Bis bald und liebe Grüße – Gedanken zu zwei filmischen Postkarten (50 Jahre Berlinale Forum)

Private Nachrichten, wie etwa Briefe, Postkarten oder E-Mails finden sich im Film permanent wieder. Sie sind ein etabliertes Verkehrsmittel der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Orten. Handlungen, die zuerst in keiner Kausalität zu einander stehen, werden durch das bloße Erscheinen einiger geschriebener Worte verknüpft. Sobald die Nachricht eine Hand verlässt, ist sie unwiderruflich. Der Nächsten ausgehändigt, sind die Folgen unvermeidlich. Ihr Austausch erscheint im Film als geradezu totalitär. War ich noch zu Beginn überzeugt davon, der Film würde sich scheuen, die Intimität eines Briefes verletzen, fiel mir nach längerem Nachdenken hingegen auf, die Liste an Beispielen von geschriebenen, verlorenen, vorgelesenen, verbrannten oder auch gestohlenen Nachrichten ist schier unendlich. Auch wenn der Brief scheinbar untrennbar zum Film gehört, birgt sein Vorschein dennoch eine gewisse Scham. So ist er nicht lediglich ein faszinierender Fetisch des Films, der Rätselhaftes oder Geheimnisvolles verschleiert. Sondern: Die Allgegenwart und Eigentümlichkeit des Briefes im Film veranschaulicht geradezu die Form des Films im einer Sinne der allgemeinen Produktion von Bedeutung. Betrachtet man den Film selbst als eine Art des Briefes, lässt sich verstehen, wie seine Produktion und Konsumtion wechselseitig auf einander bezogen sind. Inhaltliche Bedeutung als etwas vermeintlich grundsätzliches erscheint auf einmal gläsern.

Gemeinsam mit 21 ausgewählten Filmen aus den vergangenen 50 Jahren des Berlinale Forums erschienen 2020 kurze, filmische Grußbotschaften, die sich wohl als Postkarten-Filme bezeichnen ließen. Nicolas Wackerbarths Beitrag ist ein solcher in besonderer Weise. Dabei war der Absender der Nachricht garnicht Wackerbarth selbst, sondern Gerhard Friedl, der 2009 viel zu früh starb. Nach einer Diskussionsveranstaltung von Revolver am 15. Juni 2006 wandte sich Wackerbarth an Friedl, welcher mit einer längeren E-Mail antwortete, in der er die Idee eines „Operativen Films“ entfaltete. Schnörkellos spricht Wackerbarth diesen Text über den fast beiläufig wirkenden Videomitschnitt eines Wrestling-Kampfes. Erst mit der Filmform, in die Wackerbarth die Worte Friedls überführt, scheint die Botschaft ihre eigentümliche Aussagekraft anzunehmen.

Gerhard Friedls Worte klingen dabei seltsam präsent. Es sind nicht die eines Verstorbenen aus einer vergessenen Zeit. Wohl eher meint man, der Film spräche mit sich selbst. Die hervorgebrachten Argumente sind dicht und präzise zugleich. Es handelt sich nicht nur um eine Erinnerung, wie es am Ende heißt, sondern um einen Gedanken, der hier für einen Moment greifbar wird. Wackerbarth macht sozusagen die Worte Friedls selbst operativ. Das heißt, er verwendet sie so, dass die Herstellung ihrer Bedeutung im zerrütteten Wechselverhältnis von Sicht- und Hörbarem des Filmes erfahrbar wird. Gerade dann, wenn Friedl abschließend festhält: „Ich denke, wir brauchen ein produktives Publikum; daran könnten wir unsere Produktion ausrichten“. Der Kampf dient nicht einfach als Illustration, er ist die Reflexion des Gesprochenen. Eine Lücke verbleibt, die sich nur spekulativ schließen lässt. Diesen Film jedes Mal von Neuem zu sehen, heißt jedes Mal von Neuem vor dem Rätsel zu stehen, das sich nicht durch blinde Logik, aber durch Erfahrung und Formdenken entschlüsselt. Die kryptische Bezeichnung eines „produktiven Publikums“, die wohl indirekt auf Karl Marx’ Einleitung zu den Grundrissen verweist, ließe sich so verstehen, dass Friedl ein begreifendes Publikum einfordert. Es soll begreifen, wie die filmische Konsumtion, Bedeutung als Inhalt mittels der Form des Filmes produziert. Die Einsicht, das Publikum ist somit Mittel und Zweck des Filmes gleichermaßen, mag banal klingen, zeichnet aber die spezifische Weise des Films als eine denkende Form aus. Nicht der Film denkt, sondern die, die ihn produzieren und konsumieren.

