„La Putain“ Maurice Pialat

Maurice Pialat, das sind Körper, die sich reiben, Hindernisse, an denen man hängen bleiben muss. Immer wieder vergisst eine Figur etwas, die Kamera schwenkt mit ihr, der Weg zurück, der doppelte Weg. Man bleibt hängen, an Gegenständen, an anderen Körpern, am Vergessen. Alle Räume sind zu voll. Dann ein Sprung in der Zeit. Ein Schnitt, das sind manchmal Monate, manchmal nur Sekunden. Pialat behandelt beides gleich. Beides als Schnitt. Was dazwischen passiert ist, passiert wirklich. Pialat, das ist ein Schlag ins Gesicht, ins Gesicht von Frauen und damit ins Gesicht von Männern. Es ist schwierig. Pialat, das ist wunderschön, einfach, das kann ein Hund sein, ein Schluck Wein. Wie in Van Gogh, dem schönsten und grausamsten Film des Mannes, weil Schönheit bei ihm Einsamkeit erzählt. Man verbringt Zeit mit Pialat. Zeit miteinander, die einem bewusst macht, wie einsam man ist.

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Pialat hat Angst vor dem Naturalismus und wie seine Kollegen John Cassavetes und Cristi Puiu ist sein Ausweg nicht in die Abstraktion oder Kadrierung, nein, der Ausweg von Pialat ist hinein in die Natur. Diese Filmemacher zeigen, dass es einen Naturalismus gibt, der so weit geht, dass er nicht mehr nur ein Spiel ist, nicht mehr bloß Theater. Wie sonst meist. Es gibt Körper, ja, es gibt ihre Präsenz. Sie atmen, sie rennen, arbeiten, Pialat, das ist Körperarbeit. Manchmal denkt man fast an die Dardennes dabei, aber bei Pialat da existiert das Drama im Körper, nicht der Körper im Drama. Die Dardennes sind in ihrer besseren Zeit nahe rangekommen, aber haben es nie bis zum Anschlag gewagt. Das ist Pialat, ein Anschlag. Der Krieg bei Pialat, das ist der Körper, der nicht kann, der kann, der will. Es sind kranke Körper, sexuelle Körper, sie lächeln mit Hass und schlucken ihre Tränen. Sie können nicht und können nicht anders. Gérard Depardieu ist der perfekte Körper in diesem Tanz, ein gezwungener Tanz, der nicht tanzen kann, aber tanzen muss. Wenn sich die Körper reiben wie im Meer von Nous ne vieillirons pas ensemble, dann stehen Explosionen bevor. Wie er Depardieu und Sophie Marceau von Anfang an reibend, aneinander gekettet filmt in Police, das ist Pialat. Sie sind sich nahe ohne narrativen Grund. Etwas ist in diesen Körpern, etwas Ungreifbares. Es ist fast wie bei Bresson. Ein Drang in die Schuld, das Verbrechen, das Verdorbene. Woher kommt es? Die Kamera blickt an einer entscheidenden Stelle von oben in Sous le soleil de Satan. Aber er ist kein Gott, er ist unter ihnen, selbst verdorben, nur in der Lage das zu sehen. Pialat hatte diese Einstellung zuerst gehasst, den Kameramann (wie so oft) beschimpft. Denn man muss wissen, dass Pialat nicht wirklich eine Auflösung macht. Er schafft vielmehr eine Atmosphäre, in der die Auflösung aus einer Notwendigkeit entsteht. In Loulou ist er sogar verschwunden, es hat ihm gereicht, er hatte Tage nichts gedreht, es ging um die Szene, in der der Körper von Isabelle Huppert die Familie von Depardieu besucht. Produktionsleiter wurden entlassen, Kameramänner wurden entlassen. Jacques Loiseleux hatte Angst, er war von der Produktion als neuer Kameramann bestimmt worden, Pialat kommunizierte nur über seinen Assistenten mit ihm. Aber Loiseleux wagte es. Er dreht die Szene so gut es ging ohne Schnitt. Er hatte Glück, weil ein Hund ein Huhn jagte und Depardieu darauf ansprang. Pialat war nirgends zu sehen nach dem Take. Loiseleux hatte wieder Angst. Er fragte: „Wo ist Pialat?“ Man zeigte ihm, dass Pialat sich die ganze Zeit über im Decors versteckt hielt, in einer Garage, von der aus er das Treiben beobachtete. Er hatte Tränen in die Augen und sagte kein Wort zu Loiseleux. Er nahm ihn wortlos mit sich und ging mit ihm in eine Bar. Dort bestellt er zwei Whiskey und ließ sich ein Telefon bringen. Loiseleux dachte, dass er jetzt entlassen werden würde. Doch Pialat nahm den Hörer, rief den Produzenten an und sagte ihm: „Wenn du mir diesen Kameramann gleich geschickt hättest, wären wir seit Monaten fertig.“ Es endete nicht immer so. Bei Van Gogh wurde Loiseleux entlassen.

