Pabst-Retro: Hybrid-Fever: Le Drame de Shanghai

Das Fieber, das westliche Regisseure mit ihren Blicken auf asiatische Metropolen und Stätten oft zu befallen scheint, ist voller Lust und Gefahr. Undurchschaubare Gesichter, die wir nicht kennen, Unbekanntes, der Abgrund fehlender Kommunikation. Eigentlich sind solche Inszenierungen heute nicht zuletzt aus politischer Sicht kaum mehr tragbar, aber es geht auch etwas daran verloren. Die Überhöhung und Fiktionalisierung des Blicks von Hollywood oder anderen westlichen Produktionen auf das Fremde ist mit problematischen Vorurteilen gespickt, sie ist aber auch voller Sehnsucht und Sensibilität. Heute haben wir eine Tendenz bei großen Produktionen gar keinen Blick mehr zu haben, also das Fremde einfach zu ignorieren statt zu versuchen ihm eine Materialität und/oder Stimme zu geben. Wenn jemand einen subjektiven Blick auf etwas Fremdes wirft, dann darf sich dieses Fremde natürlich als fremd offenbaren. Wichtig ist dann nur, dass der Blick als subjektiv reflektiert wird. Ansonsten scheint es mir essentiell, eine Anstrengung zu unternehmen. Die Bequemlichkeit einer Subjektivität muss hinterfragt werden. Nicht, weil man einen objektiven Film machen könnte, sondern weil man in die Subjektivität einen Zweifel legen muss. Man kann dem Fremden eine Stimme geben, man kann sich interessieren, zuhören, vielleicht darf erst dann Fiktion entstehen.

In Le Drame de Shanghai der bei der Retro im Filmarchiv Austria ohne Untertitel gezeigt wurde, findet sich die Tendenz des Fiebers genauso stark wie eine gegenläufige, die beständig die Handlung in einen geschichtlichen Kontext packen will. Dabei interessiert sich Pabst in dieser Adaption eines Romans von Oscar Paul Gilbert weniger für das Noir-Potenzial seiner mysteriösen Handlung als für eine Schicksalssinfonie zwischen Tochter und Mutter und dem Ziel diese Hölle zu verlassen. Doch die Schicksalssinfonie wird zu einem Echo und darin liegt die große Kraft des Films. Pabst macht hier ein Drama in Shanghai und ein Shanghai-Drama und sie gehen zusammen. Im Hinblick auf das moderne Kino, das sich solchen Orten nähert, wie jenes von Jia Zhang-ke oder jenes von João Rui Guerra da Mata & João Pedro Rodrigues macht Pabst hier einen großartigen Vorläufer, dessen Fiktionalität sich mehr und mehr auflöst bis sie in einem Messerstoß aus dem Film verschwindet, als hätte es sie nie gegeben. Die Emotion einer Identifikation wird von der Unaufhaltsamkeit einer Masse, die Geschichte repräsentiert, geschluckt.

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Das Gefühl des Eingesperrtseins durchdringt die ersten Filme der Pabst-Retrospektive mit Konstanz, es ist das Gefühl des machtlosen Wartens. Erzählt wird von Kay Murphy einer russischen Emigrantin und Sängerin und ihrer Tochter, die mit nervender Naivität in diese düstere Welt kommt, um sogleich wieder gehen zu wollen. Etwas hat sich verändert in Shanghai. Hinter den Kulissen tummeln sich Chinesen mit tödlichen Spritzen, kriminelle Organisationen, die sich mit schwarzen Drachen schmücken, lenken die Geschicke und letztlich auch das Schicksal der Sängerin. Manchmal fährt Pabst mit der Kamera durch die Menschen, die dem Gesang lauschen, manchmal brechen Unschärfen am Rand der Bilder die Gesichter der Massen auf. Diese Fahrten schaffen es allerdings nicht immer die etwas lieblosen Sets mit Gefühlen zu füllen. Dennoch sind es unruhige, bedrohliche Stimmungen, die sich etablieren und die spannenderweise in einem französischen Gesicht ihren ambivalenten Höhepunkt erreichen. Louis Jouvet (Entre onze heures et minuit ist er immer am schönsten) mit einer Narbe auf der Stirn, das Vertrauen einer Rasierklänge erweckend. Ansonsten lockert Pabst das geschehen über eine Howard Hawks-artige Journalismusgeschichte auf, die egal in welcher Situation möglichst unberührt von alledem abläuft. Was schon im Titel klar ist: Es ist ein Drama, keine Komödie und Pabst hält sich an diese Vorgaben aus dem Theater.

