Umdichten zum Undichten: POETRY von Lee Chang-dong

von Andrey Arnold

Eine sehr weit gefasste Definition von Poesie könnte folgendermaßen lauten: Poesie ist das Gefühl, das entsteht, wenn etwas den Eindruck erweckt, mehr zu sein als das, was es ist. Im Kino heißt das auf einer ganz basalen Ebene: Wenn ein filmisches Element über sich selbst hinausweist. Wenn also eine Kamerabewegung nicht nur dazu dient, etwas ins Bild zu rücken, ein Schnitt nicht nur die Verkoppelung zweier Perspektiven bedeutet, ein Requisit nicht nur da ist, um eine Art atmosphärischer Vollständigkeit zu markieren. Wenn sich abseits von Zweckmäßigkeit und symbolischer Selbstbezeugung ein dritter Sinn einstellt, wie ihn Roland Barthes einst (anhand von Fotogrammen) zu fassen versuchte. Wie „poetisch“ dieser Sinn erscheint, hängt wohl davon ab, wie gewollt, selbstverständlich oder diffus er auf den Betrachter wirkt – wobei das Spektrum reicht von einer Banalität des Sinns, die wiederum als Funktionalität empfunden wird, bis hin zur totalen Ungreifbarkeit, die abgesehen von dumpfer Verwirrung nichts hinterlässt. Viele der berühmtesten „poetischen“ Montagen der Filmgeschichte – der erwachende Steinlöwe aus Panzerkreuzer Potemkin, der Knochen, der in 2001 zur Raumstation mutiert – haben ihr poetisches Potenzial eingebüßt, weil ihr Sinn wie eine Bronzeplakette unter ihnen hängt. Glücklich, wer noch nicht lesen gelernt hat.

Poetry ( 시) von Lee Chang-dong ist zugleich ein Film über Poesie (ihr Zustandekommen und ihre möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen) und ein poetischer Film, auch wenn er Letzteres nicht vor sich herträgt. Einerseits folgen wir darin der schrulligen alten Dame Yang Mi-ja (Yoon Jeong-hee) bei ihren Bemühungen, zu verstehen, was Poesie ist, nachdem sie sich im Kulturzentrum ihrer Kleinstadt bei einer Schreibwerkstatt für Gedichte angemeldet hat. „Sie lernen also, traditionelle Dichtkunst zu rezitieren?“, wird sie irgendwann von einer eher unsympathischen Figur gefragt. Nein, darum kann es natürlich nicht gehen. Vielleicht liegt eine anfängliche Bemerkung Mi-jas etwas näher an der Idee, die uns der Film von Poesie vermitteln möchte. Am Telefon scherzt sie über ihr spontanes Weiterbildungsunterfangen, sie sei im Grunde schon immer eine Dichterin gewesen: „I do like flowers and say odd things“.

Ein bisschen „odd“ ist auch der Gedichtkursleiter, ein allem Anschein nach nicht ganz unbekannter, aber auch nicht mehr ganz erfolgreicher Dichter, der sich etwas blumig ausdrückt, viel blinzelt und dem Unterricht einen Deut mehr Pathos angedeihen lässt, als es angesichts des provinziellen Settings angemessen scheint. Man weiß nicht ganz, ob man ihn ernst nehmen soll, ist aber erstmal gewillt, zuzuhören. „Das Wichtigste im Leben ist Sehen“, lautet sein erster Grundsatz. Viele hatten einen Apfel schon unzählige Male vor Augen, aber noch nie wirklich gesehen, meint er. Nur durch konzentrierte, aufmerksame Betrachtung würde sich erschließen, was die Welt um uns im Herzen trägt, und dann folgt die Inspiration auf dem Fuße.

