Kossakovsky-Retro: Losev

Den letzten Atem filmen in einem Moment, in dem keiner hinsieht. Die letzten Blicke und die letzten Gedanken festhalten. Dann zum filmischen Ritual erheben, was nicht vergehen darf, jemanden wiederbeleben, wie Carl Theodor Dreyer, in erhabener Stille, ihn weiter leben lassen. Intimität und Gott sein, nicht Gott spielen, nein Kossakovsky will Gott sein und er will auf keinen Fall Gott sein. Es ist sein erster Film. Er beginnt mit einer langen und fiebrigen Blende und der aufgehenden Sonne. Diese Sonne beleuchtet aber einen Friedhof. Es ist die Geburt eines Todes und der Tod einer Geburt. Man erkennt nichts und alles und immer wieder neu. Als würde mit Kossakovsky das Licht neu geboren werden. Es ist nicht gerade Bescheidenheit, die den Filmemacher auszeichnet. Der letzte Atem und das erste Licht gehen schließlich einen Weg unter die Erde, der an etwas glaubt, das größer ist als das Irdische.

Hier kommen wir zu Punkt 9, der von Kossakovsky aufgestellten Regeln für Dokumentarfilmer: “Documentary is the only art, where every esthetical element almost always has ethical aspects and every ethical aspect can be used esthetically. Try to remain human, especially whilst editing your films. Maybe, nice people should not make documentaries.” In Losev besucht Kossakovsky seinen Mentor, den Philosophen Alexey Fedorovich Losev am Sterbebett und begleitet ihn gewissermaßen in den Tod. Dabei vermag Kossakovsky immer wieder äußert, nennen wir sie „heilige“ Momente einzufangen, Augenblicke, in denen die Stille und die Erhabenheit eine Anwesenheit der Kamera eigentlich untersagen. Nun vermag Kossakovsky durch seine gewählte Position, durch seinen Abstand, durch seine Montage und Musik allerdings filmisch etwas „Heiliges“ hinzugeben statt das „Heilige“ der Realität zu entweihen. Ein gutes Beispiel findet sich in der langen Totenwache. Es ist nicht nur derart, dass man den ganzen Raum zittern spürt, sondern auch so, dass man ein Gefühl für die Ewigkeit bekommt. Die Ethik untersagt es Kossakovsky nicht zu filmen, sondern lässt ihn ästhetische Entscheidungen treffen. Ganz ähnliches konnten wir in Pavel i Lyalya sehen als die Kamera von der weinenden Lyalya abwich und über das Schattenspiel einer sommerlichen Wand hinweg schwenkte. Die Fragen sind immer: Wann macht man die Kamera an? Wie macht man die Kamera an? Wo macht man die Kamera an? Weshalb macht man die Kamera an? Dabei geht es eben nicht nur um diese dokumentarische Angst vor dem Verpassen eines entscheidenden Augenblicks, sondern auch und vermehrt um die Frage, wann und wie ein Augenblick besser unberührt bleiben sollte. Das ist nicht nur eine ethische Frage im Bezug zur Realität, sie stellt sich tatsächlich dem Film. Denn wenn eine ethische Grenze überschritten wird, dann ist auch die ästhetische Wirkung verändert und in den meisten Fällen zum Schlechten. Wir sprechen dann von billiger Sensationsgier oder ähnlichem.

Losev ist auch ein Film über die letzten Gedanken, die bleibenden Gedanken eines Mannes. Er stellt die Frage wie ein Lebenswerk im Tod aussieht und wie sich menschliche Ängste mit der eigenen Philosophie vertragen im Angesicht des eigenen Endes. Losev ist fasziniert von der Vorstellung, dass man wissenschaftlich nicht in der Lage ist das Eintreffen eines Todes vorherzusagen. Daher muss es so etwas wie Schicksal geben. Der Tod trifft für ihn ähnlich ein wie für Kossakovsky der Film. Zum einen stellt sein Werk immer wieder die Frage wie der Blick der Kamera sich im Augenblick seines Vollzugs mit dem Wissen und den vorgefertigten Ideen und Konzepten verträgt und zu anderen ist das Eintreffen einer Emotion, eines Films, eines Ausbruchs keine Sache der Planung. Es ist eine Sache der Reaktion, des Zufalls und des Schicksals. Kossakovsky zielt mit seinen Filmen in einen Himmel, den er nicht kennt. In Losev beginnt er mit seiner Suche und er beginnt am Ende der Zeit und er stellt fest: Es gibt kein Ende der Zeit. Zumindest keines, das man filmen könnte.

