Locarno-Tagebuch: Ein Vorbericht

Filmfestival Locarno

Ich wundere mich, ob ich es in knapp zwei Wochen bereut haben werde, das wunderschöne Tessiner Alpenpanorama und den glitzernden Lago Maggiore ganz einfach ignoriert zu haben, zugunsten eines exzessiven Filmprogramms. Meine Agenda für meinen Locarno-Besuch ist ganz eindeutig auf Film ausgerichtet. Anders, als so manch anderer Besucher tangieren mich die Partys und Events rund um das Festival nur peripher – im Mittelpunkt stehen die Filme, so wie das eigentlich selbstverständlich sein sollte. Nun, manchmal kommt man sich mit dieser Herangehensweise erschreckend einsam vor, mit ein Grund weshalb ich mich gerade nach Locarno flüchte – einem Festival, das im Vergleich mit anderen, wenig auf große Namen und Starlets setzt, aber dafür umso mehr den Puls der Zeit in seiner Programmauswahl berücksichtigt (wobei ich natürlich nicht daraus schließe, dass das automatisch die Prioritäten der Besucher zurechtrückt – das wäre naiv). Was mich genau erwartet bleibt natürlich ungewiss. Locarno ist das erste der Top-Festivals, dass ich besuche, dafür mache ich fehlende Erfahrung mit Enthusiasmus und Abenteuerlust wett (eine gefährliche Mischung, wenn man es sich durch den Kopf gehen lässt…).

Die Ballszene in "Il Gattopardo" von Luchino Visconti

Il Gattopardo von Luchino Visconti

Die Ich-Form, die in der deutschen Filmkritik durchaus verpönt ist, halte ich für die Zwecke einer Festivalberichterstattung für sehr angebracht. Ich halte es da mit Mark Peranson, der in seinem diesjährigen Cannes-Verriss folgendes schrieb: „At this point I decide that with all the mitigating factors (the order in which the films are screened, the critical expectations, etc.), the most honest form of [festival] coverage is brisk, semi-diaristic, and non-comprehensive.” Denn mehr noch als bei einer Filmbesprechung stellt sich die Frage, wie man sonst von einem Festival berichten sollte, als seine persönlichen Eindrücke zu schildern, und was ist verlockender als seiner Leserschaft über Schlafzyklen und Stuhlgang zu berichten.

Genug des Herumspaßens – was steht am Programm? Was darf man sich erwarten? Dank einer Reihe von Pressevorstellungen um neun Uhr morgens, werde ich doch einiges an Wettbewerbsfilmen zu sehen bekommen (neun Uhr ist nicht per se eine gute Uhrzeit, bei so einem vollgepackten Programm aber gemütlich überschneidungsfrei). Der Concorso Internazionale beinhaltet zwar nur drei Filme, von denen ich bereits gehört habe (das sind der neue Pedro Costa, Cavalo Dinheiro, der neue Lav Diaz, Mula sa kung ano ang noon und Listen Up Philip von Alex Ross Perry), aber wenn man sich Locarnos track record zu Gemüte führt, bin ich überzeugt, dass es da einiges zu entdecken gibt. Weiters am Programm, eine Reihe von kleineren Werksschauen zur Würdigung großer Filmkarrieren: für die Schauspieler Juliette Binoche, Armin Mueller-Stahl und Jean-Pierre Léaud, den Kameramann Garrett Brown und den Regisseur Víctor Erice, sowie eine größere Retrospektive zu Agnès Varda. Eine Auswahl von Klassikern der Cinémathèque Suisse, eine interessante Filmessay-Nebenreihe, in der u.a. Jean-Luc Godards und Jean-Marie Straubs neuste Filme zu sehen sind und zu guter Letzt eine Monsterretrospektive durch 70 Jahre italienische Filmgeschichte – mir wird definitiv nicht langweilig werden. Denn in dieser Aufzählung waren die Jungregisseur-Kategorien Pardo di domani und Concorso Cineasti del presente ebensowenig berücksichtigt, wie die Semain de la critique und das Panorama Suisse.

Bei so viel Auswahl kann man sein Programm natürlich nur sehr willkürlich zusammenstellen. So verzichte ich z.B. auf den Berlinale-Sieger Feuerwerk am hellichten Tage, der sowieso im August in den heimischen Kinos erscheint, zugunsten von Listen Up Philip. Ebenso werde ich schweren Herzens auf die Langfilme von Victor Eríce zugunsten von Filmen, die ich noch nicht gesehen habe verzichten. Kurz, wie bei jedem Festival werden einem schwere Entscheidungen abverlangt, und man braucht ein wenig Glück um schlussendlich zufrieden auf die zehn Tage zurückblicken zu können, und sich nicht zu ärgern, dass man zu wenig Zeit fürs Tessiner Alpenpanorama aufgebracht hat.