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Im Grunde, sagt Depardieu in Police in einem falschen Zitat, sei die Welt verdorben. Depardieu sucht in diesem Film eine Frau. Plötzlich kommt das. Er wird immer offensiver. Im Krankenhaus rammt er eine Krankenschwester, dann verliert er sich spielerisch im Stoffteil einer Bardame, dann greift er seiner jungen Kollegin an den Oberschenkel, will sie küssen und schließlich landet er bei der Verbrecherdame selbst. Keine Moral außer Geilheit hinter der sich die vollkommene Leere und Einsamkeit versteckt. Manchmal ist es nicht einmal Geilheit. Es ist einfach nur wie in L‘enfance nue. Die Erklärungen bei Pialat sind in den Bewegungen, den Körpern. Es gibt keine Wahrheiten, nur ihr Treiben.

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Das Wort „putain“ fällt in all seinen Varianten die ganze Zeit bei Pialat, der La Bête Humaine liebt und vieles nicht liebt. Godard wollte einmal ein Remake von Renoirs La chienne mit Pialat in der Rolle von Michel Simon machen. Das Wort „putain“ klebt an Pialat. Es fällt nicht einfach nur, man hört es, man hört wie es gesagt wird, von wem es gesagt wird. In À nos amours ist es Pialat selbst. Die Zärtlichkeit der Erniedrigung, der Verbitterung. Es ist ein Trotz, der eine Aggression rhythmisieren kann. Pialat kann einen brechen. Nicht nur durch seine Weltsicht, seine Konsequenz, sondern auch im Bezug zum Kino. Er macht überflüssig, was man sonst für notwendig hält. Er wirft es über Bord. Es gibt keine Bilder bei ihm. Nur ihren Fluss. Vielleicht ist der Anfang von À nos amours ein Bild und das Ende von La Gueule Ouverte. In letzterem verlässt ein Auto einen Ort und die Kamera blickt zurück, das Haus des Vaters, ein ähnliches Bild wie am Ende von Love Streams von Cassavetes. In beiden Bildern steckt etwas, was in beiden Filmemachern steckt. Das Atmen am Ende. Als müsste man sich erholen. Oft steht das Atmen bei ihnen auch am Beginn. Es gibt ein Einatmen und ein Ausatmen und dazwischen bricht es los, das was den Film vergisst. Nur bei Cassavetes gibt es einen unbedingten Willen zu Leben, zu Erleben während es bei Pialat jenen der Offenlegung gibt. Pialat, das sind Racheakte.