Hier öffnet sich eine Ambivalenz. Zum einen formiert sich langsam ein Klischee vor dem geistigen Auge, das klassische Bild des Dichters als weltfremder Traumtänzer aus Sicht des gesunden Menschenverstands. Ein Dichter ist jemand, der gedankenverloren auf Äpfel starrt, anstatt sich mit dem echten Leben zu beschäftigen. Er hängt Dingen nach, die schön sein mögen, aber nur für Schöngeister von Interesse sind. Eine passende Beschäftigung für schrullige alte Damen, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen. Gleichzeitig liegt in den Worten des Lehrers ein Kerngedanke, der haften bleibt: Es geht darum, im Gegenstand der Betrachtung etwas zu erkennen, das die gewohnte Wahrnehmung übersteigt, um eine Veränderung in ihr herbeizuführen, die womöglich andere Veränderungen nach sich zieht. Vielleicht muss es sich bei diesem Gegenstand gar nicht um einen Apfel handeln. Und vielleicht muss das, was man erkennt, gar nicht schön sein.

Dieser Bewegung stellt der Film eine andere gegenüber, die zunächst anmutet, als wäre sie ihr diametral entgegengesetzt. Weil ihre geschiedene Tochter in der Hafenmetropole Busan lebt und viel Arbeit hat, passt die selbst nicht gerade wohlhabende Mi-ja auf ihren Teenager-Enkel Jong-wook auf – ein introvertierter, von der Abwesenheit elterlicher Bezugspersonen gezeichneter Schlendrian, der die Fürsorge seiner Großmutter längst als selbstverständlich erachtet. Wie sich herausstellt, hat er zusammen mit fünf Gleichaltrigen eine Schulkollegin vergewaltigt und sie so in den Selbstmord getrieben. Die Väter seiner Mittäter haben sich bereits geeinigt, die Sache in Absprache mit der skandalscheuen Schule unter den Tisch zu kehren und die Mutter des Opfers mit Schweigegeld stillzustellen. Mehr oder weniger über ihren Kopf hinweg wird Mi-ja in diesen Plan eingespannt.

Anfangs gleitet der Film wie ein Zug, der ständig die Schienen wechselt, zwischen diesen beiden Handlungssträngen hin und her. Doch zusehends verschlingen sie sich ineinander und entfalten so unterschiedliche Figurationen von Poesie, die bei aller Widersprüchlichkeit durchweg im oben erwähnten Konzept der Wahrnehmungsverschiebung begründet liegen.

Eine dieser Figurationen ist politisch – in etwa dem Bild verwand, das Jacques Rancière in seiner „Nacht der Proletarier“ vom Parkettleger zeichnet, der in einer bürgerlichen Wohnung seine Arbeit unterbricht, um träumend aus dem Fenster zu blicken. Exemplarisch ist hierbei die Szene, in der Mi-ja zum ersten Mal dem Väterbund begegnet, der als soziale Einheit für business as usual steht. Während die Männer biertrinkend diskutieren, wie sie die Vertuschung des Verbrechens ihrer Söhne am besten angehen sollen, wendet sich Mi-ja, die dem Regime der Brüder als einzige Frau im Raum ohnehin im Weg steht, nach kurzer Zeit ab und verschwindet nach draußen. Bald sehen wir sie auf der anderen Seite des Kneipenfensters bei der unverwandten Inspektion blutroter Blumen. Es ist kein wirkungsvoller Protest: Die Entscheidungen werden auch ohne sie getroffen, und sie fügt sich ihnen anstandslos. Aber es ist dennoch ein Protest.

Dieses Motiv der Abdrift als stille Verweigerung wiederholt sich mehrfach. Manchmal führt sie von etwas weg, manchmal zu etwas hin. Irgendwann wird Mi-ja von den Vätern beauftragt, die Mutter des Opfers, eine Bauersfrau, zuhause zu besuchen und mit einem Gespräch „von Frau zu Frau“ davon zu überzeugen, das Schweigegeld anzunehmen. Bevor sie diese bei der Feldarbeit vorfindet, wird sie von am Boden liegenden Aprikosen zu einer poetischen Notiz angeregt. Im Gespräch mit der Mutter vergisst sie darob ihre Mission, stattdessen kommt es beinahe zu einer freundschaftlichen Annäherung, jedenfalls zu einer Ahnung von Empathie: Poesie als Stolperstein im geregelten Ablauf jener Mechanismen, die bestehende gesellschaftliche Ordnungen aufrecht halten. Eine Konkretisierung erfährt dieser Gedanke in der Nebenfigur eines zu vulgär-verschmitzten Wortspielen neigenden Gelegenheitsdichters, den Mi-ja bei einem offenen Lesungsabend kennenlernt: Dieser entpuppt sich als hautberuflicher Polizist, der in die Provinz strafversetzt wurde, weil er die Korruption von Kollegen in Seoul nicht mittragen wollte.

