the contours that envelop their lithe forms. The framing is flawless. One evening, a ritual is performed for Yemanja, the goddess of the sea, and a fire started on the beach outshines the darkness. A dance carries sand, sea, and laughter back into the skies.

Dance works towards resistance and the construction of two more universes: that of Med Hondo’s West Indies (1979), presented as a part of the Film Foundation’s World Cinema Project and Jean Rouch’s La Goumbé des jeunes noceurs (1964-65), well-concealed in the depths of the Documents and Documentaries section. The most elementally precious element of Hondo’s work (alongside his incomparable introduction) is the opening shot of the lurid setting of his story of relentless migrations between Africa, Europe and the Caribbean, a story of colonization and repression, on a giant slave ship located inside an industrial warehouse. This in itself is a dance; one of choice and skill, of camerawork chosen as the means of storytelling embarked on a ship just as so many of its participants had been throughout history.

Another migration, that of the inhabitants of French Upper Volta to the city of Abidjan in the Côte d’Ivoire, acts as a starting point for Rouch’s incredible engulfment in an association of migrants shaped around the goumbé, a traditional dance they rely on in the desire to maintain a community and ensure mutual solidarity and assistance in a foreign land. While the secretary-general reads out the statute and the names and occupations of the chief members of the association, each is presented in a series of perfectly rounded portraits, miniatures of every worker at their workplace and their home. The film flows and feels like a simple, devotedly woven cloth – it wraps itself around its participants purposefully, letting them breathe as freely as they wish. If humanity could take on the unostentatious garb of these images, of their fabric and tone, the promises of movement made a hundred years ago could come to life with true vigour. Hence, Rouch shows the goumbé in motion, in splendour, as a halo of brightness on fire. And if the dance of cinema is going to catch fire again, it better develop the radiant rupture of triumphant life and spread its wings in the night. Nobody will strike at a firefly in the darkness.

Valerie Dirk

sara

Zeitreisen auf der Piazza Maggiore: Obwohl ich bereits das dritte Jahr zum Cinema Ritrovato fahre, habe ich heuer zum ersten Mal die Kinomagie der Piazza Maggiore für mich entdeckt, auf der ich das Kino, noch intensiver als sonst, als Zeit- und Raummaschine erfahren habe.

Mit A Propos de Nice von Jean Vigo (nach Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey) im Vogelflug über das Nizza von 1930 und mitten hinein in die Stadt während des Karnevals. L’Atalante  fährt auf Hochzeitsreise durch nordfranzösische Kanäle und sucht das Bild der Geliebten (Dita Parlo !) im Wasser. Während Johnny Guitar von Nicolas Ray mit der großartigen Joan Crawford (die Farbe ihrer Hemden, ihre Haltung) und ihrer Gegenspielerin Mercedes McCambridge, spaziere ich von der ersten in die letzte Reihe. Kino kann man (zumindest kurzzeitig) auch im Gehen genießen. Monterey Pop von D. A. Pennebaker entführt die ZuschauerInnen in das Kalifornien von 1968, also in eine Zeit, in der die Geschichte der Popmusik und des direct cinema geschrieben wird. Sweet nostalgia schwemmt über die Piazza, denn das ist die Musik, mit der ich und viele andere aufwuchsen (die Schallplatten des Vaters). Totale Bewunderung für die Performances von Otis Redding, The Who, Janis Joplin und Grace Slick von Jefferson Airplane. Jimmy Hendrix enttäuscht dagegen, er ist zu vollgedröhnt. Die missbrauchte Gitarre hat gut daran getan, nicht flammend zu lodern. The Patsy von King Vidor erwärmt durch die wunderbare Komik der Marion Davies und dem live Jazz-Orchester. Es ist meine letzte Reise auf der Piazza.

