Der Freeze-Frame bei Léaud und Van Persie

Die kinematographische Qualität der großen Fußballdramen ist keine besondere Erkenntnis und allgemein sollte man das Kino immer und überall sehen, fühlen, denken und machen. Wer am gestrigen Abend das Viertelfinalspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen den Niederlanden und Costa Rica verfolgte, hat neben einer klassischen Underdog-Dramaturgie auch auf formeller Ebene einige interessante Aspekte entdecken können. Sehr augenfällig erscheint für mich die Verwendung des Freeze-Frames im Fußball im Vergleich zum Film. Da die Niederländer ein ums andere Mal ins Abseits liefen, kam das eingefrorene Bild auch dementsprechend häufig zum Einsatz. Dabei geht es innerhalb der TV-Übertragung um Evidenz. Durch das angehaltene Bild vermag man wie bei der neu-eingeführten Torlinientechnik einen Moment aus der Zeit herausgreifen und erkennen, ob sich ein Spieler im Moment der Ballabgabe im Abseits befindet oder eben nicht. Dabei wird dem Zuseher ein Erschließen von Gleichzeitigkeit ermöglicht, indem er erst überprüfen kann, ob es sich tatsächlich um den Moment der Ballabgabe handelt (dies setzen die meisten Fußballzuseher voraus, es gibt recht großes Vertrauen in die Fähigkeiten und das Verständnis der TV-Regisseure) und ob der betreffende Spieler sich in einer Abseitsposition befindet. Es ist ein Beweis, der die Entscheidungen als falsch entlarvt oder als richtig unterstützt. Angehalten können wir die Bilder erst wirklich erkennen. Die Information scheint Sache des Standbildes, die Emotion Sache des Bewegtbildes zu sein im Fußball. Diese in Wiederholungen angehaltenen Momente eines Spiels gestalten sich für den Fußballfreund meist in Form einer erhöhten Aufmerksamkeit, einer analytischen Ruhe, die das Bild angestrengt liest. Es ist interessant, dass vergangene Momente im Fußball häufig einen intensiveren Schauwert besitzen als die Gegenwärtigkeit des laufenden Spiels. In der Wiederholung-so sagt man- sieht man erst richtig. Betrachtet man die überintellektualisierten Analysen nach Spielen wird dieses System mit in die Freeze-Frames animierten Hilfsmitteln auf die Spitze getrieben. Fehler, die in Bewegung passieren, werden entlarvt, der Freeze-Frame ist wie eine Lupe, die uns klarmacht, dass wir nichts gesehen haben im laufenden Spiel. Ähnliches gilt natürlich in abgeschwächter Form für die Zeitlupe, deren ultimative und weniger effektive Form der Freeze-Frame in einer Fußballübertragung ist.

Offside

Aber eigentlich zerstört der Freeze-Frame den Bewegungsfluss des Spiels. Im gestrigen Spiel war es ein ums andere Mal der niederländische Star Robin Van Persie, der in seinen Bewegungen verhindert wurde. Das ist insofern spannend, da dieser Van Persie schon bei seinem spektakulären Torerfolg im ersten Spiel gegen Spanien in der Bewegung angehalten wurde. Dabei flog er durch die Luft, um per Kopfball zu treffen. Standbilder seines Fluges gingen um die Welt. Damit versichert man sich gewissermaßen der körperlich-technischen Fähigkeiten des Spielers, man verstärkt den Effekt des Übermenschlichen, der so wichtig ist für die religiösen Rituale des Sports. Aber bei den Abseitsentscheidungen gegen Van Persie kennen wir den Ausgang schon. Es ist als würden wir ihn im Moment einer unnötigen Bewegung anhalten. Im Film gestaltet sich ein Freeze-Frame häufig genau gegenteilig. Als Musterbeispiel wird ja gerne das Schlussbild aus François Truffauts „Les quatre cents coups“ hergenommen: Der junge Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) läuft über den Strand aufs Meer zu. Die Kamera kommt ihm nahe und friert ein. Schluss. Sein Blick geht wohin? In die Zukunft oder die Vergangenheit. Jedenfalls ist es ein verunsicherndes Bild. Verunsichernd, weil die Bewegung des Kinos unterbrochen wird, verunsichernd, weil es eine Ungewissheit im Protagonisten ausdrückt. Statt Evidenz wird dabei eher die Manipulation des filmischen Bildes unterstrichen. Eine Veränderung der tickenden Zeit, ihr Anhalten. Die Bedeutung und Wirkung auf den Zuseher ist also grundverschieden von der im Fußball. Aber so ein wenig wird Van Persie dann doch zu Léaud, denn auch sein Rennen kommt zu einem Halt, es ist fast noch gnadenloser, denn die Ungewissheit des jungen Doinel trägt noch so etwas wie Hoffnung in sich während jene von Van Persie schon lange vorbestimmt ist. Es sei denn wir wissen, dass er treffen wird und der Schiedsrichter das Tor gelten lässt. Dann wird der Freeze-Frame zur letzten Sekunde vor der Eruption eines Vulkans der Emotionen. Hier wusste er noch nichts von seinem Glück oder doch?