Poetry verklärt dieses Systemstörungsmoment nicht. Die wunderliche bis geistesabwesende Protagonistin ist keine aktive Kämpferin für Gerechtigkeit, und gleich zu Beginn verrät ein Arztbesuch, dass sie sich im Anfangsstadium einer Alzheimererkrankung befindet. Derzeit entfallen ihr bloß einzelne Wörter, aber es dürfte wohl nicht allzu lange dauern, bis sie sich nicht mehr in der Welt zurechtfindet. Unwillkürlich stellt man eine Verbindung zwischen dem Gedächtnisschwund und der Entdeckung ihrer poetischen Leidenschaft her: Der Preis ungehöriger Betrachtungsweisen ist der Verlust gesellschaftlicher Bodenhaftung. Am Ende löst sich Mi-ja in einem berückendem Stilbruch vollständig in Poesie auf, verschmilzt gewissermaßen mit ihr: Die letzten Einstellungen zeichnen einen möglichen Weg der im Laufe des Films zusehends stärker in die Entrückung hineingleitenden Frau nach, ohne sie dabei zu zeigen, im Off hört man das Gedicht, mit dessen Hervorbringung sie die ganze Zeit über gehadert hat.

Die Stimme Mi-jas wird dabei irgendwann von jener des toten Mädchens abgelöst. Hieran lässt sich eine weitere Figuration des Poetischen festmachen, der der Film lose Kontur verleiht: Poesie als Gespräch mit Gespenstern, Gedächtnisarbeit, Erinnerungstechnik. Eine in unterschiedlichen Variationen wiederkehrende Sequenz zeigt Teilnehmer des Gedichtkurses in Interviewsituationen, beinahe direkt in die Kamera sprechend, beim zögerlichen Versuch, ihre schönsten Erinnerungen zwecks Inspiration heraufzubeschwören. Der poetische Blick ist eine Öffnung, die die Begegnung der Gegenwart mit den Tiefenschichten der persönlichen Vergangenheit zulässt. Eine Chance, traumatischen Erfahrungen (ein Leitmotiv in Lee Chang-dongs Schaffen) einen neuen Anstrich zu verpassen, verschüttete Schönheit freizulegen, Glück zu generieren. Aber auch ein Medium für Verdrängtes, für Geheimnisse und Gegenerzählungen. Die Geschichte des Vergewaltigungsopfers, eigentlich für immer verloren, lagert sich im Schlussgedicht ab.

Poesie erscheint so weniger als Kraft oder Macht denn als subversive, subkutane Strömung, als unergründlicher, untergründiger Termitenweg. Dies schlägt sich auch in der Form des Films nieder. Die Grundfesten von Poetry sind in der Tradition eines modernen Neorealismus verankert, mit einer präzise konstruierten, bis in die kleinsten Ausstattungsdetails hinein „natürlichen“ Kinowirklichkeit im Glast der Sommersonne. Wenn hier jemand eine Straße überquert, muss unbedingt noch ein Auto oder ein Moped vorbeifahren, um anzuzeigen, dass es auch jenseits des Kaders Leben gibt, kaum eine Straßenszene kommt ohne die perfekte Dosis „überschüssiger“, beiläufig sehr spezifische Handlungen ausführender Komparsen aus. Hinzu kommt eine episodische narrative Struktur, deren pointierte Zusammenhänge sich eher langsam (und nur selten restlos) erschließen. Doch dieser Realismus wird periodisch punktiert von mal mehr, mal weniger merklichen Ablenkungen, ominösen Zufällen, Geisterbotschaften, die seine Matter-of-fact-ness unterwandern.