Med Hondo: Der afrikanische Regisseur ist meine persönliche Neuentdeckung. Ab Afrique sur Seine und Soleil Ô hänge ich am Köder. Verhandlungen afrikanischer Identität in Frankreich, dabei ohne schwarz-weiß-Malerei, mit Humor und zugleich tiefster Depression. Realistisches schwarz-weiß, sehr direkt, Straßenszenen und ein bißchen früher Fassbinder. Ich glaube zu wissen, was ich bei den anderen beiden Filmen zu erwarten habe. Und werde getäuscht: West Indies, ein knallbuntes Musical im Bauch eines Schiffs, rhythmische Choreografien, Zeitsprünge vom 16. Jahrhundert in die Jetzt-Zeit (1979), Migration und Sklaverei werden auf spannende Weise zusammen gedacht. Sarraounia wiederum ganz anders. Ein Kriegsfilm über den Widerstand einer nigerianischen Stammesführerin, die gegen die Eroberungszüge der Franzosen und die Intrigen der afrikanisch-muslimischen Stammesführer Stand hält. Cinemascope, Farbe, Musik, Wüste. Ein Epos. Med Hondo ist auch zu Gast. Oft den Tränen nah, so determiniert in seinem Glauben an eine Gemeinschaft, an die Anderen, an das Kollektiv, an den Sozialismus/ Kommunismus und so ablehnend gegenüber einem Kino des l’art pour l’art.

En plus: Helmut Käutners Ludwig II und die Sprache O. W. Fischers. Douglas Sirk und das humanistisch-sakrale Melodrama (The Magnificent Obsession). Die Schönheit, Tragik und Aufrichtigkeit Rock Hudsons. Caffè, Apperitivo und holpriges Italienisch. Frühmorgens Universal Filme mit „bad-sad-gal“ Mary Nolan: Outside The Law und Young Desire. Letzterer rührt zu Tränen, so hoch schwebt sie empor, so schnell fällt sie.

Sebastian Bobik

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Da dies mein allererstes mal beim Il Cinema Ritrovato war, muss ich natürlich als erstes Highlight das Festival an sich hervorheben. Ein schöner Ort, gutes Wetter, ein tolles Programm… Ich kann eigentlich nur gut von diesem Festival sprechen. Natürlich sind die Konditionen in manchen Kinos etwas kompliziert (wenn die Klimaanlage mal ausfällt kann der Kinobesuch schon recht hart werden) und die Sprachbarriere ist noch ein Problem, an deren Lösung gearbeitet werden muss, doch das alles wird locker wieder wett gemacht durch die wunderbare Atmosphäre vor Ort.

Bevor ich nun meine Filmhighlights aufliste sollte ich noch kurz ein bisschen Platz für den Festivaltrailer finden. Der hat dieses Jahr besonders begeistert und man kann nur hoffen, dass sich das Festival entschließt ihn im Internet zu veröffentlichen.

Nun zu meinen persönlichen Höhepunkten, die ich hier in der Chronologie auflisten werde, in denen ich die Filme gesehen habe:
Gleich am Abend meiner Ankunft begab ich mich noch zum Piazza Maggiore um Jean Vigos wunderbaren Film L’Atalante zu sehen. Ist Michel Simon hier sogar besser, als in Boudu sauvé des eaux von Jean Renoir? Doch nicht nur Michel Simon ist wunderbar bei Vigo: der ganze Film ist voller traumhafter Momente. Sei es die berühmte Sequenz unter Wasser, oder die erste Kamerafahrt über das Schiff (ein Moment der mir Gänsehaut bescherte). Dennoch war L’Atalante nicht mein größtes Highlight an dem Abend. Davor wurde nämlich A Propos De Nice, der ebenfalls von Vigo ist, vorgeführt. Ich war ohne jegliche Information über diesen Film hingegangen und was mich überwältigte war eine Freiheit, die man nicht mehr oft in Filmen sieht. Besonders beeindruckt hatte mich eine simple Bewegung: Ein Gebäude neigt sich um 90 Grad. Es ist eine Bewegung, die man sonst nur in verspielten Amateuraufnahmen sieht, die auf Camcordern gedreht wurden. Eine Bewegung, die einem in einer Filmschule sofort ausgeredet wird, und eine Verspieltheit ausdrückt, die man oft vermisst. Was darauf folgte, war ein mit herrlichen Aufnahmen gespicktes Portrait von Nizza. Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich einen Fluss von Bildern: Eine Frau auf einem Sessel, verschiedene Outfits an ihr werden überblendet bis sie plötzlich nackt ist, eine bizarre Parade und die schwingenden Beine von Frauen, die in Zeitlupe tanzen. Gleich am folgenden Abend sah ich ebenfalls auf dem Piazza Maggiore Johnny Guitar von Nicholas Ray. Auf einer riesigen Leinwand mich unglaublichen Farben und großem Publikum war der Film einfach ein wunderbares Erlebnis.

