Jachman will attend to it: Über Gesten und Auftritte

Man kann in den frühen Tonfilmen von Frank Borzage sehr gut sehen, was man meinen könnte, wenn man sagt: Dem Kino ist etwas verloren gegangen. Zum einen ist es die Geste, die schon Jacques Rivette in den 1950ern im Kino vermisst hat. Die Bewegung eines Körpers, eines Körperteils, irgendwie gelöst aus der Handlung und doch mitten aus und in ihr erblühend. Hände, die vors Gesicht geschlagen werden, wie sich Hände über Lippen bewegen, Berührungen zwischen Händen und die Art und Weise einer Verabschiedung, eines Winkens, eines Trotzes. Borzage, der sowohl im Stumm- wie auch im Tonfilm bleibende Werke geschaffen hat und zeigt, dass die filmgeschichtliche Grenze zwischen beiden Epochen keinen festen Gesetzen gehorchen muss, arbeitet in Filmen wie Liliom, Man’s Castle oder Bad Girl sehr viel mit Gesten, die niemals mit dem Ton kollidieren oder ihn bloß unterstützen. Sie sind eine eigene Kraft. Die Geste als ausdrucksstarkes Überbleibsel aus der Stummfilmzeit, aber durch das Zusammenbringen von Bewegung und Unbeweglichkeit an einer Wurzel des Kinos rüttelnd. Die gleiche Emotion in Sprache geäußert, wird diese Dichte an Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nie erreichen können. Werden Zuseher heute mit Gesten konfrontiert, fallen oft Wörter wie „künstlich“ oder „gesetzt“. Diese Gesten scheinen einem anderen Land anzugehören, das nicht mit dem blinden Natürlichkeitsbestrebungen des dominanten Kinos unserer Zeit in Verbindung zu bringen ist. Eine für mich herausragende Geste des Kinos, die viel stärker in mir brennt als jedes Zitat, ist das mit den gespreizten Fingern erzwungene Lächeln von Lilian Gish in Broken Blossoms von D.W. Griffith. Eine menschliche Bewegung, die sich in die Erinnerung brennt. Sie steht für weit mehr als die logische körperliche Reaktion auf bestimmte Situationen. Sie ist der körperliche Ausdruck einer Narration, das Innehalten einer Zeitlichkeit, das es Figuren und Schauspielern ermöglicht, sich zu schützen oder zu öffnen. Darin liegt eine Art Annäherung zwischen Betrachter und Figur, die auch sagt: Hier gibt es Dinge, die können wir nicht erzählen, hier, schaut wie wir uns fühlen. Man bekommt diesen Blick auf eine aus der Zeit in die Zeit gefallene Bewegung präsentiert, weil das Kino mehr sehen kann, als das in der Emotion erblindete Auge. Eine Lupe in der Zeit einer körperlichen Reaktion. Außerdem erzählen diese Gesten von der Würde und Anmut menschlicher Verzweiflung, Liebe oder Angst. Sie brechen einen Konflikt runter auf eine Essenz, die niemals klar wird, sondern in sich und ihrer Körperlichkeit wieder zigfach gebrochen wird.

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Einige Gedanken zu einer bemerkenswerten Sequenz in Little Man, What Now? von Borzage, der erste Auftritt einer der vielen unfassbaren, bunten und wilden Figuren des Films. Nachdem die durchgeknallte Mutter dem verliebten Borzage-Pärchen allerhand Versprechen unter dem Boden wegzieht, verweist sie auf ihren neuen Gönner/Liebhaber/Dandy, der auf den Namen Jachman hört. Er würde sich schon um die finanziellen Angelegenheiten der beiden kümmern. Sie sagt mehrfach: „Jachman will attend to it.“ und als sie aus dem Zimmer verschwindet und Borzage in eine seiner berüchtigten Zweiereinstellungen schneidet, bei denen die Köpfe eines Liebespaars, Backe an Backe die ganze Leinwand ausfüllen und die Augen in eine ungewisse Zukunft blicken, sagt der Mann noch verzweifelt: „Jachman will attend to it.“ Es folgt ein für diesen Film schneller Schnitt auf einen hastig durch die Straßen gehenden Mann. Er trägt einen Hut und einen Gehstock unter dem Arm geklemmt. Die Kamera fährt parallel, hängt allerdings ein wenig nach, sodass man das Gesicht des Mannes nicht sehen kann. Nach einer Sekunde hört man eine Stimme. Sie ruft nach „Jachman“, aber der Mann, dem die Kamera folgt, reagiert nicht. Das ganze wiederholt sich und schließlich kommt ein zweiter Mann ohne Schnitt ins Bild gelaufen und berührt den laufenden Mann am Arm. Jetzt schneidet Borzage in eine Halbnahe der beiden. Der Mann, dessen Gesicht wir nun sehen können, lächelt mit dem falschen und überzeugenden Charme eines Verbrechers. Er leugnet, Jachman zu sein. Sein Name wäre Hermann Kranz. Er wundert sich über die Frage des anderen Mannes, aber als dieser sich als Polizist zu erkennen gibt, reicht er ihm einige Briefe aus seiner Brusttasche, die zu bestätigen scheinen, dass es sich beim ihm um Herrn Kranz handele. Der Polizist gibt sich für Erste zufrieden, er holt eine Zigarre aus seiner Brusttasche, was Herrn Kranz, der natürlich Jachman ist zu einem beschwichtigten Klopfen auf die Schulter des Polizisten bewegt. Das wäre zu nett, alles sei gut, er wolle keine Zigarre. Dann huscht Jachman aus dem Bild und die Kamera korrigiert mit einem minimalen Schwenk das Framing, sodass man nun das Gesicht des Polizisten sieht, der ob des Verhaltens des Mannes den Kopf schüttelt und der natürlich noch einen Auftritt im Film haben wird.

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Eine Figur wird also eingeführt, indem sie leugnet, dass sie diese Figur ist. Ein famoser Schachzug von Borzage in einem Film, in dem es sehr viel um Schauspiel geht, das Schauspiel eines besseren Lebens, das man lebt und leben will, die Art und Weise wie man dieses Leben verkörpern könnte, die Anmaßung, die darin liegt und die kleinen Unterschiede, die entscheiden, ob man sich dieses Schauspiel erlauben kann oder nicht. Gemeinhin gilt John Ford als großer Filmemacher der Auftritte. Gerade weil er diese immer mit einer enormen Nonchalance präsentiert. Es geht auch darum, dass jeder noch so kleinen Nebenfigur ein Augenblick von Präsenz geschenkt wird, die über die narrative Bedeutung hinausreicht. Dadurch wirken viele Filme aus dem klassischen Hollywood weit mehr wie Dokumentationen, obwohl sie Figuren scheinbar sehr vereinfacht zeichnen. Die Kamera gibt den Figuren und sei es nur für diese eine, erste Szene einen Raum eine Person zu werden, eine Person unabhängig und gelöst vom Drehbuch. Es ist nicht so, dass es keine Auftritte mehr gäbe im Kino, vor allem bei großen Stars hat man schon noch das Gefühl, dass Filmemacher besonders darauf achten wie sie eine Figur zum ersten Mal zeigen. Was verloren gegangen ist, ist die Verdichtung einer Narration in einem solchen Auftritt, die Möglichkeit einer Erwartung, nicht indem man eine Tür filmt, durch die eine Figur kommen wird, sondern indem man die Figur selbst zu dieser Tür macht, die einem Wege öffnet und andere verschließt, deren Geschichte man irgendwie kennt, aber nicht genau weiß wie: Jachman will attend to it, so viel ist klar.