Kossakovsky-Retro: ¡Vivan las Antipodas!

Vivan las Antipodas Kossakovsky

Leider ist ¡Vivan las Antipodas! bei der der noch bis 1. Februar laufende Kossakovsky-Retrospektive auf Doc Alliance weder in Deutschland noch in Österreich verfügbar. Jedoch wollten wir auf keinen Fall auf eine Besprechung des außergewöhnlichen Films verzichten.

In seinem bis dato letzten Film ¡Vivan las Antipodas! hat Victor Kossakovsky gleichzeitig jegliche Banalität aus seinem Ansatz verdrängt und sie dennoch in Form einer so kindlichen wie wundervollen Faszination bestehen lassen. Der Film blickt auf insgesamt vier Ortspärchen, die sich auf gegenüberliegenden Seiten unseres Planeten befinden, die sogenannten Antipoden. Es ist eine ganz einfache Frage, die man sich trotzdem kaum stellt. Wie leben die Menschen wohl auf der exakt gegenüberliegenden Seite der Erde, wenn man einfach durch sie hindurch fahren würde? So dreht sich die Kamera und windet sich in Splitscreen-Aufnahmen, die man in dieser Form noch nie gesehen hat. Plötzlich steht alles auf dem Kopf. Im Film ist es nur ein Schnitt, um einmal um die Welt zu reisen. Und ¡Vivan las Antipodas! gibt uns das Gefühl, dass man auch nicht mehr braucht bei all den Schönheiten und untereinander und übereinander verlaufenden Existenzen, die sich doch immer wieder berühren. Kossakovsky dokumentiert damit auch eine Reise um die Welt, aber vor allem einen poetischen Blick nach Formen, Farben und Rhythmen, die erstaunliche Analogien entstehen lassen und den Betrachter in eine Stimmung der Zufriedenheit und Ruhe versetzen. Wenn das die Welt ist, dann lebe ich gerne hier. Es ist schon eine spannende Frage, die sich der Regisseur auch in dem ebenfalls in der Retrospektive (ebenfalls leider nicht in Österreich oder Deutschland) zu sehenden Where the Condors Fly von Carlos Klein stellt: Warum beruhigt einen der Gedanke, dass etwas auf der anderen Seite der Erde just im selben Moment passiert, der Gedanke, dass dort die Sonne aufgeht, wenn ich mich schlafen lege, dass dort jemand ganz ähnliche Sorgen hat?

Vivan las Antipodas Kossakovsky

So sehen wir zwei merkwürdig inszenierte Argentinier in Entre Rios im Nichts. Sie thematisieren ein wenig den Film selbst und das kommt durchaus überraschend bei einem Regisseur, der so stark an die Macht von Bildern jenseits der Erzählung glaubt. Ihr Dahinleben ist von einem milden Zynismus geprägt, sie denken darüber nach, was es in der großen Welt, die ihnen verborgen bleibt, so gibt. Ihre Antipode ist Shanghai. Bei diesen beiden Orten arbeitet Kossakovsky noch eher mit Gegenätzen als mit Parallelen. Hier wird eine vom (künstlich hergestellten) Smog vernebelte Rush Hour in China mit der Leere der argentinischen Wüste kombiniert. Anders sieht es da bei den Antipoden Spanien und Neuseeland aus. Hier montiert Kossakovsky sozusagen als Höhepunkt des Films eine unfassbare Ähnlichkeit zwischen einem gestrandeten Wal in Neuseeland und einer genauso aussehenden Felsformation in Spanien. Bei solchen Wundern geht es weniger um die Wunder der Natur, als um die Wunder des Sehens. Kossakovsky selbst betrachtet den Film nicht als eine dokumentarische Auseinandersetzung mit der Wahrheit seiner Protagonisten und Orte, sondern als etwas Spirituelles, Größeres. Der entsprechende Gestus von Größe ist von der ersten Einstellung spürbar. Der Film ist voller Kranfahrten, extravaganten Kamerabewegungen und Beauty-Shots. ¡Vivan las Antipodas! sieht eigentlich zu gut aus. Man hat die Erde anders kennengelernt. Man kann nicht anders, als die Lüge des Films sofort zu durchschauen. In der angesprochenen Dokumentation von Carlos Klein, die den Regisseur bei den Dreharbeiten begleitet, sieht man wie er jedes Detail mit inszeniert und wie viele Szenen in einer Art manipuliert werden, die die Faszination an den Antipoden erst richtig möglich macht. Aber dann gibt es da auch dieses unheimliche Auge für die Ähnlichkeit vulkanischer Gesteine auf Hawaii und der Haut von Elefanten in Botswana, die einsamen Existenzen in Chile und am Baikalsee. Es entfaltet sich ein gewaltiger Sog, der sich, wie immer bei Kossakovsky, direkt auf die eigene Wahrnehmung der Welt überträgt.

