Richard Leacock über Louise Brooks: Als ob es gestern gewesen sei

Ein Gespräch mit Richard Leacock über Louise Brooks. Das Gespräch fand 2006 in Paris statt.

„Für mich war klar, dass unser Gespräch im Mittelpunkt stehen würde, da ist der Titel A Conversation with Louise Brooks auch sehr präzise: Man weiß, worauf man sich einlässt. Oder auch nicht. Das ist schon so lange her! Wir hatten beide schon vorher miteinander telefoniert. Sie öffnete die Tür und bat mich, die Schuhe auszuziehen. Das tat ich.

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Ein sauberes, kleines Apartment. Eigentlich mochte sie keine Besuche, sie hatte irgendwie Angst, dass man ihr die Mietbeihilfe streichen würde, wenn bei ihr die Leute ein und aus gingen. Wir setzten uns, und sofort begann sie über G. W. Pabst zu sprechen, soweit ich mich erinnere. Das war ein einfacher und logischer Beginn, da wir ihn beide enorm respektierten. So viele Filme von ihr kannte ich gar nicht, aber natürlich die beiden, die sie mit Pabst gedreht hatte. Erst wollte sie diesen direkten Kontakt nicht, rief mich nur immer an aus Rochester, sie hatte ja da diese kleine Wohnung, und eines Tages vergaß sie wohl all ihre Vorsicht und hinterließ ihre Telefonnummer auf meinem Anrufbeantworter! Ich rief sie zurück, und endlich sagte sie zu. Und natürlich wollte sie ein Honorar haben. Ich wartete ab, dachte schon darüber nach, was ich alles würde verkaufen müssen, um mir das leisten zu können. Produziert habe ich den Film damals fürs deutsche Fernsehen. Sie war erst gar nicht begeistert von der ganzen Idee. Jahre vorher hatte dieser Amerikaner, der vom New Yorker … Kenneth Tynan … genau der! Der hatte irgendwelchen Unsinn angestellt, wilde Texte geschrieben, auf jeden Fall war ihr das alles später nicht recht gewesen. Und dann rief sie mich an und sagte, dass sie das Interview machen würde, ich müsste ihr aber einen Bankscheck mitbringen. Über 300 Dollar! Das muss man sich vorstellen, das ist ja nichts! Und was mit Tynan war, das weiß ich nicht so genau. Ich glaube, er hat einfach Dinge geschrieben, die sie ihm im Vertrauen gesagt hatte. So was macht man auch nicht: alles Mögliche erzählen und sich dann nachher wundern, dass es veröffentlicht wird! Es waren ja nicht alle so von ihr begeistert. George Cukor fragte mich später auch: „Was habt ihr nur mit der? Die ist doch völlig unwichtig!“