Am Tag darauf entdeckte ich Hana Chirinu von Tamizo Ishida. Dessen Entdeckung ist für mich wohl der absolute Höhepunkt meiner Zeit in Bologna. Tage später sah ich den ebenso wunderbaren Mukashi No Uta ebenfalls von Ishida. Beide Filme wurden in schlechten Kopien gezeigt. Das Bild war zum Teil unerkennbar dunkel. Trotzdem konnte dies den Filmen kein bisschen schaden. Ishida ist ein Regisseur, der zumindest in diesen beiden Filmen mit wunderbaren Einsichten, Szenen, Figuren und Beziehungen dieser überrascht, und jemand, der hoffentlich bald auch jenseits von Bologna wiederentdeckt wird. Die Welt verdient es, diese wunderschönen Filme sehen zu können.

Ein weiteres Highlight, das auf der Piazza Maggiore extrem an Erfahrungswerten gewann, war Monterey Pop von D.A. Pennebaker. Dieser war selber anwesend um seinen Film einzuführen und sichtlich gerührt, ihn vor so großem Publikum zeigen zu dürfen. Im Film gibt es großartige Auftritte (vor allem Janis Joplin, Otis Redding & Jimi Hendrix). Es herrschte eine mitreißende  Stimmung auf der Piazza und Applaus, bei dem man nicht wusste, ob er eigentlich im Film, oder auf der Piazza stattfand.

Der letzte Film auf dem Festival, den ich gesehen habe war Decasia von Bill Morrison. Es war schon am späteren Abend und ich war ziemlich müde. Als diese Bilderflut begann auf mich herabzuregnen, wurde ich sehr schnell wieder wach. Es ist schwer die Erfahrung des Filmes in Worte zu fassen, er ist einfach ein Erlebnis. Ein Film, den man über sich kommen lassen muss, wie eine Welle. Er kann einem das Gleichgewicht nehmen, doch wenn man sich mit ihm gehen lässt ist es eine unvergessliche Erfahrung. Für mich war es der einzige Horrorfilm, den ich auf dem Festival sah.

Andrey Arnold

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Mädchen in Uniform: Die sensible Manuela wurde vom preußischen Mädchenstift kaputtdiszipliniert. Jetzt schleppt sie sich langsam das Stiegenhaus hinauf, will sich von oben in die Tiefe stürzen. Doch als sie kurz davor ist, schleudern ihr ihre Mitschülerinnen, die sich ein paar Stockwerke tiefer scharen, ihre geballte Empathie entgegen: In einer koordinierten Bewegung recken sie die Arme in die Luft und rufen „Nein!“ (oder dergleichen). Das Zielobjekt wird von dieser kraftvollen Gemeinschaftsgeste erfasst und zur Besinnung gebracht, wie von Zauberhand. Es ist ein starker Moment, eine hochgradig künstliche Pathos-Pfeilspitze, die die Kollektivromantik und den Widerstandsgeist des Films perfekt auf den Punkt bringt – aber auch dessen unheimliche, präfaschistische Vision kathartischer Gruppenekstasen.

Johnny Guitar: Ich habe diesen Über-Film in Bologna zum zweiten Mal gesehen, aber eigentlich zum ersten Mal. Seine unfassbare Kraft ist mir erst hier richtig bewusst geworden. Andere können besser ausdrücken, was es mit ihr auf sich hat. Als Emma gegen Ende von Vienna erschossen wird, wurde in einigen Ecken gejubelt. Ich kenne diese Art von Jubel und will ihn im Kino niemandem vergällen. Dennoch hoffe ich, dass die Jubelnden den Film noch öfter sehen. Und irgendwann nicht mehr jubeln, möglicherweise.

West Indies: Schwarze Komplizen der französischen Kolonialmacht führen weiße Touristen durch die Karibik (ein buchstäbliches Sklavenschiff, weil in diesem Film alles beim Namen genannt wird) und preisen die örtlichen Attraktionen. Stolz verweisen sie auf die willfährige Arbeiterschaft, die emsig mit ihren Macheten hantiert. Ein Schwenk fokussiert ihre Choreografie (weil dieser Film auch ein Musical ist) und verweilt darauf – gerade lange genug, um sich vorzustellen, dass die tanzenden Klingen keine Werkzeuge sind, sondern Waffen.