In der ersten, idyllischen Szene gibt es die sehr bestimmte künstlerische Geste einer Leiche, die von einem Fluss schleichend Richtung Kamera geschwemmt wird. Doch schon kurz davor blitzt etwas auf, das die Normalitäts-Erschütterung subtiler spürbar macht: Ein paar Buben spielen am Flussufer, einer von Ihnen bewegt sich, nach nichts Spezifischem suchend, von der Gruppe weg und sieht sich arglos um. Einen Deut länger als nötig, um nicht Notiz davon zu nehmen, verharrt sein Blick am Himmel, als hätte eine sonderbar geformte Wolke ihn gebannt. Erst dann wandert er Richtung Fluss und erspäht den langsam herangleitenden Leichnam. In diesem Himmelblick macht sich bereits ein Bruch mit der Identität der Dinge bemerkbar, er instituiert die schon erwähnte Abdrift als poetisches Zentralmotiv des Films, das sich bereits im einleitenden, wie von unsichtbaren Seidenfäden oder dem Lauf des Flusses sanft seitwärts gezogenen Schwenk angedeutet hatte (in Lees Peppermint Candy gibt es übrigens einen ähnlichen Blick-Bruch in vergleichbarer Umgebung, der allerdings viel deutlicher als Verfremdungseffekt herausgestellt ist).

Später ist es wieder die Kamera, die abdriftet, als Mi-ja nach dem Arztbesuch telefonierend heimspaziert. Das Gespräch und der tracking shot werden unterbrochen von einer Hinwendung zum zeitgleichen Zusammenbruch der Mutter des toten Mädchens, die wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen. Noch später weht der Wind Mi-jas Hut ins Wasser, als sie die Brücke besucht, von der aus sich das Mädchen in den Tod stürzte – ein Zufall, der keiner ist, weil er eine Verbindung herstellt und sich nicht mehr mit sich selbst zur Deckung bringen lässt. Widersprüche, die Poetry auch in seiner Rahmung verhandelt, zwei identischen Einstellungen eines Gewässers, die natürlich nicht identisch sein können. Der Lauf der Dinge wurde unterlaufen. Vielleicht ist Poesie keine Verdichtung der Realität, wie es manchmal heißt, sondern ihre Verundichtung.

Viennale 2018: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

 

8 films (non American)
Ni De Lian by Tsai Ming-liang
Gang-byun Hotel by Hong Sang-soo
Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari by Radu Jude
Beoning by Lee Chang-dong
I Diari di Angela – Noi Due Cineasti by Yervant Gianikian & Angela Ricci Lucchi
Den‘ Pobedy by Sergei Loznitsa
Lazzaro felice by Alice Rohrwacher
Mues by Daniel Nehm

weitere Hinweise aus dem Programm: Gewächshäuser anzünden, die Kamera ausschalten, vor der Kamera einschlafen, Agamben lesen, mehr über Pflanzen lernen, ein Feuer im Wald löschen, ins Eis einbrechen, über das Lesen sprechen, Hunde ins Weltall schießen, einen Hubschrauber beobachten, Sand ins Meer schütten, die Kamera einschalten, Bruno Dumont vermissen, im Schnee spazieren, Stalin-Hunde nicht ins All schießen, sich über zu laute Kameras aufregen, mehr lesen, mehr schauen, nackt tanzen, sich nicht berühren und Rollen spielen.

Patricks Texte

Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari
Ni De Lian
Aquarela
High Life
Le Livre d’Image
The Other Side
I Diari di Angela – Noi Due Cineasti
Drift
Minervini & Rohrwacher

Le livre d'image von Jean-Luc Godard

 

Andrey Arnold

I watched Burning a second time.

Andreys Texte

The B-Film
Aquarela
Angelo
Lazzaro felice
Suspiria
The House that Jack Built
Leto
Allgemeines

 

Ivana Miloš

Two by Two.

I Diari di Angela – Noi Due Cineasti by Yervant Gianikian, Angela Ricci Lucchi

A film as much testimony as it is watercolor drawings, mapping two lives and their paths across the world and its archives. Always in the midst of reinterpretation, led by curiosity and a desire for work. An infinite diary bringing Yervant back from the flames and Angela back to life. A work and act of love.