Vivan las Antipodas Kossakovsky

Alles ist bedeutender und größer hier. Die Musik ist ein symphonisches Meer. Sie betont und verschleiert das ewige Spiel aus Gegensätzen und Reimen, aus Ideen und Schönheiten. Besonders beeindruckend dabei ist wie hoch die Konzentration auf das Bild ist trotz all dieser Stilisierung. Damit meine ich, dass Kossakovsky es immer wieder schafft, ein Gefühl für die Individuen und Objekte zu finden, das sich auch jenseits ihrer Antipoden entfaltet. Hervorstechend dabei ist die enigmatische Gestalt in Chile, die verkrampft und doch entspannt mit schwarzer Sonnenbrille vor ihrem Backofen wartet und ein Dutzend strolchender Katzen mit einem Messer verscheucht. Auch ein Chorgesang in Russland, eine fliegende Kamerafahrt durch die engen Gassen eines chinesischen Markts, ein einsamer Hund auf einem Stein im Lavameer auf Hawaii, der Versuch, den gestrandeten Wal zu zersägen oder der majestätische Flug eines Vogels sind kinematographische Ereignisse, die Ihresgleichen suchen.

Irgendwann verschwinden die Bedeutung von oben und unten und damit auch jene der Grenzen. Es ist ein verführerischer Gedanke, der hier zum Vorschein kommt. Es geht um die Verabsolutierung der Welt durch eine visuelle Wahrnehmung und in diesem Sinn unterliegt dem Film eine existentialistische Identitätslogik, die so fest an die Kunst des Films glaubt, dass sich die Widersprüche der Realität darin auflösen. Denn der Gedanke, dass man alles Leben in einer Metamorphose zu einer größeren Wahrheit vereinen könnte, ist eine dialektische Lüge. Dennoch funktioniert sie für die Dauer eines Films. Denn Film ist eine Illusion. Wenn es die zwei Pole Wahrheit und Illusion gibt im Film, dann ist Kossakovsky mit ¡Vivan las Antipodas! klar auf die andere Seite gekippt, auf die Antipode der Wahrheit, die (zumindest seiner eigenen poetischen Logik nach) sehr viel mit der Wahrheit selbst zu tun hat. Im Angesicht dieser Perfektion und atemberaubenden Schönheit muss man ihm glauben.