Bildnis einer Unbekannten: Ein Film voller Freuden (und Ambivalenzen), nicht zuletzt dank des Schauspiels von Ruth Leuwerik und O.W. Fischer. Aber auch ein Film, der sehr stark über Sprache funktioniert und über den Dialog. Und bei mir (wieder einmal) die Frage aufwarf, inwieweit sich Filme „übersetzen“ lassen – und wie viele Fehlurteile gefällt wurden, weil jemand (ich zum Beispiel) nicht imstande war, die Eigenheiten eines spezifischen Idioms wahrzunehmen. Natürlich muss man nicht Deutsch können, um Käutners Film zu genießen. Und natürlich können einem trotz (oder wegen) sprachlicher Unkenntnis Dinge auffallen, die einem Native Speaker (oder Beinahe-Native-Speaker) verschlossen bleiben. Aber wird man das einzigartige Wechselspiel zwischen Gestik, Mimik, Rhythmus, Duktus, Timbre, Inhalt, Charakter, Wortwahl und Pointiertheit, mit der Fischer an einer Stelle sagt: „Ich bin gar nicht reizend, ich bin reiz-bar“, mit dieser fabulösen Pause zwischen den Silben des letzten Wortes, wirklich zu schätzen wissen? Bei der schönsten Überblendung des Films stellt sich diese Frage jedenfalls nicht: Ein Porträt der „Unbekannten“ verbrennt langsam im Kamin und verschmilzt mit einer Nahaufnahme ihres Gesichts, das eines der tollen Lieder des Films singt: „Ist denn mein Mund ein Vagabund, der ewig wandern muss, von Kuss zu Kuss…“

Arkasha zhenitsya: Die lustigste russische Stummfilmkomödie, die ich je gesehen habe (ich habe noch nicht viele russische Stummfilmkomödien gesehen). Ein Mann betrinkt sich am Vorabend seiner Hochzeit. Am nächsten Tag die Ausnüchterungskur. Er dreht den Wasserhahn auf, um sich frischzumachen – und schläft promt unter dem Becken ein. Das Wasser läuft über. Er glaubt, es regnet, schlägt den Kragen hoch. Später: Ein Spaziergang im Park – mit Frack, Zylinder und Gehstock (die Bourgeoise war schon vor der Oktoberrevolution Zielscheibe des Spotts). Schläft im Stehen ein, der Stock ist notdürftige Stütze. Lausebengel stoßen sie weg. Pardauz! Wer jemals einen über den Durst trank und am nächsten Tag zeitig aufstehen musste, weiß: It’s funny cause it’s true.

Die kleine Veronika: Ich habe mir die Projektion des Films auf der Piazetta Pasolini leider nicht angesehen. Aber ich habe die betörende Musikbegleitung von Florian Kmet gehört, während ich abends im Hof der Cineteca saß, umgeben von neuen und alten Bekannten, einen schönen Festivaltag im Herzen. Und das reicht.

 

Three Men of Wisconsin: Johnny Guitar von Nicholas Ray

Just als man vergessen hat, wie gut ein Film wirklich ist, drängt er sich mit den drehenden Rädern einer stetigen Erinnerung zurück oder besser von Neuem in das Bewusstsein. Ein solcher Film muss nicht davon leben, dass man ihn sofort nachdem man ihn gesehen hat, wieder sehen will (er könnte trotzdem), ein solcher Film ist wie ein Duft, den man nie vergisst und immer bei sich trägt, auch wenn man ihn gar nicht riechen kann, so ein Film muss prinzipiell gar nichts, er ist ein stetiger Rhythmus, indem sich alles dreht, immerzu alles dreht: Das Spielrad, das leere Whiskeyglas, Joan Crawford mit einem Revolver in unsere Richtung. Sie dreht sich so, dass man kurzerhand einen menschlichen Körper mit einer Elegie verwechseln könnte. Ein Film, der einem scheinbar den kalten Rücken zeigt und dann voll ins Herz trifft: Dieser Film ist Johnny Guitar. (play again)

