Leo der Spaziergänger

Keine Sorge, das wird keine dieser anstrengenden Huldigungen, die überlasse ich jenen, die glauben, ihr Herz an jene verlieren zu müssen, die mit vergoldeten Schuhen in Kunststoff treten. Aber etwas ist mir dann doch aufgefallen und ich fände es geradezu fahrlässig, das nicht zu Papier zu bringen, schließlich darf man nicht nur an den Lippen jener hängen, die uns unablässig erzählen, dass die populäre, zugleich vulgäre und edle Faszination am Calcio mit dem kalten und wettbewerbsfördernden Ergebnis zusammenhängt, dieser endlos gleichen, furchtbar anödenden Frage, wer denn nun gewonnen und wer verloren hat. Der wahre Tifoso (das Wort hängt übrigens mit der Infektionskrankheit Typhus zusammen, Dunst und schwindelerregendem Nebel) weiß es längst besser. Sie oder er interessiert sich nicht für das Ergebnis, es ist nämlich klar, dass alles, was heute auf der Anzeigetafel steht, morgen schon ganz anders aussehen kann. Vergangene Erfolge verenden in der Schnelllebigkeit, sich daran zu klammern, wäre fatal. Es ist ein großes Missverständnis, dass irgendwer als Sieger vom Platz gehen kann, man irrt, wenn man glaubt, dass eine Titelsammlung zählt im Angesicht der Vergesslichkeit der Welt. Es bleiben nur Namen und ein zweifelhafter Ruhm, der von Generation zu Generation weitergereicht wird wie Glaubensrituale. Das hilft vielleicht dem Einzelnen, der sich an den vergeblichen Trost der allerdings verblassenden Erinnerung klammern kann, aber nicht dem Sport, der sich unentwegt vergleichen muss mit dem mythologischen Gewicht, das sich inzwischen wie ein rettender Hafen, egal wie erlogen und übertrieben die alten Geschichten auch sein mögen, gegen die Kommerzialisierung und Banalisierung dieses Massenphänomens stemmt.

Nein, der wahre Tifoso spürt, dass es in seinem Sport nur um zwei Dinge gehen kann: Zum einen die Überwindung der Sinnhaftigkeit und zum anderen, um die lächerlichen, komödiantischen Beilagen dieser Überwindung. Die Überwindung der Sinnhaftigkeit kennt viele Schönheiten und eine Hässlichkeit. Ist es nicht wunderbar seltsam und willkürlich und gegen sämtliche physikalische, neoliberale, evolutionäre Logik gerichtet, dass ausgerechnet elf Spieler, nicht vier oder dreiundzwanzig mit ihren Füßen (und Beinen, Brüsten, Köpfen, Ärschen, Hüften, Rücken, Gesichtern, Hälsen, Geschlechtsteilen, Fersen, nur bitte nicht mit den Händen, auch wenn unklar ist, wo eine Hand beginnt und wo sie endet) in einem für diesen Zweck hergestellten, exakt abgewogenen und abgemessenen Kunststoffball treten, um zu versuchen, selbige Kugel in ein rechteckiges Gestänge zwischen das ein Netz gespannt wird, zu befördern, und dass sie diesem Ziel, also jenem, öfter in diese Maschen zu treffen als elf andere Spieler, von denen Jean-Paul Sartre einmal sagte, dass sie es seien, die den Sport unendlich erschwerten, folgen, in einer Spielzeit, die mit ungefähr zweimal 45 Minuten bemessen wird und dass Frauen und Männer mit Fahnen und Pfeifen versuchen, das Geschehen gemäß täglich zu Streits veranlassenden Regeln zu kontrollieren? Diese absurde Grundsituation (man stelle sich das Fußballfeld als eine Theaterbühne für ein Beckett-Stück vor) ermöglicht verschiedenen Faktoren, zum Beispiel dem Zufall, dem Unerklärlichen, dem Ungerechten oder dem Ästhetischen seit Jahrzehnten ein Überleben wider aller bürokratischen und finanzorientierten Versuche größerer Planbarkeit und damit verbundener Gewinnmaximierung. Die Überwindung der Sinnhaftigkeit, ein Tifoso weiß es, ist der romantische Kern seiner bescheuerten Liebe, der Grund, warum man einst vom schönen Sport sprach.