Nach und nach werden immer mehr Found Footage Aufnahmen aus China im Film integriert. Der Freiheitskampf, Menschen auf den Straßen, der Chinesische Bürgerkrieg in den 1930ern. Pabst vermischt virtuos melodramatische und journalistische Element bis alles zu einer einzelnen Bewegung, jener des Dramas wird. Was zunächst wie das große Drama inszeniert wurde in Nahaufnahmen der Augen von Christiane Mardayn, der Zusammenführung unterschiedlicher Linien zu einer Katastrophe, erscheint plötzlich trivial. Es ist nur, was man erzählen kann, nicht was wirklich war. Ein erstaunlich moderner Film.

Copie Conforme: Entre onze heures et minuit von Henri Decoin

Man kann wohl unterscheiden zwischen Filmen, die mehr in einen Dialog mit der Welt treten und Filmen, die mehr in einen Dialog mit dem Kino treten. Entre onze heures et minuit von Schwimmweltmeister Henri Decoin gehört mit großer Sicherheit zu letzterer Kategorie. Es ist ein vogelwilder Meta-Noir-Doppelgänger-Film, besessen von den Welten des amerikanischen Genres und so sehr darin verhaftet, dass er ständig zur gleichen Zeit parodistisch und todernst daherkommt. Schon zu Beginn erfährt man die Gangart, als in einer Art Prolog vor einem Filmtheater über die Doppelgänger des Kinos philosophiert wird. Mit dabei sind neben Charlie Chaplin in The Great Dictator auch Edward G. Robinson in The Whole Town’s Talking und Louis Jouvet in Copie Conforme. Der Doppelgänger habe Hochkonjunktur im Kino. Es ist eben jener Jouvet, der auch in Entre onze heures et minuit die Hauptrolle spielt und so kann man diesen Beginn schon fast als eine ironische Rechtfertigung für den Film betrachten. Ähnliches konnte man vor kurzem in Abel Ferraras Welcome to New York sehen. Menschen treten aus dem Kino und Decoin beginnt hier sein Statement für eine Welt der Illusionen und Geheimnisse abzufeuern. Sie beschweren sich über die Unglaubwürdigkeit solcher Filme. Eine verbitterte, ältere Frau mit herunterhängenden Mundwinkeln, die ständig den Blicken ihres Gatten ausweicht und von einer Erzählstimme als „charmant“ bezeichnet wird, sagt diesem auf die merkwürdigste und desillusionierendste Art, dass er einzigartig sei. Die beiden rechtfertigen die Realität als dem Kino überlegen, aber sie haben ihre Rechnung ohne Decoin gemacht. Die beiden setzen sich in ihr Auto und plötzlich taucht ein Doppelgänger vor ihnen auf.

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Von diesem Zeitpunkt gibt es kein zurück mehr, es geht hinein in die Schattenwelten des Kinos, das Herauskommen aus dem Tempel des Films zum Auftakt war die sinnlose Geste einer Desillusionierung, denn was Decoin uns klarmacht ist, dass der doppelte Boden des Kinos überall lauern kann. Darüber hinaus ist es gerade die Unsicherheit über Original und Fälschung, die hier zur gleichen Zeit Spannung und Humor beinhaltet. Auf einmal befinden wir uns in einem Tunnel. Mit Blenden und extrem untersichtigen Einstellungen folgen wir Schatten an der Wand, Lichter spiegeln sich auf den dunklen Gangsterautos. Es gibt Schüsse, jemand geht zu Boden. Wer hat geschossen? Dann lernen wir Jouvet in der Rolle des Kommisars Carrel kennen. Ein grimmiger, wachsamer Mann, der einmal sagt, dass er ab jetzt lieben und geliebt werden will und das auf keinen und doch auf jeden Fall ernst meint. Er ermittelt in einem Haus, indem man sein eigenes Wort kaum verstehen kann, wenn die Pariser U-Bahn vorbeifährt. Solche Absurditäten am Rande ziehen sich durch den ganzen Film. So nehmen sich Polizisten gegenseitig Krümel aus dem Gesicht während Gangster sich beständig an ihren eigenen Plänen erfreuen. Auf einer Modeschau, die mit dem Gang einer Frau beginnt, bei dem man nicht weiß, ob es sich um eine Zeitlupe handelt oder nicht, werden die Kleider nach Bestsellerromanen benannt: „I killed a cop“, woanders kommt sich ein Kleingangster vor wie in einem synchronisierten Film.