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Sie passieren, wenn man nicht zusieht. Im Off, man sieht ihre Folgen, den Hass, die Liebe, das Blut wie bei Van Gogh. Wenn man spürt, dass er sich umbringt, dann muss man es nicht mehr sehen. Pialat filmt auf diese Art den Tod, den Sex und den Fehler. Sie gehen irgendwo zwischen zwei Bildern verloren, um von dort aus zu existieren, wirklich zu existieren. In Nous ne vieillirons pas ensemble sind es wirkliche Wellen, die durch diese unbestimmte Zeit brechen. Die Quantität der Zeit wird dabei verwischt zugunsten einer Qualität. Nicht wie viel Zeit vergangen ist zwischen einem Streit und einer Versöhnung in diesem Film ist wichtig, sondern welche Zeit vergangen ist. Man sieht es an den Gesichtern, den Körpern, den Berührungen, der Gleichgültigkeit. Kaum ein Filmemacher hat so sehr gegen die leere Dauer und für deren Konsistenz gefilmt. Was die Dauer mit uns macht. Nicht mit dem Zuseher wie bei Tsai Ming-liang, sondern mit dem inneren Kampf, dem Banalen, dem, was man leben will und sucht. Es wird einem schlecht, weil man ein Gefängnis spürt in seinen Filmen, eine beständige Unmöglichkeit des Ausbruchs, der hier versucht wird. Pialat ist nahe an seinen Figuren, fast zu nahe. Er kesselt sie ein, erzeugt Fieber. Aber seine Kamera blickt nicht nur auf diese Eingekesselten. Sie ist selbst bei ihnen, mit ihnen, sie kann nur folgen, aufnehmen, kurz da sein, vielleicht nicht da sein. Es ist in dieser scheinbaren Einfachheit, in der sich die Verlorenheit einer Schönheit etabliert. Eine Verlorenheit, die nie schön ist. Jean-Luc Godard hatte Pialat in einem Brief zu Van Gogh gratuliert. Einer der schönsten Filme sei das für ihn. Schön in seiner Art und Weise, die uns entkommt wie im besten Kino, die uns entweicht, zwischen dieser Schönheit ist eine andere Geschichte. Sie existiert nur im Kino, man glaubt kaum, dass man sie gesehen, ja gespürt hat. Sie war da. Man kann dann nur sagen: Schaut euch diesen Film an. Obwohl man nichts gesehen hat, nur das Schöne. Man liegt im Feld, man tanzt, man trinkt.

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Verdorbenheit heißt Unschuld bei Pialat. Es ist ein Aufschreien der schwachen Identitäten, des Wankelmuts. Ich liebe dich, ich töte dich, eingebettet in einen Klassizismus, der alles tut, wirklich alles, um kein Klassizismus zu sein. Dabei ist es egal, ob die Protagonisten Stars sind, ob sie Kinder sind, Jugendliche wie in Passe ton bac d‘abord oder alte Männer. Man kann nichts von sich wegschieben bei Pialat. Man kann sein Kino nicht leugnen, nicht einfach als Kino bezeichnen. Was ihm vorgeworfen wurde und wird ist klar: Menschenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit und so weiter. Als er die Goldene Palme für Sous le soleil de Satan entgegennahm gab es Buhrufe. Pialat streckte seine Faust in die Luft und sagte: „Wenn ihr mich nicht mögt, mag ich euch auch nicht.“. Dabei befreit Pialat all seine Figuren. Er befreit sie von den Rahmungen, er schenkt ihnen Freiheit. Pialats Kino, das ist die Freiheit, der beständig Versuch gegen eine Mauer zu rennen und auszubrechen. Er zieht die Figuren aus, ja, er macht es nicht immer zärtlich oder vorteilhaft, nein. Aber er zeigt uns und auch ihnen selbst, was darunter liegen könnte, es sind Möglichkeitsformen, die sich in sich brechen, gegeneinander springen, neues entstehen lassen. Wer man ist bei Pialat, das wird immer wieder neu verhandelt, man bekommt diese Freiheit. Vielleicht ist man ein letzter Blick, ein erster Blick, ein Kleid, ein Kuss, ein Schlag ins Gesicht, ein Lachen, eine Träne oder nichts von alldem, was man zeigen kann, zeigen will. Pialat, das ist die wilde Suche nach dem, was man ist. Sein Blick ist dabei gleichgültig, niedergeschlagen, wütend und euphorisch zugleich. Es bricht aus ihm. Pialat hat mehr gemacht als seine Filme. Er hat geschrieben, er hat gemalt, er hat gespielt. Pialat, das ist ein ehrliches Kino. Ein Kino, das einen daran erinnert wie verlogen Filme gemacht werden, wie verlogen Beziehungen geführt werden, wie verlogen man lebt. Nicht in den Gedanken und Idealen, aber in den Körpern. Körper, die schwer sind, aber sich schnell bewegen. Wie die Kameras, die es mal gab.

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Dann muss man wieder atmen. Am Anfang seiner Filme steht manchmal eine einzige Chance, sich zu überlegen was man sagt. Die Figuren sagen dann meist etwas Schlimmes, sie lügen, sie stellen sich provokante Fragen, sie äußern ihre Unzufriedenheit.  Es ist als würde Pialat ihnen für ein paar Sekunden die Chancen auf einen anderen Film geben. Aber am Ende kann es bei ihm nur den geben, den wir sehen.

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