O termómetro de Galileu by Teresa Villaverde

Togetherness caught in the green garden belonging to filmmaker Tonino De Bernardi and Mariella, his wife. Stories told over eggs and cheese bought from the neighbour, forgotten backpacks, grandchildren studying and, even more so, learning. Intimate storytelling from the back seat of the car on the way home: a zephyr of recognition.

 

Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari by Radu Jude

How smart and unassuming, daring and stunning, side-splittingly funny and deeply unsettling can a single film be? This is cinema doing, in the act of doing, undoing and redoing. When did we leave off history? Who remembers what we are doing today? And, most importantly, what does all this go to say?

What You Gonna Do When the World’s on Fire? by Roberto Minervini

White feathers surrounding black faces at the Mardi Gras dance and the New Black Panthers, fists held up high in protest, demanding justice for all, once and for all. Filming a world that is not his own, Minervini follows Ronaldo and Titus, fourteen and nine years old, as its future. Their games inhabit and enliven the streets, but when they have to head home before dark, a childhood dream collapses into reality.

Lazzaro felice by Alice Rohrwacher

Lazzaro between worlds, Lazzaro as a magical word, Lazzaro joining and showing us the in(di)visible, Rohrwacher opening up the immense space of culture and history as easily as if it were her backyard. We draw our humanity from these waters. Let us plumb them kindly.

Ahlat Ağacı by Nuri Bilge Ceylan

Like a long book read before going to bed, a cushion and a house at once, the film wraps itself around the pear trees, the landscape and the apartment a family hides and reveals itself in. Its protagonist, aspiring writer Sinan, petulant and aggravating to no end, tries his hand at moving us and sometimes succeeds.

Jiang hu er nv by Jia Zhangke

China evolving over years and genres, as jianghu meets melodrama and transformations wait around every corner – it’s just that those corners may be very far apart and time is another powerful force to be reckoned with.

A Land Imagined by Yeo Siew Hua

Land reclamation contributes to the imaginary of a world brought up on itself, feeding on itself and the darkness of multiple planes of existence. Nightmares and dreams confide in each other in this unique stream of a film noir.

More on: Lazzaro felice

 

Rainer Kienböck

Der erste Film, den ich auf der Viennale 2018 gesehen habe war Lazzaro Felice von Alice Rohrwacher. Als ich das Gartenbaukino nach der Vorstellung am Donnerstagnachmittag verlassen habe, schoss mir ein Gedanken durch den Kopf: „Besser wird es nicht mehr“. Für einen kurzen Moment dachte ich mir, es wäre jetzt vielleicht angebracht, die Viennale Viennale sein zu lassen und einfach aufzuhören. Denn Rohrwacher hat hier abermals einen unglaublich dichten, betont aber nicht aufdringlich politischen, und visuell herausragenden Film gemacht. Lazzaro Felice ist poetisch und magisch, aber zugleich in einer harschen Lebenswelt verankert: präzise Sozialstudie trifft surrealistische Phantastik. Und doch fühlt sich diese Welt, in der so unwirkliche Dinge passieren, nie fremd an – eine Eigenschaft, die schon Rohrwachers Le Meraviglie ausgezeichnet hat. Als Eröffnungsfilm für die erste Ausgabe des Festivals unter der neuen Festivalleiterin Eva Sangiorgi auf jeden Fall eine ausgezeichnete Wahl.

Ich habe dann nach Lazzaro Felice natürlich doch weitergeschaut. Im Nachhinein gesehen auch die bessere Wahl, denn es gab – wie nicht anders zu erwarten – noch eine Menge weiterer herausragender Filme zu sehen. Bereits am Folgetag war meine These, dass es nicht besser werden könne, bereits widerlegt. Da wurde abends nämlich Ang panahon ng halimaw von Lav Diaz gezeigt. Es geht, wie so oft bei Diaz, um die philippinische Militärdiktatur in den 70er Jahren. Man sieht monochrome Aufnahmen ländlicher Gebiete, in denen die Schergen des Regimes ihr Unwesen treiben und die Zivilbevölkerung drangsalieren. Lange statische Szenen zeigen den Niedergang einer Gruppe lose miteinander verbundener Menschen, die Widerstand ausüben. Wo Diaz von seinen bisherigen Filmen deutlich abweicht, ist die Inszenierung der Dialoge – diese werden nämlich vollständig als Gesang vorgetragen. Damit ist Ang panahon ng halimaw rein technisch wohl ein Musical. Allerdings keines der Sorte Rodgers und Hammerstein. Sondern eine düstere Elegie auf die dunklen Seiten des menschlichen Zusammenlebens. Was auf den ersten Blick betrachtet eigentlich zu einer größeren Distanzierung zum Geschehen führen sollte, hatte bei mir den gegenteiligen Effekt – Ang panahon ng halimaw hat mich emotional stärker gepackt, als Diaz‘ bisherigen Filme. Neben der wie üblich phänomenalen Bildgestaltung, hat Lav Diaz nun also bewiesen, dass er ein äußerst fähiger Komponist und Songwriter ist.

