Unzuverlässige Bilder: Le Monde vivant von Eugène Green

„The truth is always contradictory“, sagt Eugène Green, und seine Filme illustrieren das perfekt. Das Paradox von Le Monde vivant: gleichzeitig ein Film, der rund um das gesprochene Wort komponiert ist, bei dem das Wort Ausgangs-, Referenz- und Angelpunkt seiner Geschichte und seiner Bilder ist, als auch ein Film ausgesprochener Körperlichkeit und Haptik. „Le souffle de l’ésprit est le souffle du corps“ heißt es an einer Stelle im Film einmal. `Das Wort‘ wird hier behandelt als eine weltenbildende Kraft; etwas Imaginäres wird durch das Wort real, der „Atem der Seele“ transformiert zum „Atem des Körpers“. Dass das Wort auch wirklich diesen „Atem der Seele“ zum Ausdruck bringt, nimmt Green einmal vorneweg (er stellt dem Film ein Epitaph Meister Eckharts voran, welches das Wort als Absolute Wahrheit Gottes postuliert), quasi als Spielregel.

Überhaupt haftet Le Monde vivant das Spielerische an; ein Spiel, dessen Regeln allerdings bis ins kleinste Detail bekannt und durchgeplant sind; ein Spiel, das – um wieder auf Widersprüche zurückzugreifen – mit grösster Ernsthaftigkeit und Beflissenheit gespielt wird. Aus dieser Spannung stemmt auch ein Humor des Films (es gibt davon mehrere). Erzählt wird im Grunde ein mittelalterliches Märchen, von Rittern, Prinzessinnen und Kinder verspeisenden Ogern – die Darsteller sind jedoch in moderne Alltagskleidung gehüllt. Dies nur eine der zahlreichen Disparitäten zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen dem im Bild Dargestellten und dem darin Ausgedrückten; diese Nicht-Kongruenz besticht nicht in erster Linie durch ihr Entfremdendes (wie vielleicht bei anderen Filmemachern), sondern kommt leichtfüßig daher, manchmal zugespitzt zur scharfen Pointe. Etwa dann, wenn nicht nur Bild und Bildbedeutung, sondern auch Bild und Ton nicht korrelieren; zwischen „Ton“ und „Wort“ wird nämlich in Le Monde vivant nicht unterschieden, und der Ton trägt, genauso wie das Wort die welt- und wahrheitsstiftende Funktion, während das Bild bezüglich der erzählten Geschichte immer nur ein „Abbild“ ist, verfälschend und in gewissem Sinne dem Ton untergeordnet.  Bezüglich des „Gesamtpakets“ von erzählter Geschichte und ihrer Verfilmung in der heutigen Zeit agiert das Bild hingegen äußerst wahrheitsgetreu; nichts wird verfälscht, wir werden nicht durch Kostüme, Effekte etc. in die Irre gelockt. Verblüffend „einfach“ zeigt Green seine Geschichte; seine Einfachheit entlockt uns ein permanentes Schmunzeln und lässt uns in Frage stellen, ob wir den ganzen „Fake“-Apparatus, den wir von Filmen gewohnt sind, wirklich brauchen. Ein weiteres Paradox des Films ist also die Doppelfunktion des Bildes als nicht-zuverlässig bezüglich der Geschichte und als zuverlässig bezüglich der im Jetzt verorteten Verfilmung der Geschichte; man könnte das Bild auch als Mediator bezeichnen, vermittelnd zwischen Idee und unserer Lebensrealität.

Die Geschichte selbst gibt sich virtuos in ihrem Doppel- resp. Parallelnarrativ. Alles ist (abgesehen vom „Bösewicht“) im Doppel vorhanden; Ritter, Prinzessinnen, Kinder, Orte (Burg resp. befestigte Kirche); zwei Kämpfe Ritter vs. Bösewicht; die Einteilung des Films in ersten und zweiten Teil. Ihre Erzählung bleibt dennoch äusserst klar, luzid und konzis, was an ihrer Geschlossenheit und Artikuliertheit liegt: kein dem Narrativ fremdes Element drängt sich ins Bild/den Ton, die Ausstattung ist spärlich und jedes Detail dient der Geschichte. Die Schauspieler rezitieren ihre Sätze langsam und auf Deutlichkeit bedacht; sonst nur in formalstem Französisch angewandte sprachliche Bindungen zwischen Worten werden benützt und ausgekostet, bringen ihre volle Schönheit zur Geltung. Verblüffend ist nicht nur die Einfachheit des Films, sondern auch dessen Vollkommenheit; nur wenige Filme kreieren mit derart wenigen Mitteln eine derart vollkommene Film-Welt; stellt man sich diese als möblierten Raum vor, so füllt die Film-Luft diesen vollkommen aus, dringt ein in Ritzen zwischen Möbeln und Boden, in die Fugen zwischen Wand und Decke. Hier kommt zur Geltung, was Green in einem Interview sagt: „I work very hard to achieve simplicity, which is never natural, never spontaneous. It’s always at the price of a great effort.“ Diese sublime, erarbeitete Einfachheit ist oftmals Merkmal lange währender Kunst, ob Mozart oder Hawks.

Zum Gefühl dieser Vollkommenheit trägt gerade auch der Filmton bei. Greens Tonarbeit, ist so genau und sorgfältig wie nur bei wenigen zeitgenössischen Filmemachern, vielleicht bei Lucrecia Martel. Hauptsächlich zielt der Ton auf das Realmachende, eben Weltenbildende; doch manchmal verleiht er dem Film eine weitere, metaphysisch-romantische Ebene. Etwa die Verwendung des Windes; ein zentrales Element, das nicht nur der „Landschaftsmalerei“ dient, sondern an einer Stelle das Verlangen, die Sehnsucht kennzeichnet, die der sterbende Ritter und die Prinzessin füreinander empfinden. Getrennt voneinander, er im Freien, sie in einem Innenraum, blicken sie direkt in die Kamera, ein Verfahren, das Green sonst während Gesprächen oft anwendet, um den Zuschauer in den Bann des Gesprochenen und den Bann des Blicks beim Sprechen zu schlagen; an dieser Stelle jedoch verbindet es zwei räumlich getrennte Personen. Als das Bild des Ritters dem der Prinzessin antwortet, kommt ein starker Wind auf, der hier expressionistisch, beinahe mystisch fungiert, als Illustration eines Affekts.

Der Aspekt der Körperlichkeit, der Haptik, des Fühlbaren, der dem Imaginär-Reellen des Worts gegenübersteht, kommt besonders in der häufigen Beschränkung des Bildausschnitts auf Hände und Füsse zum Ausdruck. Die Kämpfe der Ritter mit dem Oger zeigt uns die Kamera nur durch Aufnahmen von Händen und Füssen. Rutschende Füsse, kämpfende Hände. Nicht nur im Kampf, auch in der Liebe; immer wieder sehen wir sich fühlende Hände. „Darf ich dich berühren?“ fragt die Prinzessin. Neben dem Ton sind es die Berührungen, die hier die Realität ausmachen, oder: der Ton macht die Berührung real, und die Berührung die Welt.

Neben den hidden smiles, die von der Konstruktion des Films rühren, gibt es auch weniger versteckte smiles. Als Film über die Kraft des Wortes, ist es nur konsequent, dass viele Dialoge auch witzreich geschrieben sind; zusammen mit der sublimen Einfachheit oder dem einfachen Sublimen des Films münden diese in dessen grossartige, ernsthaft-spielerische Leichtigkeit.

Wir zeigen den Film am 21. Januar um 20:15 im Filmhaus am Spittelberg.