Am Kino arbeiten

An der Wiedergeburt des Kinos arbeiten, das Kino töten, ans Kino glauben, das Kino feiern, sich im Kino verlieren, das Kino bezweifeln, das Kino in Erinnerung rufen, vergeblich auf das Kino warten, im Kino baden, vom Kino träumen, sich nach dem Kino sehnen, durch das Kino bewegt, vom Kino enttäuscht werden und aufgefangen im Licht; dem Kino vertrauen, mit dem Kino hinfort, hinaus, ins Weite, sich selbst im Kino finden, allein im Kino sein, mit dem Kino sein, sich im Kino verlieben, sich ins Kino verlieben, dem Kino nachtrauern, das Kino beschwören, das Kino verteidigen, es versuchen zu fassen, zu greifen, loszulassen. Das Kino suchen, es hören, im Kino erwachsen werden, im Kino zum Kind werden, im Kino aufspringen, Tränen vergießen, laut auflachen, im Kino sich über die Sitze beschweren, das laute Husten, eine Hand in seiner zu spüren, zu wissen, dass jemand da ist im Kino, dass man allein sein kann im Kino, dass man nie allein sein wird im Kino.

Kino sehen. Immer. Weil das Kino wichtig ist für unser Sein, unser Zusammenleben und unser Gedächtnis. Weil die Welt ein reicherer Ort ist mit dem Kino. Und dann schreiben. Weil das Kino ein reicherer Ort ist, wenn darüber geschrieben wird.

Jugend ohne Film ist zurück. In leicht veränderter Form. Zum einen werden wir von nun an alle vier Monate ein zweisprachiges Print- und Onlinejournal herausgeben, das zu einem bestimmten Thema Texte unserer und auch eingeladener Autoren versammelt. Der Blog läuft nebenbei weiter, wobei sich der Fokus dort mehr auf Aktualitäten verschieben wird: Festivals, Bücher, Kinostarts und so weiter. Außerdem starten wir ein neues Blogprojekt. Dort werden wir uns mit der Zeitschrift Filmkritik befassen und uns diesem essentiellen Teil deutscher Filmgeschichte aus Sicht von Lesenden zuwenden. Schließlich versammeln wir unter unseren Fundstücken Zitate und Bilder und alles, was einem bei den Streifzügen durch die Welt des Kinos zufällt, ohne dass daraus gleich etwas größeres entstehen kann.

Wir sind der Auffassung, dass sich das lohnt.

Kossakovsky-Retro: Kossakovsky sehen

Meta

Wir schreiben hier auf dem Blog sehr oft über Filme und bemühen uns dabei einen möglichst „puren“ Zugang zu wahren. Das heißt weniger theoretisieren als beobachten, weniger Produktionskontexte referieren, als den Film selbst sprechen zu lassen. Oft geht es auch darum, zu beschreiben was ein bestimmter Film, eine bestimmte Szene, mit uns als Betrachter macht. Das sind subjektive Beobachtungen, denn schließlich können wir nicht sicherstellen, dass ein Film jeden Zuseher gleich anspricht (im doppelten Wortsinn). Ich denke, es ist sehr deutlich, dass es uns in unseren Besprechungen und Essays eher um die Beschreibung eines möglichen subjektiven Zugangs geht, als um Publikumsforschung und doch bleibt bei einer solchen Herangehensweise etwas auf der Strecke: das Kino als Ort der Massen. Das Kino als Ort, nicht bloß der solitären Rezeption, sondern des gemeinschaftlichen Erlebnis.

Meta

© Daniel Bogan/Flickr

Zu Beginn der Retrospektive zu Victor Kossakovsky auf Doc Alliance trafen wir uns zu viert zu einem Filmeabend, um uns dem Regisseur gemeinsam anzunähern. Für drei von uns war Kossakovsky überhaupt Neuland, einzig Patrick hatte schon zuvor zwei seiner Filme gesehen. Wir einigten uns mit Svyato zu beginnen (Patricks Besprechung dazu hier), ohne wirklich zu wissen was auf uns zukommt – um Kossakovskys Sohn sollte es gehen, eine persönliche Geschichte also.