Ein zweiter Postkartenfilm sollte jedoch nicht vergessen werden. Ruth Beckermanns Botschaft ist ebenso wie Wackerbarths Film ein Gruß in doppelter Hinsicht. Auch sie bedient sich der Worte eines Anderen – Paul Celan. Auf einer pittoresken Postkarte hielt Beckermann einen Abschnitt des Prosastückes Gespräch im Gebirg fest, den sie im Film sogleich vorliest. Es ist aus einer Rede Celans bekannt, dass dieser Text im Zusammenhang eines verpassten Treffens mit Theodor W. Adorno 1959 in der Schweiz steht. In Beckermanns sanfter Stimme verliert sich die Formstrenge, die Celan in seinen Gedichten, beeinflusst von Hölderlin, verankerte. Fast schon spielerisch oder verträumt reihen sich die Worte bei ihr aneinander. Beckermann bezeichnet diesen Abschnitt als den „schönsten Text über Film“ den sie kenne und immer bei sich habe. „Halb Bild und halb Schleier“ – Wohl kaum anders ließe sich diese rätselhafte Allegorie verstehen, als wäre sie nicht verborgen dem Film gewidmet. Gewissermaßen lässt sich in den Worten Celans eine lyrische Kehrseite von Gerhard Friedls formuliertem Gedanken wiedererkennen. Der Gedanke entblößt sich wie ein geteiltes, unausgesprochenes Geheimnis – eine Chiffre – ein säkularisierter Mythos.

Nicolas Wackerbarth for #Forum50 from Berlinale Forum on Vimeo.

Ruth Beckermann für #Forum50 from Berlinale Forum on Vimeo.

Beim Vermessen muss es auch Verluste geben

Das Filmmaterial verglüht hier und dort, schwarze Laufschrammen durchziehen die Landschaft und ebenso die Leinwand. Furcht und Hass, die gibt es doch vor jeder Revolution. Wer hat diese Kamera getragen? Und wen hat diese Kamera getragen? Der Alkohol. Die Kamera. Die Musik ist nach einer Stunde auch nicht fern, während die Kellnerin einen misstrauischen Blick an den Bildrand wirft. „I simply want you to forgive me.“ Um Liebe ist es hier aber immer noch nicht gegangen. Dann werden die Gitarren auch schon ungeduldig beiseite gelegt.

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Das Fadenkreuz schließt unerbittlich aus. Die Möwe klingt fehl am Platz während der Landvermesser bei der Arbeit ist. Und die Schüsse peitschen das Gras. Dann endlich ein volles Bild, ein Flackern und Sonnendurchfluten. Der Reiter ist hinter ihnen her. Das Klavier tönt blechern, während die anderen sich noch absprechen und Staub aufwirbeln in und mit ihrem Verschwinden. „Where to go, Major?“ Beim Vermessen von Allem muss es auch Verluste geben. „I think they will hang somebody.“ But you are not a good business man if you are wasting so much rope for a hanging, are you?