Kossakovsky-Retro: Caught My Own Reflection: Svyato

Svyato Kossakovsky

Man kann von zwei Dingen ausgehen in der Betrachtung des verstörenden Films Svyato von Victor Kossakovsky, den es bei der noch bis zum 1. Februar laufenden Retrospektive auf Doc Alliance zu sehen gibt. Zum einen davon, dass die Anwesenheit oder der Glaube an unsichtbare Kräfte und Welten eine besondere Aufmerksamkeit generiert, die uns in Zustände der Angst, der Liebe und des fantastischen Staunens versetzt. Der andere Gedanke ist jener der filmischen Antizipation und ihrer Wirklichkeit, die so gar nichts mit der Aufmerksamkeit zu tun haben, aber doch völlig abhängig von ihr sind. In Svyato filmt der Regisseur seinen Sohn, als dieser sich zum ersten Mal in einem Spiegelbild sieht. Seit dessen Geburt hatte der Filmemacher sämtliche Reflektionen vor dem 2jährigen versteckt. In einer speziellen Vorrichtung mit vier Spiegeln (von denen man als Zuseher nur einen wahrnimmt, was uns nach der gemeinsamen Sichtung in nervöse Rage versetzt hat) und drei Kameras folgt der Regisseur jenen ersten Begegnungen zweier Welten, nämlich jener Welt des Ichs und der Spiegelwelten. Nun sind die psychoanalytischen Konnotationen kaum zu übersehen, aber Kossakovsky überlegt sie mit einem fantastisch-magischen Schleier, den man als subjektive Wahrnehmung seines Sohnes oder auch als Spleen für Antipoden im Werk des Regisseurs auffassen kann. Der Junge spielt in einem Haus, hinter ihm ein weißer, im Wind tuschelnder Vorhang, hinter dessen Durchsichtigkeit sich der Schatten einer Pflanze abzeichnet. Neben ihm ein beständiger Zwerg mit blauen Augen und einer Laterne, unter ihm ein hellbrauner Parkettboden voller Spielzeug, seine Mutter ist aus dem Off zu hören, das Spielzeug singt, es ist friedlich und in, um und vor ihm sind Spiegel und diese Kameras, die mit seiner und unserer Wahrnehmung spielen. Die besondere Faszination für die Spiegelwelten offenbart sich nicht nur in der Wichtigkeit, die Kossakovsky diesem Augenblick im Leben seines Sohnes beimisst, sondern auch in der letzten Szene des Films, als eine Spiegelung in einem See ein Eigenleben beginnt.

Svyato Kossakovsky

Es ist wie eine Erinnerung an eine kindliche Faszination, an den Glauben, dass das was wir im Spiegel sehen, eine andere Welt ist. Darin liegt nicht nur eine Analogie zum Kino sondern zur Wahrnehmung an sich. Kossakovsky erinnert einen daran, wie abgestumpft man sieht. Der Junge schreit sein Spiegelbild an, er hämmert mit Spielzeug gegen die Fläche, er küsst es, er blickt unter dem Spiegel hindurch, er betrachtet sich/es stumm. Wann erkennt er sich selbst? Gleichzeitig werden wir als Zuseher, ob der Spiegel und Reflektionen verunsichert (und schließlich ist es ja auch ein Film). Wir müssen uns fragen, ob das was wir sehen eine Spiegelung ist oder nicht. In jenem Moment, in dem wir an das Neue, Eigene und Besondere in der Welt glauben, blicken wir genauer hin und in diesem Blick liegt die ganze Faszination des Lebens. Gehen wir von dieser Faszination an Gegenwelten aus, die ja nicht zuletzt auch in Kossakovskys ¡Vivan las Antipodas! eine entscheidende Rolle spielen, dann verstehen wir, dass der Blick auf die Welt einer ganz bestimmten Wahrnehmung unterliegt, ganz bestimmten Emotionen, Formen und Ideen, die sich in filmischer Sprache manifestieren können. So sehen wir, was wir alle kennen, aber nicht in unserem Bewusstsein tragen. Wir können staunen, lieben oder uns fürchten. Der Regisseur spricht selbst gerne von seiner Magnettheorie und meint damit eigentlich den Abstand zwischen Kamera und Protagonist. Dieser magnetische Grenzbereich, indem die Anziehung zwischen zwei Polen gerade so ist, dass sie spürbar wird, ist auch der aufmerksame Blick. Kossakovsky ermöglicht uns dieses Miterleben durch seine Freiheit der Antizipationen. Damit meine ich, dass er sich in einem bestimmten Versuchsfeld bewegt, das er selbst nicht vorhersehen kann. In allen seinen Filmen gibt es eine bestimmte Idee, eine Antizipation dessen, was passieren kann, und in jedem Fall wird diese von der tatsächlichen Handlung übertroffen. In seiner aufwendigen Konstruktion, dem Vorbereiten seines Sohnes auf diesen Tag und seiner Positionierung hat Kossakovsky einen Raum und eine Zeit für eine filmische Wahrnehmung geschaffen. Mit seiner Antizipation hat er nicht vorgefertigte Welten erschaffen oder sich auf Ideen versteift, sondern ein Umfeld geschaffen, indem man sich fokussieren kann, in dem die Aufmerksamkeit für den Blick, die Menschen und die Welt gewährleistet ist. Wenn es im Zeitalter der völligen visuellen Überflutung mehr als jemals zuvor darum geht, im Kino eine Konzentration zu schaffen, eine Neugier des Blicks zu provozieren, dann ist dieser Ansatz ein goldener Kelch des Filmemachens. In diesem Sinn baut er in Svyato einen Kinosaal im Kinosaal und ermöglicht uns so seine Welt und unseren Blick zu fühlen. Es beginnt ein Wechselspiel zwischen dem verspielten, magischen Glauben an eine Illusion und jenem Bruch mit ihr, der uns klar macht, dass wir blicken, der uns klar macht, was wir sind und der uns einsam zurücklässt bis wir wieder glauben.