Der Film beginnt abstrakt, mit einem Textzitat, einigen langen Einstellungen und etwas Musik. Schließlich das Bild eines spielenden Kindes in einem Korridor, nach einer Zeit beginnt die Kamera langsam wegzuzoomen. Plötzlich, ein Rahmen! Das Kind wurde über einen Spiegel gefilmt. Ein echter Schockmoment, mir fällt die Kinnlade herunter, den anderen, so stellte sich später im Gespräch heraus, ging es ähnlich. Eine halbe Stunde später ist der Film zu Ende, man schenkt sich ein Glas Wein ein, lässt den Film etwas auf sich wirken oder macht sich sogleich daran zu diskutieren. Während ich mir also noch ein Glas Wein einschenke, unterhalten sich Patrick und Andrey schon angeregt über den Einsatz von Musik und die Bedeutung bestimmter Szenen und Sequenzen (was haben diese verträumten, poetischen Passagen am Teich mit dem Kind im Spiegel zu tun?). Die beiden kommen langsam zu einem Ende, wir wollen mit Pavel i Lyala fortsetzen, ich habe bis dahin nicht mitdiskutiert, denn ein Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf: Kossakovskys lange Einstellung des spielenden Kinds, das er über den Spiegel aufnimmt, wird irgendwann von einer anderen Kameraperspektive abgelöst, die scheinbar frontal in den Korridor filmt – die Einrichtungsgegenstände sind allerdings in dieser Einstellung nicht spiegelverkehrt – der Gang sieht aus, wie zuvor in der Spiegeleinstellung.

Ich teile meine Beobachtung, und wir alle sind zunächst ratlos. In einer ad-hoc Filmanalyse sehen wir uns die betreffenden Stellen noch einmal an. Sind da Schnitte? Wechselt er die Linse? Macht das überhaupt einen Unterschied? Aus der ad-hoc Analyse wird eine ad-hoc Recherche: das Internet wird befragt, wie dieser Film gemacht worden ist, ob das irgendjemand anderem auch aufgefallen ist. Wir kommen nicht voran, immer weiter versuchen wir den Raum dieses Films nachzuvollziehen und immer weiter verknoten sich unsere Gedankengänge. An Pavel i Lyala denkt nun keiner mehr, zu wissensdurstig sind wir. Wie lang dauerten die Diskussionen? Zehn Minuten vielleicht, wir kommen noch immer nicht weiter, ich resigniere, Andrey resigniert, Patrick kann nicht loslassen. Ein letzter Versuch: Youtube! Dort findet sich eine Masterclass von Kossakovsky aus dem Jahr 2012. Das Video dauert fast zwei Stunden aber Patrick lässt sich von unseren Protesten nicht abhalten. Aus wenigen Ausschnitten schließt er, dass das Gespräch chronologisch vorgeht und findet tatsächlich die Stelle, wo Svyato besprochen wird. Der Moderator stellt die „richtigen“ Fragen. Es wird spannend für uns. Und tatsächlich, die Auflösung: drei HD-Kameras, vier Spiegel. Wir sind baff. Wir geben uns geschlagen. Das hätten wir aus den Bildern selbst nie herausfinden können. Aber wir sind auch zufrieden, in nur wenigen Minuten haben wir eine Antwort gefunden, wenngleich das Rätsel dadurch nicht gelöst ist, denn wie Kossakovsky nun genau gearbeitet, seine Kameras und Spiegel positioniert hat, lässt sich nicht erschließen – das muss man aber auch gar nicht, das kann man vielleicht gar nicht, darum geht es nicht. Es geht vielmehr um das Verblüffen, die Multiplikation von Aha-Effekten. Die Vielschichtigkeit, die Rezeptionsebene, den Austausch, die Auflösung. Cinephilie ist nicht nur Filme zu schauen, sondern auch Filme zu befragen. Nicht nur das fertige Produkt zu betrachten, sondern auch die Arbeit die dahinter steckt. Nicht nur Svyato, sondern auch Kossakovsky zu sehen.