Ansonsten kennt man das gefrorene Bild im Film vor allem aus stilisierten Actionfilmen. Wie sieht es mit der Ästhetik aus? Im Fußball wird dieser Effekt auf die sogenannten Super-Zeitlupen verlegt. Im HD-Zeitalter gibt es mindestens einmal pro Spiel eine Montagesequenz mit emotionalen Gesten, Gesichtern und Bewegungen, die in extremer Verlangsamung ein ästhetisiertes Drama erzählen. Man denke bei der derzeitigen Weltmeisterschaft an die Aufnahmen der ausgemergelten Gesichter von Cristiano Ronaldo oder Xavi. Verlierer des Turniers, die wir in einer verlangsamten Erkenntnis des Schmerzes erleben. Der stilisierte Freeze-Frame benötigt jedoch einen Cut, um nicht analytisch zu werden. Und das widerspricht der notwendigen Nachvollziehbarkeit der Abläufe. Ich würde anregen großen Regisseuren, mal die Regie bei einem Fußballspiel zu überlassen. Die normierten Schnittabfolgen könnten gebrochen werden. Ich träume von vier Minuten langen Einstellungen auf den Schiedsrichterassistenten, die Hände des Trainers, das Flutlicht im Regen, das Gesicht eines Ordners, der abgewandt vom Platz die Zuseher beobachtet und eben Freeze-Frames als schnelle Schnitte oder gar als markeresquer Fotoroman. Dann wird das Ergebnis zur Nebensache.

Van Persie

Aber der Fußballfreund pocht zu Recht auf sein Ergebnis und somit Kontinuität. Schließlich gibt es beim Fußball nichts Schlimmeres als den Off-Screen, wogegen es im Kino fast nichts Schöneres gibt. Das bedeutet, dass im Moment des Einspielens von Freeze-Frame Wiederholungen oder anderen Cut-Aways, wie dem häufigen Zeigen von Zuschauern oder Trainern weitergespielt wird. Es ist daher eine Pflicht für die Regie bei einem Fußballspiel Wiederholungen nicht im laufenden Spiel einzuspielen. Der Zuseher würde es als eine Katastrophe empfinden, wenn er ein Spiel ansieht, aber das Tor nicht live erlebt. Dagegen gewinnt das Kino gerade durch das Nicht-Zeigen, das Auslassen von Raum und Zeit eine spannungsfördernde Note. Man stelle sich vor es gäbe einen Freistoß und die Regie würde in eine Nahaufnahme eines Trainer schneiden. An seinem Gesicht würde man (unterstützt zweifellos vom Ton) ablesen, was passiert. Oder man würde gar aus dem Stadion schneiden und den Verkehr filmen. Ja, die Welt geht weiter, man könnte davon erzählen. Ein wenig leben die Konferenzschaltungen des Pay-TV Senders Sky von dieser Off-Screen Spannung. Schließlich wartet man gespannt auf den Tor-Schrei aus anderen Stadien oder erlebt einen frustrierenden Stadionwechsel in einer spannenden Szene. Was bleibt ist die Zeit. Denn der Fußballfreund begibt sich in eine Illusion, wenn er die Richtigkeit einer Entscheidung in Freeze-Frame-Wiederholungen überprüft. Die Entscheidung wird nicht revidiert werden. Damit ist die neu eingeführte Torlinientechnik ähnlich wie das Hawk-Eye im Tennis ein filmisches Mittel, das ermöglicht die Zeit anzugreifen, sie zu verändern und diese Veränderung der Vergangenheit tatsächlich auf die Gegenwart des Spiels zu übertragen. Man denkt an Michael Hanekes „Funny Games“, indem die beiden Verbrecher die Zeit zurückspulen, um ihren Plan zu einem erbarmungslosen Ende zu bringen. Nur hier wird die Evidenz gebrochen, beim Fußball wird sie bestätigt.

Tsai Ming-liang Retro: What time is it there?