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Das Besondere an meinem Film war, dass einfach zwei Leute zusammensaßen, die Ahnung hatten, wovon sie sprachen. Das ist auch heute selten genug. Sie hat gerne und auch viel geredet: Als sie mich damals anrief, sagte sie noch, dass sie nun seit vier Tagen nichts getrunken habe und ihr Kopf frei sei. Das darf man bei ihr nicht unterschätzen: Das Trinken, das war tatsächlich schlimm. Ich kannte das damals selbst, wir wussten beide sehr gut Bescheid, besser, als gut für uns war. Vier Tage nichts getrunken, um mit mir reden zu können! Alles war in ihrem Kopf, als ob es gestern gewesen sei. Und viel zu Papst. Ja. Sie liebte Pabst, sie mochte überhaupt Männer, die ihr sagten, was sie zu tun hatte. Sie mochte Menschen um sich herum, die sie für klug hielt, die ihr etwas beibringen konnten. Sie hielt sich ja nicht für besonders klug, obwohl sie es doch war. Die Gespräche mit ihr, das war immer das reinste Ping-Pong-Spiel. Und ihre Texte später, sie hat einfach herrlich geschrieben, klug und wortgewandt, sie wusste, wovon sie sprach. Die Wohnung war voll von Büchern, aber über Bücher haben wir nicht gesprochen. Aber über Pabst. Und über Riefenstahl. Da war sie immer etwas eifersüchtig. Die tauchte ja immer am Set auf, schnappte sich Pabst, verschwand in die hinterste Ecke mit ihm; ich glaube, sie wollte ihn anheuern für ihre Truppe. Pabst hat immer auf Louise aufgepasst, hat ihr ununterbrochen irgendwas aus der Hand gerissen, entweder das Glas oder die Zigaretten. Und früh im Bett sein musste sie auch; das kannte sie so gar nicht, dass der Regisseur sich darum kümmerte, dass du wohlbehalten und vor allem früh genug im Hotel warst. Über Riefenstahl wollte ich auch immer was machen … Und ich sollte ja einen Film mit ihr machen, aber mein Deutsch war nicht gut genug, um mich wirklich mit ihr unterhalten zu können. Ich habe ja damals im Internat Deutsch gelernt, die Deutschlehrerin war …, ich war damals ganz verliebt in sie, und da habe ich eben Deutsch gelernt. Als Filmemacherin habe ich Riefenstahl immer sehr respektiert. Sie kannte Pabst, er hat ja auch für Hitler gearbeitet. Sie hat geschauspielert und Regie geführt, sehr geschickt war sie in allem. Triumph des Willens hat herrlich aufgelöste Szenen, diese kämpfenden Männer, und sie arbeitete mit Synchronton, das kannte man damals nicht. Vor der Büchse der Pandora kannte Pabst Louise nicht. Er wusste nichts über Louise. Es gibt doch diese herrliche Tanzszene am Anfang, diese Szene mit der Mundharmonika. Pabst wusste gar nicht, dass Louise tanzen konnte. Und so wartete er einfach mal ab, was sie denn da improvisieren würde. Und als er sah, dass sie tanzen konnte! Er schnappte sie nach dem Take und jubelte: Du kannst ja tanzen! Man stelle sich das vor: Er wirbelte sie herum und freute sich.

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Louise mochte ihn sehr und fühlte sich von ihm verstanden. Er kümmerte sich sehr um sie, ließ sie aber auch gleichzeitig in Ruhe. Er sagte ihr vor jedem Dreh einfach, was sie zu tun hatte: Geh die Treppe runter und schau traurig. Das tat sie dann. Er erklärte überhaupt keine Zusammenhänge. Er wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie erzählt ja in meinem Film, wie sie und Pabst sich am Bahnhof Zoo in Berlin trafen, als ob sie sich schon immer gekannt hätten. Solche Menschen gibt es. Manchmal trifft man sie. Mit Louise und mir war das auch so. Wir kamen gut miteinander aus. Sie sagte, ich hätte sie zum Lachen gebracht.“

Richard Leacock, drehte im März 1974 in Rochester für den Norddeutschen Rundfunk den mehrteiligen Interviewfilm A Conversation with Louise Brooks, der damals zusammen mit Die Büchse der Pandora ausgestrahlt wurde und hauptsächlich Brooks’ Erinnerungen an G. W. Pabst beinhaltet. Es ist einer von insgesamt drei Brooks-Interviewfilmen und war nach ihrer eigenen Aussage derjenige, der ihr den größten Spaß bereitet hatte.

Die Geister, die ich rief: Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

Geister der Vergangenheit, Phantome der Filmgeschichte. Wenn Filme miteinander in Dialog treten ist das immer eine spannende Sache. Während im Zeughauskino weiter die Autorinnen der 60er das Sagen haben, zeigte das Arsenal Kino Sonntagabend Georg Wilhelm Pabsts Tagebuch einer Verlorenen. Pabst ist natürlich keine Frau, sondern ein Mann, aber Thymian Henning (Louise Brooks in eine ihrer größten Rollen), die titelgebende Verlorene, ist eine Figur, die in vielerlei Hinsicht den Frauenfiguren der Autorinnen rund vierzig Jahre später voranschreitet.

