Die aus sich leuchtenden Gesichter bei Frank Borzage

Was hat es nur auf sich mit diesen aus sich leuchtenden, runden Filmgesichtern im Kino des Frank Borzage? Immerzu sehen sie sich an. Schuss, Gegenschuss, dazwischen das Kino. Als hätte der Filmemacher einen Zärtlichkeitsfilter in seiner Kamera gehabt, erstrahlen diese Gesichter mit zutiefst demütigen, warmen Zügen auf der Leinwand. Wie nur wenige andere Filmemacher, Pier Paolo Pasolini fällt einem sofort ein, vermag man anhand des Aussehens der Protagonisten zu erkennen, dass es sich um einen Borzage-Film handelt. Das gilt sowohl für seine Stummfilme als auch für seine Tonfilme. Man ist sich nicht ganz sicher, ob es sein Blick ist oder jener der Figuren, der diese Wirkung erzielt. Man ist sich nicht sicher, ob man die Figuren mitfühlend betrachtet oder ob nicht sie es sind, die einen mitfühlend ansehen. Jedenfalls wird sofort deutlich, dass etwas geteilt wird zwischen dem, der diese Menschen ansieht und dem, was diese Menschen empfinden. Letztlich hängt diese Wahrnehmung nicht allein am Gesicht. Es ist die Körperhaltung, das Licht, die Stimmen aus denen sich eine Empathie erkennen lässt, die ganz ohne dramaturgisches Vorwissen rein durch die Kraft einer Art und Weise des Filmens vermittelt wird. Borzage hüllt alles in eine Zuneigung, ein Verständnis, Respekt und Würde.

Dabei gibt es zwei Grundmuster, auf die Borzage bezüglich der Mise en Scène fortlaufend zurückkehrt. Das eine ist der hoffende, etwas machtlose, fragile oder bestimmte Blick nach oben. Dabei ist die Kamera meist auch oberhalb der Figuren platziert, sodass die Augen besonders betont werden können und zwischen Kamera und Blick eine Art Hoffnungsschimmer entsteht. Das andere ist der in sich gekehrte Blick nach unten, der insbesondere bei den männlichen Figuren zusammenfällt mit hängenden Schultern und Armen. Oft aus einer Halbtotale gefilmt, erkennt man in ihm die Last des Lebens, eine Zeichnung, die das Leben an diesen Figuren hinterlässt. Nie fragt man sich bei Borzage nach den Schauspielern. Sie werden sofort zu Menschen.

Spencer Tracy zum Beispiel, an und für sich ein Superstar verliert beinahe all seine kleinen Tricks und wiedererkennbaren Gesten. In Man’s Castle oder Big City wird sofort etwas unter seinem Grinsen sichtbar, aus Mangel an Worten könnte man es „ein gutes Herz“ nennen. Es zeigt sich, wenn sein Blick auf seine Partnerinnen in den jeweiligen Fimen fällt. Wieder ist es ein Schuss, ein Gegenschuss und dann weiß man alles, was man wissen muss. Es ist als würde Borzage auf den Subplot menschlicher Regungen aus sein. Die wahren Intentionen und die berüchtigten wahren Gefühle fallen bei ihm zusammen und sie sind mit einem Mal ganz offenliegend. Da der Filmemacher meist Liebesgeschichten filmt, wirken die in ihrer Kraft erstaunlicherweise niemals naiv wirkenden Kämpfe um ein gemeinsames Leben aus den Gesichtern selbst heraus, in ihnen spielt sich ein Selbstverständnis ab, das der Filmemacher nun gegen die Welt kadriert. Jeder der beschriebenen Hoffnungsschimmer wird von der Dunkelheit bedroht. Räume werden fast abstrakt bei Borzage, weil sie immerzu gegen die Gesichter agieren. In Filmen wie Liliom, Moonrise oder Street Angel geht dieser Abstraktionsgrad der Welten durch die sich die Gesichter bewegen trotz oder gerade wegen des Realismusanspruchs so weit, dass eine Straße zum Schauplatz für Illusionen wird. Manche Kreuzung wirkt wie ein Gemälde, in dem der Maler so mit Licht arbeitet, dass es einen besonderen Raum für das dort erscheinende Gesicht gibt. Womöglich versteckt sich in dieser Wahrnehmung aber nur der entfremdete Eindruck, wenn man im Zeitalter des Zynismus mit unbedingter Romantik konfrontiert wird.