Doch damit einher geht auch eine Hässlichkeit, nämlich die, dass die Absurdität dieser Überwindung jeglicher Sinnhaftigkeit, effektiver scheint, wenn der Sport an Wichtigkeit gewinnt. Je wichtiger man den Stumpfsinn nimmt desto schöner seine Lächerlichkeit, desto größer die Befreiung vom täglichen Gewicht des Lebens, desto stärker die Gefühle. Diese Wichtigkeit jedoch steht in keinerlei Verhältnis zur Welt, aus der der Calcio auszubrechen verspricht. Schon vor Jahrzehnten hat dieser Sport, nicht zuletzt aufgrund seiner medialen Ausbeutung, so sehr an Wichtigkeit gewonnen, dass es ihm unmöglich wurde, ein Gegengewicht zum Alltag zu bilden. Stattdessen wurde er in diesen integriert, er wurde zum Diskursobjekt, Politikum, zum Grund scheiternder Ehen, zum Anlass für Gewalt, Nationalismen, zum Sinnbild kapitalistischer Ungleichheit, zum Anlass unerträglicher, nicht enden wollender Werbung, zur Perversion dessen, was einem ohnehin jeden Tag begegnet. Dabei könnte man sich leicht auf die lächerlichen und komödiantischen Begleitumstände konzentrieren. Ganz befreit von irgendeiner Bedeutung schwimmen sie im Dunstkreis dieses Sports.

Sie sind der Grund, warum der wahre Tifoso den Amateursport bevorzugt, denn er weiß, dass dort das Potenzial für die Unfassbarkeit, die Aushebelung physikalischer Grundsätze nicht nur höher ist als bei den Profis, sie ist auch vollkommen in ihrer Lächerlichkeit. Statt Sondersendungen im TV gibt es höchstens einen Lachanfall im Sportheim, weil die Nummer 4 in der 95. Minute vor Wut ihr Trikot zerrissen hat oder weil eine verirrte Krähe dem Torwart von der Latte in den Nacken kackte. Die Tatsache, dass eben jene Nummer 4, obwohl der Trainer mehrfach darauf hingewiesen hatte, Freistöße im Mittelfeld kurz auszuführen, bereits in der dritten Minute aus der Mitte einen hoffnungslos scheiternden, niemals vom Boden abhebenden Diagonalball (allein dieses Wort ist Ausdruck herrlicher Absurdität) in die Füße des Gegners schlägt, beschreibt das, was diesen Sport ausmacht. Die jüngste deutsche Faszination (kurzlebig wie sie war) für den irgendwie aus dieser echteren Welt stammenden Stürmer Niclas Füllkrug erzählt genau von diesem Begehren im Tifoso, das was sie oder er immer noch, zunehmenden verzweifelnd, in diesem Sport sucht.