Apropos Emotionalität: Ich halte Histoire(s) du cinéma von Jean-Luc Godard für ein zentrales Werk der Kunst des 20. Jahrhunderts (eine Meinung, mit der ich nicht allein dastehe), aber seine monumentale Serie funktioniert in erster Linie auf intellektueller Ebene. Man erfreut sich an der totalen Überforderung des Verstandes, wenn einen Godard mit Bildern, Tönen, Worten der Kunst-, Film-, Politgeschichte überhäuft. Le Livre d’image ist dem stellenweise nicht unähnlich. Auch hier verliert sich der Intellekt in der Schichtung der Referenzen, Fakten, Sinneseindrücke. Doch in zumindest zwei Punkten unterscheidet sich der neue Film Godards von seiner Serie. Einerseits zielen sie nicht so sehr auf Zeitlosigkeit ab – die Bilder und Worte in Livre d’image haben weitaus mehr mit der (medialen) Gegenwart zu tun als in Histoire(s) du cinéma und andererseits greifen einen die dazwischengeschobenen Schockbilder aus dieser medialen Gegenwart immer wieder auf emotionaler Ebene an, was dem Intellekt eine kurze Atempause gibt. Die verstandesmäßige Überforderung wird unterbrochen durch emotionale Überforderung – eine inszenatorische Strategie, der ich eine Menge abgewinnen konnte.

Während Eva Sangiorgi in bester Hurch-Manier ein Best-of des Festivaljahres zusammengestellt hat, durfte sich Haden Guest um die filmische Verköstigung der Retrospektiven-Besucher kümmern, die traditionell in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum stattfand. Obwohl ich den Großteil des Festivals damit verbracht habe, aktuelle Filme anzusehen, die es wahrscheinlich nicht ins reguläre Kino schaffen werden, blieb dennoch die Zeit für ein paar Besuche bei der Retrospektive, die sich dieses Jahr um Hollywood B-Filme drehte. Während man mit diesem Begriff gemeinhin ästhetische Zuschreibungen verbindet (niedrige production values, sichtbare Improvisation, Imperfektion), orientierte sich Guest eher an einer anderen Definition des B-Films. Nämlich jener der produktionsgeschichtlichen Verhältnisse, in denen die jeweiligen Filme entstanden. Zu sehen waren folglich weniger die durch Camp und zelebrierte Schlampigkeit geprägten Filme vieler Poverty Row-Studios, sondern in erster Linie die sauber, aber bescheidener produzierten Filme der großen Studios, die damals als Vorfilm für die Prestigeproduktionen gemacht wurden. So ist zu erklären, dass es ein Double Feature bestehend aus Armored Car Robbery und The Narrow Margin (beide von Richard Fleischer Anfang der 50er für RKO) ins Programm geschafft haben. Beides sind bis zum Anschlag verdichtete Film Noirs, die man auch mit dem Terminus Thriller versehen könnte. Kurz zusammengefasst: Einer der besten Heist-Filme und einer der besten Zug-Filme, die ich je gesehen habe, in einem Double Feature. Nicht alle Filme der Retrospektive konnten da mithalten, aber glücklicherweise läuft die Wiederholung der Schau ja noch bis Anfang Dezember weiter, sodass man noch ein paar mehr Entdeckungen machen kann.

Rainers Texte

Diamantino
Her Smell
Roi Soleil
Alice T.

 

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