In vielen Bildern von Tsai Ming-liangs „What time is it there?“ gibt es noch ein zweites Bild. Einen Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit, in der Form einer geöffneten Tür, eines Nebenzimmers, einer Nebenstraße. Es ist ein Film, der in jeder Sekunde von einer anderen Welt träumt, von der Sehnsucht nach einer Flucht, die einmal vollzogen in Einsamkeit endet. Drei Protagonisten bevölkern die brillant ausgeleuchteten, feuchten Räume, Straßenecken und Plätze des Films. Da ist zum einen Hsiao-Kang gespielt von Lee Kang-sheng, dessen Vater gestorben ist und der Uhren verkauft an einer Brücke in Taipeh. Dann ist da seine Mutter, gespielt von Lu Yi-Ching, die den Tod ihres Mannes nicht wahrhaben will, die den buddhistischen Glaubensritualen rund um eine mögliche Wiedergeburt bis in die Extreme folgt und schließlich Shiang-chyi, gespielt von Chen Shiang-chyi, die einen langen Urlaub in Paris macht und sich davor noch eine Uhr bei Hsaio-Kang kauft. Es entsteht ein kurzer Funke zwischen den beiden, der in diesem Film zum Erlischen verdammt ist.

What time is it there?

In einer konstanten Übersprunghandlung beginnt der junge Mann sämtliche Uhren, die ihm in die Finger kommen, umzustellen. Dabei portraitiert Tsai Ming-liang das sehnsüchtige Leiden des Fremden inmitten seiner Welt mal absurd, mal tragisch, mal entleert. Immer spürt man dabei den Druck eines möglichen Eskapismus, vom Sex mit einer Prostituierten, bis zum abstrakten Fliehen in eine andere Zeit Das ganze wird in gemäldegleichen Bildern vollzogen, die in ihrer Bildtiefe und Vielschichtigkeit ein sinnliches Fest für die Augen bereithalten. Hier werden auch unterschiedliche Arten der Trauerbewältigung angezeigt. Die Uhren (Mühlen und Windräder) drehen sich unbarmherzig, aber die Geister sind immer noch anwesend. Am Ende sind es nicht die Glaubensrituale, sondern der Traum und das Kino, die den Vater, den wir aus der ersten Szene kennen, zurückbringen. Das Kino als eine Geisterbeschwörung, die dann in „Goodbye, Dragon Inn“ ihre Fortsetzung bekommt.

Nicht viel besser ergeht es Shiang-chyi in Paris. In beängstigender Ruhe werden mögliche Begegnungen gezeigt, die nie zustande kommen. Mal liegt das an räumlicher Distanz, mal an kulturellen oder sprachlichen Unterschieden. Einzig eine junge Frau aus Hongkong scheint so etwas wie Wärme auszustrahlen. Die beiden verbringen eine Nacht zusammen, in der es zu einem verlegenen Kuss, mehr aber nicht kommt. Als die Mutter mit ihren Ritualen am Ende ist, offenbart sie in einer tieftraurigen Szene ihre Sehnsucht, in einer für den Regisseur so typischen Masturbationsszene an den Grenzen zwischen Absurdität und totaler Verletzlichkeit. Ein Zusammenkommen kann es in dieser Welt nicht geben, die nüchterne Einsamkeit bleibt als melancholisches, vom Tod determiniertes Gefühl. Die paradoxen Momente, in denen sich dieses Gefühl vollzieht, sind auch von Komik durchzogen.

What time is it there?

Die versuchte Flucht drückt sich auch in den Kinobildern selbst aus. Zum einen flieht Hsiao-Kang einmal im wahrsten Sinne des Wortes ins Kino. Bei sich hat er eine Uhr, deren Zeit er-wie das Kino selbst-manipuliert. Zum anderen beginnt er sich Les quatre cents Coups von François Truffaut anzusehen, um wenigstens mit dem Kino in Paris zu sein. Darin beobachtet er den jungen Antoine Doinel auf der Flucht. In einem ewigen Kreis, der nur ist und nichts bedeutet oder beim Klauen der Milch. Das musikalische Thema des Nouvelle Vague Klassikers erklingt kurz im Abspann. Aber die Zeit macht vor dem Kino nicht halt und so sitzt Jean-Pierre Léaud plötzlich auf einer Bank neben Shiang-chyi in Paris. Natürlich ist diese Bank an einem Friedhof. Er versprüht den alten Charme, könnte aber auch ein Geist sein, einer der die Wälder von Apichatpong Weerasethakul heimsucht, ein Geist und die Vergangenheit des Kinos.

Wenn Tsai Ming-liang Filme über Entfremdung macht, dann ist What time is it there? am Endpunkt der Entfremdung angekommen, ein Moment, in dem man gar nicht mehr in der Welt ist, in der man vor Trauer nichts mehr wahrnimmt, vor Sehnsucht nichts mehr spürt oder nur noch als Geist ohne Berührung über die Oberflächen zweier Kontinente huscht. Was dann bleibt sind falschgehende Uhren, sind verschwundene Telefonnummern und der Schlaf. Was nicht mehr bleiben kann ist vielleicht das Kino. Oder gerade deswegen.