Amerikai anzix / American Torso von Gábor Bódy zeigt uns das Schicksal einer Gruppe von im Exil lebenden ungarischen Revolutionären im Jahr 1848 und folgt ihnen in den amerikanischen Bürgerkrieg. Hauptfigur ist ein Landvermesser, ein Freiheitskämpfer, ein wahrer Kriegstechniker. Die Beobachtung der Landschaft verbindet sich hier mit der Beobachtung seitens der Filmkamera. Der Film sieht und registriert also den ablaufenden Krieg vom Standpunkt des Landvermessers. Wird der Standpunkt der Kamera zu dem des Publikums? Denn ein Publikum wird es auch in mehrfacher Ausgabe geben. Jenes im Hier und jetzt vor der Leinwand sitzend, und jenes während der Filmaufnahmen. Beide sind eine Ansicht des Technikers, methodisch und aus geringem Abstand aufgenommen. Das Material im Hier und Jetzt ist schon etwas lädiert, die einzelnen Frames gefrieren, zarte Risse bilden eingedrückte Rahmen, gestrichelt und nervös. So mutiert die noch fehlende Karte des Landvermessers zur zukünftigen Leinwand. Ein Kameraflusen hier oder ein einzelnes Haar dort wird sich da nicht vermeiden lassen. Und in unregelmäßigen Abständen bekommen wir also Überbelichtungen und wildes Flackern vorgestellt; ovale Masken mit weichen Kanten waren recht populär im 19. Jahrhundert und wurden ebenso begeistert in der Fotografie verwendet. Ist dies nun ein Historienfilm? Zu sehen gibt es hier nicht viel, denn wir sind eingesperrt und auch gefangen im Blick des Vermessers: Ein Blick auf das Schlachtfeld wandelt sich zu einer geduldigen Kamerafahrt über ein Lazarett. Und zu der großen Frage der Zeit, der Freundschaft und des Krieges.

„Wenn diese Vermittelung, die man wohl kaum im Ernst unternommen hat, fehlschlägt, dann werden die Schlachten zwischen napoleonischer Tyrannei und Habsburger Despotismus am Mincio, aber die Schlachten der Freiheit an der Oder und Weichsel geschlagen werden. Schon sind ungeheure Truppenmassen in Kalisch, zwei Meilen von der preußischen Grenze, konzentriert. Ein preußisches Armeekorps ist für den Durchmarsch zum Rhein in Hannover angekündigt, ein anderes bewegt sich nach Süden, und die Kommandeurs der verschiedenen Bundeskorps sind zu einer Militärkonferenz nach Berlin beschieden worden. Alle diese Maßregeln beziehen sich nur auf die Mobilisierung der Avantgarde. Die Armee, welche den Kampf gegen Frankreich und Russland ausfechten muß, existiert noch nicht und kann nur aus dem Volke rekrutiert werden, nicht aus dem Volke, das die teutschen Gedichte des teutschen Ludwig deklamiert, sondern aus dem Volke, das sich mit der ganzen, vernichtenden Energie revolutionärer Begeisterung erhebt. Gelingt es nicht, diese Begeisterung zu wecken, dann beruhen die hohenzollernsche Mobilisierung, bewaffnete Vermittelung, Kriegserklärung, Kriegsführung usw. auf der kindlichen Berechnung des Negers der Goldküste, der seinem Gegner einen tödlichen Schlag zu versetzen glaubt, wenn er dahin gelangt, sich selbst an den Torpfosten seines Feindes aufzuhängen.“ Karl Marx in „Das Volk“ Nr. 8 vom 25. Juni 1859 / Spree und Mincio

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Bis wann trage ich Schmerz in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen Tag um Tag? Bis wann erhebt sich mein Feind über mich? Davidpsalme, Psalm 13, „Klagelieder eines Einzelnen“

Des nachts quaken ein paar Frösche und die Grillen scheinen für diese Landschaft zu laut. Und der Verwundete schaut in den Nachthimmel während er den Mond betrachtet und die Verletzlichkeit anderer Menschen beschreibt. Auf den Mond zu deuten, nein, das wagt er hier nicht. Die Vergewaltigung der Frau kurz davor erscheint beiläufig,doch der Mond ist dann immer noch da. Und der Spaziergang durch den Wald wird nichts erläutern oder auch nur ansatzweise erklären. So ist das nun mal, im Krieg und während des Vermessens. Wir machen uns auf den Weg in neues Land. Gut, dass jemand die Kamera dabei hatte. Eine überdimensionierte Schaukel, montiert im Wald. Harper und Kowalski haben sie dort montiert, das Publikum ist erfreut am Hin und Her. Der Himmel schwankt, und die Erde schrammt an ihm vorbei, an seinen Stiefeln. Das Gebrüll der Pferde durchdringt seine Ohren. Ein Auf und Ab. Das schwere Holz unter seinen Füssen, übel kann einem da werden. Die berückende Geschwindigkeit kann einen auch umbringen. Verrät denn diese Schaukel, wer du bist? Im Krieg? Das Filmmaterial ist hier für kurze Zeit zerfressen. Doch der Weg wurde noch nicht beendet.