Alles dreht sich in diesem Licht des vor Farben pulsierenden Ozeans von Nicholas Ray. Ein Chip zwischen den Fingern von Scott Brady als Dancin‘ Kid, ein auf dem Boden liegender Revolver, auf den geschossen wird oder Joan Crawford (again) als Vienna (was für ein Name!). Immer steht sie mit ihrer Schulter und ihrem Rücken gegen die Musik von Johnny (Sterling Hayden), der eines Tages mit einem Sturm in ihrer Bar eintrifft, unbewaffnet und mit jenen Sprüchen und jenen Gesten (man achte darauf wie er sich vor einer Schlägerei entkleidet) ausgestattet, die ein ganzes amerikanisches Genre im Bruchteil einer Sekunde zum Kern führen. Vienna hat alles richtig gemacht und genau daraus entsteht eine Bedrohung. Sie ist Besitzerin eine Saloons im staubigen Nirgendwo, aber genau durch dieses staubige Nirgendwo wird die Eisenbahn fahren. Und plötzlich wird ihr Besitz zur Bedrohung. Der nahende Reichtum wird ihr streitig gemacht von einer Horde gieriger Männer und einer Furie. Ihr Name ist Emma und sie ist eifersüchtig, weil Dancin‘ Kid auf Vienna steht und nicht auf sie. In Johnny Guitar existiert ein Verlangen, das nie einfach nur materiell oder einfach nur sexuell ist. Es ist immer beides zugleich, verwinkelt, verschränkt und ja, sich drehend. Wie wir bald erfahren werden nachdem der Film seine kompletten Konflikte in einem Gefühl von Echtzeit im Saloon offenlegt, kennen sich Johnny Guitar, der eigentlich Johnny Logan heißt und Vienna von früher. Zwischen ihnen gibt es ein Geheimnis, ein Verlangen, eine Geschichte, doch zugleich auch einen klar formulierten Auftrag. Vienna hat den guten Mann (he wasn’t good, he wasn’t bad) zum Schutz anreiten lassen, er ist „gun crazy“, ein verrückter, aber brillanter Schütze, einer der nicht so aussieht, als ob, so wie vieles im Film, denn immer wieder drehen sich die Vorzeichen im Film. Das gilt zum Beispiel für die Wahrnehmung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die immer dort zum Vorschein kommen, wo man sie nicht erwartet hat (zum Beispiel in den angeschnittenen Schultern einer Over-Shoulder Einstellung). Johnny Guitar ist ein Film, in dem sich Menschen umdrehen, um nicht ihre Liebe verraten zu müssen, zugleich ein Film über die Verdrängung der Zufriedenheit, die in uns allen schlummert, um Liebe in Hass zu verwandeln. Ein Hass, der aus einer Sehnsucht entsteht, die nicht mehr erreichbar scheint.

Sterling Hayden Joan Crawford

Viel frischer ist diese Sehnsucht noch in der Bande um Dancin‘ Kid. Dort wird nach einem Ritt durch einen Wasserfall (so ist das bei Ray, das ist ein Establisher, Cowboys reiten, aber sie reiten eben nicht einfach so vor einem schönen Hintergrund, sie reiten durch einen Wasserfall und man darf bestaunen wie sie sich Regenmäntel über ihren Kopf halten und darauf warten, dass dieser Wasserfall eine Bedeutung bekommt) eine Flucht geplant. Einer der Vier ist Lungenkrank, man will nach Kalifornien. Die Frage ist nur wie man an das notwendige Gold kommt. Doch die eigentliche Sehnsucht von Dancin‘ Kid ist Vienna, die nicht genug bekommen kann vom Geräusch des „spinning wheel“, das wie das Kino selbst läuft und klingt und in sich Träume und Geschichten vereint. Darin liegen die Narben einer verloren geglaubten Beziehung zu Johnny. Doch dieser ist zurück (what took you so long?) und er will diese Leere zwischen damals und heute als bösen Traum vergessen. Johnny und Vienna küssen sich unter Tränen. Es ist der Flug eines Melodrams, der meist endet wie Ikarus.

Haben wir schon die Farben erwähnt? Gelbe Kutschenräder, rote Halstücher, roter Lippenstift, gelbe Hemden, ein grünes Kleid bei Mercedes McCambridge, ein grüner Türrahmen, es ist so als würde jeder Farbspritzer für eine Erschütterung des Kinos stehen bei Ray. Das ist fast in all seinen Farbfilmen der Fall, aber in dieser kargen Wüste der Hoffnungslosigkeit wirken die Farben tatsächlich wie der Traum nach der Freiheit des Kinos selbst. Sie sind dieses Begehren nach etwas anderem, das nicht zuletzt auch im Filmemacher schlug. Hollywood, so hörte man später, war nicht die Welt von Nicholas Ray. Aber es sind auch Farben, die nach Blut verlangen.