Das Gewicht der Welt drückt und darunter leuchten die Gesichter. Oftmals sind große Filme nur das: Ein Hin und Her zwischen sich anblickenden Gesichtern. Was man daraus macht, dass Borzage selbst ein Borzage-Gesicht hatte, ist wiederum eine andere Frage.

Jachman will attend to it: Über Gesten und Auftritte

Man kann in den frühen Tonfilmen von Frank Borzage sehr gut sehen, was man meinen könnte, wenn man sagt: Dem Kino ist etwas verloren gegangen. Zum einen ist es die Geste, die schon Jacques Rivette in den 1950ern im Kino vermisst hat. Die Bewegung eines Körpers, eines Körperteils, irgendwie gelöst aus der Handlung und doch mitten aus und in ihr erblühend. Hände, die vors Gesicht geschlagen werden, wie sich Hände über Lippen bewegen, Berührungen zwischen Händen und die Art und Weise einer Verabschiedung, eines Winkens, eines Trotzes. Borzage, der sowohl im Stumm- wie auch im Tonfilm bleibende Werke geschaffen hat und zeigt, dass die filmgeschichtliche Grenze zwischen beiden Epochen keinen festen Gesetzen gehorchen muss, arbeitet in Filmen wie Liliom, Man’s Castle oder Bad Girl sehr viel mit Gesten, die niemals mit dem Ton kollidieren oder ihn bloß unterstützen. Sie sind eine eigene Kraft. Die Geste als ausdrucksstarkes Überbleibsel aus der Stummfilmzeit, aber durch das Zusammenbringen von Bewegung und Unbeweglichkeit an einer Wurzel des Kinos rüttelnd. Die gleiche Emotion in Sprache geäußert, wird diese Dichte an Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nie erreichen können. Werden Zuseher heute mit Gesten konfrontiert, fallen oft Wörter wie „künstlich“ oder „gesetzt“. Diese Gesten scheinen einem anderen Land anzugehören, das nicht mit dem blinden Natürlichkeitsbestrebungen des dominanten Kinos unserer Zeit in Verbindung zu bringen ist. Eine für mich herausragende Geste des Kinos, die viel stärker in mir brennt als jedes Zitat, ist das mit den gespreizten Fingern erzwungene Lächeln von Lilian Gish in Broken Blossoms von D.W. Griffith. Eine menschliche Bewegung, die sich in die Erinnerung brennt. Sie steht für weit mehr als die logische körperliche Reaktion auf bestimmte Situationen. Sie ist der körperliche Ausdruck einer Narration, das Innehalten einer Zeitlichkeit, das es Figuren und Schauspielern ermöglicht, sich zu schützen oder zu öffnen. Darin liegt eine Art Annäherung zwischen Betrachter und Figur, die auch sagt: Hier gibt es Dinge, die können wir nicht erzählen, hier, schaut wie wir uns fühlen. Man bekommt diesen Blick auf eine aus der Zeit in die Zeit gefallene Bewegung präsentiert, weil das Kino mehr sehen kann, als das in der Emotion erblindete Auge. Eine Lupe in der Zeit einer körperlichen Reaktion. Außerdem erzählen diese Gesten von der Würde und Anmut menschlicher Verzweiflung, Liebe oder Angst. Sie brechen einen Konflikt runter auf eine Essenz, die niemals klar wird, sondern in sich und ihrer Körperlichkeit wieder zigfach gebrochen wird.