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Ein Polizist flüstert Carrel etwas ins Ohr. Es geht um die Leiche im Tunnel: Diese würde dem Kommissar bis zu den Haarspitzen ähneln! Et voilà, willkommen im reigenhaften Spiel der Wendungen und irrsinnigen Situationen. Natürlich wird Carrel in die Rolle des eigentlich Verstorbenen schlüpfen und sozusagen under cover of his own face ermitteln. Original und Fälschung machen Liebe bis zur nebeligen Grenze der ironisch-düsteren Noir-Landschaft. So taucht der doppelte Boden bald auch in den kriminellen Plänen des eigentlich verstorbenen Vidauban auf, der sich bei einer Modeschau als Opfer inszenieren wollte, obwohl er ein Täter war. Vidauban, so wird einmal bemerkt, das könnte auch der Name eines Getränks oder einer Pille sein und so folgt die Logik des Films einer Unsicherheit über Wahrheit und Fälschung bis zu den Geldscheinen und natürlich der Liebe selbst, die sich womöglich im absurden Spiel zwischen dem Kommissar und der Leiche finden lässt.

Man darf sich hier nicht vorstellen, dass Carrel im Stil eines vorbereiteten Superagenten in die Rolle des Kriminellen schlüpft. Ganz im Gegenteil, er ist ein Improvisationskünstler, der ständig aus dem Verhalten, der Aussagen und der Mimik seines jeweiligen Gegenübers filtern muss, warum er eigentlich hier ist. Daraus entstehen äußerst komische Dialoge und Situationen. Ein Höhepunkt ist sicherlich eine Szene im Tanzlokal. Eine blonde Frau, rauchend, fordernd, sitzt am Nebentisch und starrt den verunsicherten Carrel als Vidauban beständig verlockend an. Carrel blickt immer wieder etwas hilflos und fragend zu ihr. Hier offenbart sich die ganze Kraft von Entre onze heures et minuit, denn zum einen ensteht aus dem Geheimnis um diese Frau ein Spannungsmoment, eine gefährliche Situation um eine mögliche Mörderin und Femme Fatale im jazzigen Dunst eines Blicks, der ganz im Gegenteil zu jenem der „charmanten“ Frau zu Beginn des Films tausend Geschichten in sich trägt und zum anderen liegt in der Hilflosigkeit und Verlorenheit von Carrel die Komik, das Parodistische. Dieser doppelte Boden hat es wirklich in sich, weil die für das Genre so entscheidende „Und dann?“ Logik hier wie so oft in ein Labyrinth führt, aber dieses Labyrinth besteht aus Spiegeln, die einem zum Lachen bringen. Oft denkt man mehr an Lubitsch als an Carol Reed, aber Reed verschwindet nie völlig.

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Es ist der verspielte Inszenierungsrausch, der aus einer augenzwinkernden Liebe zum Kino entsteht, die Decoin aufgesaugt hat und durch den Zigarettenrauch geheimnisvoller Gesichter wieder auf die Leinwand bläst. Dabei macht er keinen besonders gefährlichen oder außergewöhnlichen Film, aber in der handwerklichen Souveränität und Vielschichtigkeit entfaltet sich eine Wildheit, die einen diese Liebe zum Kino spüren lässt. Ich habe solche Filme lange Zeit Truffaut-Filme genannt, vielleicht lag das an persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen, vielleicht, weil man nach einem solchen Film Truffaut sein möchte, mit Lederjacke und Enthusiasmus,das Kino gesehen und geküsst.