Zunächst scheint Thymians Welt noch von Männern und der patriarchalischen Gesellschaft bestimmt. Sie wird vom Angestellten ihres Vaters vergewaltigt und geschwängert. Dieser will sie nicht heiraten und so schiebt sie der Familienrat ins Reformhaus ab. Ja die Familienehre, die muss um jeden Preis hochgehalten werden. Die naive Thymian wächst in der Erziehungsanstalt zur Heldin heran. Sie will raus aus diesen ungastlichen Mauern, zurück in die Welt, zurück zu ihrem Kind und etwas aus ihrem Leben machen. Der Schlafsaal wird schließlich zum Ort der Rebellion (wie bei Jean Vigo, einem anderen großer Virtuosen des harmonischen, fließenden Lichtspiels). Zusammen mit ihrer Freundin Erika büxt sie aus und landet schließlich im Bordell. Ein paar tragische Todesfälle später und Thymian kehrt als Gräfin an den Schauplatz ihres Erwachens zurück. In einer letzten großen Geste, der endgültige Triumph: Ihre Freundin Erika ist wieder in dieser menschenverachtenden Erziehungsanstalt gelandet. Thymian will die Heuchlerei der adeligen Damen, die sie in ihren Weltverbessererverein aufgenommen haben nicht mitmachen, stellt sich schützend vor Erika und nimmt sie einfach mit, denn „auch ich war einmal, was sie jetzt ist“.

Anders als die Heldinnen der Autorinnenfilme der 60er Jahre, behält Thymian die Oberhand. Obwohl sie zunächst den Männern hilflos ausgeliefert ist, folgt ein umso radikaleres Erwachen, das in Revolte gegen Scheinheiligkeit und Bourgeoisie endet. Thymian ist Klassenkämpferin und Suffragette und nimmt sich schließlich eiskalt was sie braucht, indem sie das Mitleid und die Schuldgefühle des alten Grafen, der sie aufnimmt zu ihrem Vorteil nutzt. Zwar bleibt sie dadurch abhängig von dessen finanziellen Mitteln (auch Thymians Emanzipation ist nicht vollständig), doch ihr Handeln ist kompromisslos. Anders als die Belle Starr aus Lina Wertmüllers Il mio corpo per un poker gibt sie nicht ihren Gefühlen für einen Mann nach. Anders als die Eva in O něčem jiném bleibt sie nicht in der Maschinerie gefangen, die ihr selbst das Leben vermiest hat. Anders als die Antigone in Liliana Cavanis I cannibali, muss sie ihren Aufstand nicht mit dem Leben bezahlen. Und anders als Nelly Kaplans Marie in La fiancée du pirate, muss sie ihre Freiheit nicht mit ihrem Körper erkaufen.

Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

In einem entscheidenden Punkt bleibt Thymian jedoch hinter all jenen späteren Figuren zurück: Sie ist keine Frau, sondern eine Traumgestalt. Selbst in der Tristesse der Beziehungsanstalt behält sie ihr gestyltes Äußeres, nachdem sie die Schwierigkeiten ihres Lebens einmal überwunden hat, fällt ihr alles ganz einfach zu. In Büchse der Pandora ließ er Brooks‘ Figur noch elendiglich zugrunde gehen, nun bleibt sie Siegerin – ist das Inkonsequenz oder passt diese Wendung des Schicksals in das Gesamtbild des Films, dieses märchenhafte Konstrukt? Tagebuch einer Verlorenen ist ein doppelter Schwanengesang: 1929 als die Weltwirtschaftskrise das Ende der Roaring Twenties einläutete und die Filmemacher die (Stumm-) Filmkunst perfektioniert hatten, findet die gleitende, über alle Zweifel erhabene Montagekunst Pabsts ihr Ende. Die Einführung des Tonfilms sorgte für neue Herausforderungen, die zu einem neuen, sehr spannenden Stück Filmgeschichte führen. Auch inhaltlich scheint eine Geschichte wie jene von Thymian in den frühen 30ern undenkbar (ein Schicksal, dass sie mit Harold Lloyd teilt); die Zeit der Märchen war bis auf weiteres vorbei.