Abhilfe schafft da nun ausgerechnet einer, der eben jene Romantik bislang eher mit Füßen trat. Es geht um den argentinischen Werbebotschafter für unzählige untragbare Unternehmen, Lionel Andrés „Leo“ Messi Cuccittini. Dieser Mann, der seit Jahren mehr und mehr aussieht wie ein alter, müder Karpfen in einem Aquarium, einer, der mit halbgeöffneten Mund nur noch langsam durch das trübe Wasser schwebt, so langsam, dass Kinder vor dem Aquarium mit dem Finger auf das Tier zeigen und ihre Mütter fragen, ob es ihm nicht gut gehe, hat zunächst mit der geradezu unmenschlichen Perfektion, der Eleganz und Effektivität seines Spiels die Lächerlichkeit hinterfragt (sein Spiel überwand die Wirklichkeit eher mit einem magischen Realismus, dem plötzlichen Auftauchen von Bewegungen, die man eigentlich nur erträumen konnte) und dann mit seiner geldorientierten Überwichtigkeit, der Arbeit für Scheichs und Fluggesellschaften, die er mit dem Charme eines Seelenlosen vermittelte. Messi strahlt nicht wie sein stets gegen die Regeln der Welt rebellierender Vorgänger Diego Maradona, Messi hat sich nicht auf die Seite der Verlierer geschlagen, um mit ihnen die Sinnhaftigkeit zu besiegen, nein, er ruht im Reich der Gewinner, jene, die den Calcio in den Abgrund geführt haben. Aber seit einigen Jahren begeistert der vergötterte Geselle mit einer Verhaltensauffälligkeit, die den Calcio von seiner aufgeblasenen Wichtigkeit zurück in die Schönheit seiner Lächerlichkeit führt. Dieser Messi hat sich nämlich entschieden, im hochkörperlichen, durchanalysierten modernen Leistungssport als geradezu teilnahmsloser Spaziergänger aufzutreten. Verträumt schlendert er über den Rasen und schaut sich um wie einer, der gar nicht weiß, was das alles soll und warum er hier gelandet ist. Er bleibt stehen und schaut sich um. Messi muss der einzige Spieler sein, der nach dem Spiel von der angenehmen Brise im Stadion, den Wolken am Himmel oder der Form der an den Grashalmen klebenden Spucke berichten kann. Damit tritt er nicht in die Fußstapfen von Pelé oder Maradona, sondern in jene von Robert Walser oder Charles Baudelaire.

Messi ist ein Seelenverwandter Peter Handkes. Während um ihn alle wie aufgescheuchte Hennen rennen, verteidigt er verkrampft und doch erhaben die Langsamkeit. Messi ist ein Flaneur. Das hat schon begonnen, als er noch in Barcelona lebte, da hat man ihn manchmal dreihundert Meter weit im Abseits spazieren sehen, die um ihn herrschende Panik ignorierend. Es mag stimmen, dass seine Trägheit trügt, dass sie eher an ein Raubtier erinnert, das sich möglichst wenig bewegt, um nicht von der Beute ertappt zu werden, aber Messi hat sein Flanieren so perfektioniert, dass es selbst zum Sinn seines Spiels wurde. Es ist egal, ob Messi plötzlich explodiert und ein Tor schießt, der Tifoso weiß, dass es viel schöner ist, ihm beim Spazieren zuzusehen. Schritt für Schritt, es ist eine Zeitlupe, die endlich verlangsamt, was immer schneller wurde. Manchmal steht er einfach da. Man ist sich nicht sicher, ob ihm gerade ein Gedanke kommt, ein revolutionärer Einfall womöglich, einer, der alles verändern könnte oder ob er einfach nur in der Leere verweilt wie ein Stumpfsinniger in der Wüste. Es gibt Phasen in einem Spiel, in denen schaut Messi nicht mal in die Richtung des Balls. Es interessiert ihn nicht, er hat Besseres zu tun. Im Amateursport gibt es viele solche Messis, es sind die, die ehemals höher gespielt haben, die heute mit Bierbauch im Mittelkreis stehen und die Bälle verteilen, die zu einem Sprint pro Spiel ansetzen und sich dabei fast zerren. Aber Messi geht schöner als sie, er geht schöner, weil das langsame Gehen viel mehr bedeutet, wenn alle anderen rennen. Der wahre Tifoso weiß, dass Messis Auszeichnungen zum Spieler des Spiels nichts mit seinen Toren zu tun hat. Er bekommt die Trophäen dafür, dass er die Kunst des Gehens in der wichtigtuerischen Aufgescheuchtheit verteidigt. Dank ihm lebt der Calcio, man kann nur hoffen, dass er noch einige Jahre weitergeht, denn je älter er wird desto langsamer wird er gehen, desto mehr wird er stehen und desto reiner wird sein Aufbegehren gegen die Schnelllebigkeit.