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Einige Gedanken zu einer bemerkenswerten Sequenz in Little Man, What Now? von Borzage, der erste Auftritt einer der vielen unfassbaren, bunten und wilden Figuren des Films. Nachdem die durchgeknallte Mutter dem verliebten Borzage-Pärchen allerhand Versprechen unter dem Boden wegzieht, verweist sie auf ihren neuen Gönner/Liebhaber/Dandy, der auf den Namen Jachman hört. Er würde sich schon um die finanziellen Angelegenheiten der beiden kümmern. Sie sagt mehrfach: „Jachman will attend to it.“ und als sie aus dem Zimmer verschwindet und Borzage in eine seiner berüchtigten Zweiereinstellungen schneidet, bei denen die Köpfe eines Liebespaars, Backe an Backe die ganze Leinwand ausfüllen und die Augen in eine ungewisse Zukunft blicken, sagt der Mann noch verzweifelt: „Jachman will attend to it.“ Es folgt ein für diesen Film schneller Schnitt auf einen hastig durch die Straßen gehenden Mann. Er trägt einen Hut und einen Gehstock unter dem Arm geklemmt. Die Kamera fährt parallel, hängt allerdings ein wenig nach, sodass man das Gesicht des Mannes nicht sehen kann. Nach einer Sekunde hört man eine Stimme. Sie ruft nach „Jachman“, aber der Mann, dem die Kamera folgt, reagiert nicht. Das ganze wiederholt sich und schließlich kommt ein zweiter Mann ohne Schnitt ins Bild gelaufen und berührt den laufenden Mann am Arm. Jetzt schneidet Borzage in eine Halbnahe der beiden. Der Mann, dessen Gesicht wir nun sehen können, lächelt mit dem falschen und überzeugenden Charme eines Verbrechers. Er leugnet, Jachman zu sein. Sein Name wäre Hermann Kranz. Er wundert sich über die Frage des anderen Mannes, aber als dieser sich als Polizist zu erkennen gibt, reicht er ihm einige Briefe aus seiner Brusttasche, die zu bestätigen scheinen, dass es sich beim ihm um Herrn Kranz handele. Der Polizist gibt sich für Erste zufrieden, er holt eine Zigarre aus seiner Brusttasche, was Herrn Kranz, der natürlich Jachman ist zu einem beschwichtigten Klopfen auf die Schulter des Polizisten bewegt. Das wäre zu nett, alles sei gut, er wolle keine Zigarre. Dann huscht Jachman aus dem Bild und die Kamera korrigiert mit einem minimalen Schwenk das Framing, sodass man nun das Gesicht des Polizisten sieht, der ob des Verhaltens des Mannes den Kopf schüttelt und der natürlich noch einen Auftritt im Film haben wird.

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Eine Figur wird also eingeführt, indem sie leugnet, dass sie diese Figur ist. Ein famoser Schachzug von Borzage in einem Film, in dem es sehr viel um Schauspiel geht, das Schauspiel eines besseren Lebens, das man lebt und leben will, die Art und Weise wie man dieses Leben verkörpern könnte, die Anmaßung, die darin liegt und die kleinen Unterschiede, die entscheiden, ob man sich dieses Schauspiel erlauben kann oder nicht. Gemeinhin gilt John Ford als großer Filmemacher der Auftritte. Gerade weil er diese immer mit einer enormen Nonchalance präsentiert. Es geht auch darum, dass jeder noch so kleinen Nebenfigur ein Augenblick von Präsenz geschenkt wird, die über die narrative Bedeutung hinausreicht. Dadurch wirken viele Filme aus dem klassischen Hollywood weit mehr wie Dokumentationen, obwohl sie Figuren scheinbar sehr vereinfacht zeichnen. Die Kamera gibt den Figuren und sei es nur für diese eine, erste Szene einen Raum eine Person zu werden, eine Person unabhängig und gelöst vom Drehbuch. Es ist nicht so, dass es keine Auftritte mehr gäbe im Kino, vor allem bei großen Stars hat man schon noch das Gefühl, dass Filmemacher besonders darauf achten wie sie eine Figur zum ersten Mal zeigen. Was verloren gegangen ist, ist die Verdichtung einer Narration in einem solchen Auftritt, die Möglichkeit einer Erwartung, nicht indem man eine Tür filmt, durch die eine Figur kommen wird, sondern indem man die Figur selbst zu dieser Tür macht, die einem Wege öffnet und andere verschließt, deren Geschichte man irgendwie kennt, aber nicht genau weiß wie: Jachman will attend to it, so viel ist klar.