Dann ein Samstagmorgen in einer Bank. Vienna und Johnny heben Geld ab, es ist die trügerische Stille der Romantik danach und die Brutalität dieser Welt stellt sich schon bald von Neuem gegen diese Liebe als die Gang um Dancin‘ Kid ausgerechnet in diesem Moment die Bank überfällt. Ausgerechnet der junge Turkey (Ben Cooper) bewacht den scheinbar unbewaffneten Johnny vor dem Eingang. Er weiß um die Fähigkeiten des Mannes mit dem Revolver, er hat Angst. Doch nichts passiert, Dancin‘ Kid verschwindet mit dem Geld und in einer letzten verzweifelten Geste küsst er Vienna, die ihn hindern wollte und wieder einmal gefangen ist zwischen ihrer Stärke und Schwäche, zwischen dem was sie will und mit welchen Waffen sie es bekommen kann. Nun gibt es ein Problem. Die Horde um McIvers und Emma will Vienna und ihre frühere Liebe Dancin‘ Kid schon lange in einen Topf stecken. Für Emma ist das eine Chance zur Rache, für McIvers eine Chance den Saloon zu bekommen. Nun waren Vienna und Dancin‘ Kid gleichzeitig in der Bank. Im Gesicht von Johnny regt sich zugleich Eifersucht und Sorge.

Johnny Guitar4

Nun wird der Staub der Gewalt endgültig entfesselt, Trauerschleier fliegen durch den Dreck und Emma und Konsorten beginnen ihre Jagd auf Dancin‘ Kid und schließlich auch Vienna. In einem flüchtigen Moment schreit ein Mann in den Bergen. Wir hören sein Echo. Die Gewalt hallt jetzt über die Zeit hinweg, die zuvor noch von Gefühlen einer verlorenen und wiedergefundenen Liebe beschallt wurde. Wir hören nur noch Wut und einen Sturm. Im Dämmerlicht erwartet Vienna mit Lederhandschuhen ihr Schicksal. Explosionen sind zu hören, der Weg über den Pass wurde gesprengt, es ist das Donnern nahender Gewalt. Langsam bewegt sich die Kamera auf die Überzeugung von Vienna zu und lässt dadurch ihre Fragilität darunter aufblitzen. Diese Blitze und Donner müssen natürlich in einem Gewitter enden. Pferde trampeln auf der Kamera herum, während wir, wie in Zabriskie Point dem Rhythmus von Explosionen lauschen und die durch die Luft wirbelnde, rote Erde wie Sternschnuppen am Himmel bestaunen, die von einer unmenschlichen Kraft erzählen. Es ist die Kraft der Vernichtung, die von der ersten Sekunde über diesem Film hing. Für Johnny ist der Weg aus dieser Vernichtung eine andere Vernichtung, nur Vienna will etwas anderes, ihre Tränen sprechen von der Unmöglichkeit dieses Andere zu erreichen. Jetzt verschließen sich die aufgeplatzten Narben ihrer Liebe wieder wie von selbst. Kühl zahlt sie Johnny aus. Keine Spur mehr aus der vergangenen Nacht wäre da nicht diese Titelmelodie, dieses Motiv einer anderen Zeit und Sehnsucht. Und wären da nicht die Schultern von Vienna, die sich immerzu umdrehen wollen, es aber nicht tun.

Am Wasserfall (den wir schon kennen) fällt Dancin‘ Kid und seinen Begleitern auf, dass Turkey fehlt. Wir haben ihn bereits gesehen, sein Hals ist voller roter Farbe. Sie müssen weiter, es geht durch den Wasserfall hindurch hinein in ein Finale, das uns schon früher durch ein musikalisches Signal angedeutet wurde: Die Silbermine. Es ist auffällig, dass alle verfeindeten Gruppierungen untereinander Konflikte austragen. Es geht um jedes Individuum, jedes Überleben, jeder für sich und die Liebe und Geld gegen alle. Die Haltung von Emma, der rachedurstigen Furie, leicht gebückt als wäre sie Richard III., eine Rage, die zur Hysterie der Verfolgung passt. Der Film wurde von der Leine gelassen an einem bestimmten Punkt und all die Nostalgie und Melancholie schlägt um in blanke Panik. Die komplett in schwarz gekleidete Trauergesellschaft verwandelt sich spätestens mit Emmas Monolog des Hasses gegen Vienna in eine Jagdgesellschaft. Boys who play with guns have to be ready to die like men…