Kossakovsky-Retro: Belovy

In den kommenden zwei Wochen begleiten wir mit Jugend ohne Film die Retrospektive einiger ausgewählter Arbeiten von Victor Kossakovsky auf Doc Alliance. Wir sind uns bewusst, dass wir die Werke so nicht in ihrem ursprünglichen Format und ihrer eigentlichen Wirkung betrachten können. Jedoch könnten wir sie sonst vermutlich gar nicht sehen. Beginnen wollen wir mit einem der bekanntesten Werke des russischen Filmemachers.

In The Belovs (Belovy, 1992) eröffnet sich das größtmögliche Drama aus der scheinbarsten Banalität. Es ist ein Krieg zwischen der Natur und der Struktur des Lebens, eine poetische Suche nach der Essenz des Menschlichen inmitten einer Leere, die jederzeit bedroht von einer Gewalt, zu zerbrechen droht. Kossakovsky filmt in lyrisch-dunstigen (fast bin ich geneigt zu schreiben „russischen“) schwarz-weiß Bildern eine Familie, die an der Quelle eines Flusses im ländlichen Russland lebt. Dort ist Anna Feodorovna Belova, eine zweifache Witwe, die aus jeder Pore ihrer Bewegungen einen Überlebenskampf gegen das eigene Leiden ausstrahlt. Sie pflegt die Tiere auf der Farm und singt und singt und singt. Dann lebt dort Michail Feodorovich, ihr Bruder, mit dem gemeinsam Anna weit abseits der restlichen Welt ihre Tage verbringt. Michail ist außer in der ersten Einstellung und kurzen Momenten des Friedens auf einem Traktor oder mit seinen Brüdern, meist schimpfend, leidend und klagend zu sehen. In dieser ersten Einstellung versteht er sich ausgerechnet mit seinem Hund beziehungsweise sein Hund versteht ihn. Aber mit Menschen versteht sich Michail nicht, er wirft um sich mit ideologischen, politischen und philosophisch-moralischen Vorwürfen, betrunken am Tisch, immer nahe an der totalen Erschöpfung, verletzt und verletzend. Selten hat man derart nahe die Abgründe der Intimität zweier Menschen erlebt. Ein Bruder beschwert sich darüber, dass immer alle schreien. Einmal bedroht Michail seine Schwester gar mit einer leeren Flasche, im Hintergrund sitzt schockiert ein Junge, den wir erst kurz zuvor wahrgenommen haben. Der Ton setzt aus und wir blicken in das Herz einer Feindlichkeit, die eigentlich unerklärlich ist und gerade dadurch fest verwurzelt scheint. Wenn es eine dramaturgische Struktur gibt, dann ist es jene der sich aufschaukelnden Gewalt, die durch den Besuch der beiden Brüder Vasily und Sergei einen katalytischen Effekt erfährt. Jedoch bricht Kossakovsky solche Klarheiten immer wieder und entfaltet somit ein Wechselspiel aus Frieden und Krieg. Ein Beispiel dafür wären die traumhaften, dampfenden Einstellungen eines gemeinsamen Saunabesuchs und eines Bads im Fluss.