Als die nächtlichen Jäger an Viennas Saloon ankommen, vermischt sich das Blut ihres Lippenstifts mit dem Make-Up der Wunde von Turkey. Es ist nicht einfach nur Nacht geworden bei Nicholas Ray. Es ist eine emotionale Finsternis und eine Erwartung in der Dunkelheit. Und dann passiert es. Emma stürmt als erste den Saloon (vielleicht tut sie es gar nicht, aber in meinem Kopf muss sie es tun) und in einem weißen Kleid sitzt Vienna am Piano und spielt jene Melodie des Herzens, würdevoll und stolz ihr weiß gegen das schwarz von Emma. Welcher Wind weht durch diesen Augenblick! Und dann brechen aus Vienna alle Ungerechtigkeiten, die ihr in diesem Amerika widerfahren, einer Welt – nicht so fremd von unserer – in der Besitz und Nationalität komische Gemeinsamkeiten bekommen haben im Denken der Menschen. Doch Ray muss den Schock des Verrats inszenieren, er verrät seine Figur, um sie zu stürzen. Turkey fällt und macht sich bemerkbar. Er lügt, um seine Haut zu retten und verrät damit Vienna als mitschuldig am Bankraub. Ray zeichnet hier gnadenlos die Methoden einer Verfolgung, die in jener Zeit in den Vereinigten Staaten an der Tagesordnung waren. Es sind diese Szenen, in denen das pure Kino von Ray in den ideologischen Bewachern der repräsentativen Möglichkeiten des Kinos seine Befürworter findet. Dabei greifen diese Szenen weit über ihr politisches Gehalt hinaus, denn wenn man auf die Gesichter der Kläger blickt, dann spielen sich hier weit mehr Emotionen ab, als dass man diese alleine im Politischen greifen könnte. Alleine die Haltung von Turkey deutet auf eine religiöse Konnotation hin, seine Arme weit ausgestreckt, er wird gekreuzigt, trotz oder gerade wegen seiner Verleumdung. Die Unschuld selbst sitzt im Hintergrund in Weiß und erträgt das Geschehen, ängstlicher Schweiß steht im Gesicht von McIvers. Es ist eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die sich letztlich nur in jener Sinnlichkeit entfalten kann, die Ray in jeder dieser Sekunden entfesselt. Was wir sehen, ist nicht eine politische Parabel sondern die pure Präsenz ihrer Bedeutung.

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Es kommt zu einer Schießerei. Tom, der Vienna retten will, stirbt. Er sagt, dass alle ihn ansehen würden. Es wäre zum ersten Mal, dass er sich wichtig fühle. Jetzt ist er völlig da im Kino von Ray, weil er in ebendiesem verschwindet. So ist es bei diesem Filmemacher. Und weil es so ist, muss der Saloon auch brennen. Emma entflammt ihn. Die Furie, ihr Schatten in den Flammen, das Gewitter, die Explosion, die Musik ist auch entfacht, ein Rausch der emotionalen Gewalt. Es ist klar, dass sie sich dreht im Moment ihrer größten Bösartigkeit, als ein Lachen der Zerstörung über ihr Gesicht fällt. Alles dreht sich. Turkey wird gehängt. Erstaunlich die Verzögerung in der Reaktion von Vienna und auch bemerkenswert das Entsetzen auf den Gesichtern der Täter. In der Folge soll Emma auch gehängt werden. Emma besteht darauf. Aber niemand will es tun. Sie schreit, dass sie 100 Dollar bezahlen würde, wenn es jemand erledigen würde. Ihre Stimme bekommt ein Echo aus den abgekühlten Felswänden der Nacht. Es ist ein einsamer Schrei, ein verzweifelter Schrei und es ist die Täterin, die hier nach Hilfe schreit. Emma muss es selbst erledigen, aber Johnny (my Johnny) hat die Schnur durchtrennt. Gemeinsam reiten Johnny und Vienna durch die Nebelschwaden der Kinonacht. Sie verstecken sich. Why did you come back?-First chance I ever could have been a hero.