The Belovs Kossakovsky

Die zahlreichen Tiere im Film bilden Analogien zu den Menschen heraus. Der Film verstärkt dies zum Beispiel durch Kamerafahrten, die über verschiedene Einstellungen fortgesetzt werden und so die Bewegungen von Tier und Mensch verbinden. Ein Hund rennt vor und hinter dem Traktor her und es ergibt sich ein Bild der Harmonie. Doch die Gewalt drückt sich auch in diesen scheinbaren Frieden. So zerstört ein Stier in absurder Manier zweimal im Film einen Zaun, um an das gepflanzte Gemüse zu gelangen und dieses zu zertrampeln und ein Hund bellt wie wild auf einen eingerollten Igel ein und lässt diesen nicht in Ruhe. Als Friedensstifter tritt dann immer Anna auf, eine beeindruckende Person, die zu Beginn des Films gar nicht verstehen kann, wieso man sie filmen würde. „Wir sind doch nur gewöhnliche Menschen…“ Die Kamera verharrt meist in beobachtender Position mit einem Interesse an körperlichen Regungen und Gesichtern. Das bedeutet Halbtotalen und halbnahe Einstellungen, aber sie setzt sich auch in Bewegung, da sich Kossakovsky des Konflikts zwischen der Natur und Struktur (Musik, Zwischentitel, Montage) des Lebens absolut bewusst scheint. Er vermag es gleichzeitig zu ordnen und zu beobachten und zu letzterem zählt im Fall von The Belovs auch die spontane Reaktion, die zum einen mit der räumlichen Verschiebung einer Handlung zusammenhängt, zum anderen aber schlicht mit einem Gefühl für den Ort und seine Konflikte. So schwenkt Kossakovsky einmal entlang zerstörter Wände, treibt über den Fluss oder tanzt mit Anna. In diesem Tanz verliert und rettet er sich mit ihr gemeinsam. Es muss einem einfach nahe gehen, wenn diese Frau sich im Anblick ihres eigenen Leidens und ihrer traurigen Erinnerung durch Tanzen und Singen am Leben hält. Sie vergisst ihren Schmerz durch ihre eigene Bewegung, durch ihre Musikalität und ihr beständiges Sprechen. Zwischen den plötzlichen emotionalen Ausbrüchen des Films, arbeitet man förmlich mit ihr am täglichen Überleben. The Belovs ist eine sinnliche Wahrnehmung des frei oder nicht wirklich frei fließenden Lebens, die eine Bedeutung generiert, ohne dass es die unkontrollierbaren Wendungen eindämmen müsste. Es ist nur konsequent, dass auch der Film mit musikalischen Passagen arbeitet, die eine unschuldige Schönheit, eine liebenswerte Poesie einfangen, die sich unter dem Lärm der Streitereien und der erdrückenden Stille sonst vielleicht gar nicht offenbaren könnten.

Es herrscht auch ein Pathos des Absurden hier, ein menschlicher Humor des Grauens, der einem zum Lachen bringt bis man sich des Grauens bewusst wird. So ist jene erwähnte Szene, in der ein Stier einen Zaun durchbricht, durchaus humorvoll, jedoch wird man sich bewusst, dass Anna diesen Zaun wieder reparieren muss. Hier und da zielt Kossakovsky etwas zu sehr auf den poetischen Effekt. Schwenks zum Himmel und ein Echo auf manchem Dialog erscheinen etwas zu gewollt. Es bleibt das Rätsel dieses Jungen, der im Hintergrund des Streits sitzt, eine marginale Figur, die kurz zuvor eingeführt wurde, als ihn Anna in der Früh weckt. Zuvor gibt es bereits eine lange Einstellung auf einem Familienfoto, das vermutlich Anna mit ihren Kindern zeigt. Egal, ob es sich um einen Neffen auf Besuch, ein tatsächliches Kind von Anna oder Michail oder um einen Enkel handelt…es ist klar, dass dieser Junge es an diesem Ort nicht mehr länger aushalten kann. Und genau diese Frage kann man sich vielleicht selbst stellen. Wann sitzt man gerne mit Menschen zusammen? Wann will man mit ihnen leben? Was bedeutet Nähe? Wenn an diesem Ort der Fluss seinen Lauf beginnt, dann ist The Belovs auch eine paradiesische Geschichte und man muss sich fragen, wohin dieser Fluss fließen wird oder ob das, was auf der kleinen Farm passiert und nicht passiert, sogar das Ende beziehungsweise die Ewigkeit seines Verlaufs ist.