Jetzt zeigt Ray wie man einen Raum filmisch dynamisiert. Zuerst glauben wir, dass sich Vienna und Johnny in einem kleinen, engen Versteck befinden. Eine nahe Kameraposition, links und rechts ist geschlossen, keine Bildtiefe. Dann plötzlich ein Schnitt, ein Schwenk, wir befinden uns in einem ganzen unterirdischen System, Gänge verlaufen dort und dort hängt auch Wäsche. Vienna rennt zur Wäsche und von oben bricht plötzlich ein brennendes Stück in das Versteck. Viennas Kleid fängt Feuer und während am unteren Bildrand die Flammen tanzen, löscht Johnny die Flammen in einer Hysterie, die jetzt keine Sicherheit mehr zulässt. In ihr besteht die unter all der Gewalt treibende Eifersucht und während sich Vienna endlich in ihr Rot kleidet (ihr Rot, weil ihre Lippen danach lechzen seit sie zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint), gesteht sie Johnny in ihrer typischen Art ihre Liebe. Ray trennt die beiden Protagonisten räumlich in diesem Dialog, aber als sie in das Bild kommt, gibt es diese Sekunde einer Sicherheit, die Johnny und die Liebe leben lässt. Am Ende der Nacht fliehen die zwei Liebenden durch die Müdigkeit des Tageslichts. Sie schwimmen (lächeln) und rennen durch den Wasserfall. Es ist erstaunlich wie schnell und explosiv Ray seinen Rhythmus variieren kann, ohne dabei die Seele seines Films zu verletzen. Das liegt unter anderem daran, dass die Seele von Johnny Guitar in der puren Bewegung liegt. Johnny und Vienna kommen an der Silbermine an. „All dressed up and looking mighty dangerous“, ein Dialogfetzen aus dem Film, der auch als Beschreibung desselben herhalten würde. Nochmal ein eifersüchtiges Abtasten zwischen Dancin‘ Kid und Johnny Logan, Logan ist der Name, wie auch der schluckende Tänzer feststellen muss. Es ist beachtlich, dass wir hier einen Westernhelden haben, der tatsächlich mehr mit Gene Kelly als mit John Wayne zu tun hat. Vielleicht kann er deshalb auch nicht der wirkliche Held sein, aber manches an ihm könnte. Er dreht sich, ein Kampf mit Johnny, sie umkreisen sich. Die unbeholfene Rauheit eines herzensguten Mannes gegen die elegante Angst eines undurchschaubaren Mannes. In der Zwischenzeit finden die Verfolger mit Hilfe des Pferdes von Turkey das Versteck. Sie schreien durch das Echo der Bergwand, sie würden nur reden wollen.

Schließlich entfesselt sich die Hässlichkeit eines morallosen Überlebenskampfes im durstigen Staub über den charakteristischen Hügeln des Genres. Emma entlädt ihre Frustration auf das Glas hinter Vienna. Sie darf noch nicht treffen, denn die Angst muss jederzeit greifbar sein hier. Emma wird treffen, sie wird getroffen, sie fällt. Wheter you go, wheter you stay, I love you. Am Ende sehen Johnny und Vienna so aus als würden sie am liebsten diese Welt verlassen: There was never a man like my Johnny, like the one they call Johnny Guitar.

Bei einem solchen Film stellt sich durchaus die Frage, ob man mehr den Mythos darum liebt als den Film selbst. Es ist Johnny Guitar, das bedeutet auch die Liebe von Jean-Luc Godard, João Bénard da Costa oder Jeanne Balibar. Lange Zeit hatte ich den Film nicht gesehen und war mit den Worten und der Musik dieser Vermittler und Künstler alleine geblieben, in ihrer euphorischen Zuneigung hat sich auch bei mir das Bewusstsein jenes Films weiterentwickelt. Jedoch konnte mich tatsächlich nichts auf die tatsächliche Begegnung mit jener Bewegung vorbereiten. Johnny Guitar ist ein Film über den man gerade deshalb ins Schwärmen gerät, weil man immer wieder von seiner Präsenz überrannt wird, eine Präsenz, die in einer Liebe aufgeht, für die es keine Worte gibt. Vielleicht ist es die Titelmelodie, die wie ein Echo die Bilder jagt und von jener Ebene erzählt, die nicht nur zwischen den Figuren stattfindet sondern schließlich auch zwischen dem Film und dem Zuseher und dadurch am ehesten jenem Gefühl Ausdruck verleihen kann, das so viel Schönheit in sich trägt. Ein Film, in dem sich alles dreht.