Verstellte, auf den Kopf gestellte Wirklichkeiten: La Mujer sin cabeza von Lucrecia Martel
Während des Vorspanns hört man zuerst das Flüstern der Insekten und ein unbestimmtes Geräusch. In der ersten Aufnahme, einem ziemlich raschen Travelling, folgt die Kamera einem Jungen, der mit einem herumtollenden Hund spielt. Zwei andere Jungen schließen sich ihnen an; die Viererbande überquert eine Straße im Nirgendwo; sie werden beinahe von einem Wagen überfahren. Am anderen Rande der Straße befindet sich eine Art ausgetrockneter Kanal, der womöglich kurz davor steht, vom Regenwasser gefüllt zu werden, da sich auf der Tonspur ein Gewitter ankündigt. Im Fenster eines Autos spiegeln sich die Gesichter zweier Frauen, die sich gerade schminken. Eine Nahaufnahme folgt, welche das verzerrte Gesicht eines im Auto sitzenden Kindes zeigt.
Bisher ist es schwierig, eine „Hauptfigur“ zu erkennen, weil die Kamera sich von der Handlung bewusst fernhält, selbst wenn Gesichter in Nahaufnahmen gezeigt werden. Schließlich taucht sie aber endlich auf. Zwar tritt die Figur nüchtern in den Vordergrund, sie wird aber deutlich von den anderen Figuren abgehoben. Am auffälligsten wirkt die Frisur dieser Frau. Helle, goldblonde, in einem lockeren Dutt zusammengehaltene Haare, die aber bald gelöst werden. Sie trägt einen roten Pulli. Blond und Rot, diese Paarung hat man schon gesehen, etwa in Alfred Hitchcocks Marnie, in dem die Spannung der Inszenierung fast ausschließlich aus dem abstrakten Spiel zwischen diesen beiden Farben besteht. In der letzten Einstellung dieser ersten Sequenz gratuliert der Blondine eine Freundin zu ihrer Frisur, fragt sie aber auch, ob sie sich ihre Haare hat färben lassen.
Die blonde Frau bejaht, fügt aber hinzu, dass die Färbung bereits leicht verblassen würde. Schließlich steigt sie in ihr Auto ein. Wo man in den allerersten Minuten der Sequenz nicht wirklich imstande war, zu begreifen, was die zwei Gruppen verband – jene der Kinder und jene der bürgerlichen Frauen –, so zeichnet sich jetzt eine Verbindung ab: durch die Windschutzscheibe ist die leere Straße aus den ersten Einstellungen zu sehen. Dabei wird im Nachhinein deutlicher, dass die ersten zwei „Hauptstücke“ der Sequenz eigentlich durch eine Art verzögerte Parallelmontage aneinander angeschlossen waren. Eine Montage, die aber keine klare, durchsichtige Kausalitätskette bildet: an keiner Stelle unterstellt die Filmemacherin, dass das, was sich am Ende der Sequenz ereignet, das zwangsläufige, unmittelbare Ereignis der Entgegensetzung zwischen den beiden Gruppen von Menschen, ist.
Eine bekannte, fröhliche Melodie läuft im Autoradio. Mit dem Klingeln eines Handys wechselt die Kamera den Standpunkt: das rechte Profil der Schauspielerin wird jetzt gezeigt, als die Frau nach ihrem Handy sucht – sie findet es aber nicht. Genau in diesem Moment erschüttert ein Aufprall das Fahrzeug. Das Auto hält plötzlich an. Kaum hat die Frau das Steuer wieder in den Griff genommen, schon wird sie aufs neue gewaltsam geschüttelt. Was ist denn gerade passiert?
Gezeigt werden uns nichts als Zeichen und Spuren eines physischen wie psychischen Ereignisses. Zum Beispiel kleine Handspuren – wahrscheinlich von Kindern hinterlassen – die man erst nach dem Zwischenfall auf dem Autofenster bemerkt: von welchen Kindern sind sie genau hinterlassen worden? Erschüttert, fängt die Fahrerin an leicht zu weinen. Sie reißt sich wieder zusammen und fährt los, ohne aus dem Auto zu steigen, um festzustellen, worauf sie gestoßen war. Sie setzt die Brille wieder auf die Nase, nimmt sie wieder weg, hält letztlich an und steigt endlich aus.
Die Kamera bleibt im Auto; im linken Teil des Bildes ist die geöffnete Tür zu sehen; durch diese Öffnung bietet sich eine unscharfe Sicht auf die Landschaft. Wir verlieren die Frau aus den Augen; es fängt an zu regnen. Die Tropfen fallen mit einem gedämpften Geräusch auf die Windschutzscheibe. Das innere Gewitter, das sich in diesen ersten Minuten von La Mujer sin cabeza, dem dritten Kinofilm der argentinischen Filmemacherin Lucrecia Martel, langsam und lückenhaft andeutet, um plötzlich loszubrechen, ist ein kluger und formbewusster Gebrauch des „Außerhalbs“ des Einstellungsrahmens.
Alles, was wir sehen müssen, um dem Film zu folgen, liegt vor unseren Augen oder in unseren Ohren. Alles, was wir sehen möchten, ist uns jedoch gleichzeitig verborgen. Diese Ästhetik der Verborgenheit ist es, wonach dieser Film von Einstellung zu Einstellung trachtet, weniger in dem Sinne, dass Lucrecia Martel mit dem Zuschauer ein Rätselspiel anzufangen versucht – indem sie zum Beispiel Hinweise innerhalb jeder Einstellung verstecken würde –, als gerade umgekehrt, indem sie diese Verborgenheit mitten in der Wirklichkeit der Hauptfigur verortet und entwickelt, sich so ausdehnt, dass sie unsere Wahrnehmung als Zuschauer stets verändert und verwirrt.
In dieser Hinsicht erinnert La Mujer sin cabeza mehr an ein gewisses amerikanische Kino, welches sich auf die Hollywood-Klassik bezieht, indem es einige ihrer Grundzüge wieder aufnimmt, um sie zugleich zu bearbeiten. Über Marnie hinaus ist der Film von Martel durch eine Verwandtschaft zu aktuelleren Filmen gekennzeichnet, die, indem sie an Hitchcock und besonders an diesen Film von Hitchcock erinnern, das Motiv der Haarfarbe zu einer fast metaphysischen Frage machen. Der Aufprall des Autos wirkt hier wie ein zeitverdrehender Moment, welcher nicht nur das Leben der Protagonistin aus den Bahnen wirft, sondern auch den Film in eine neue Dimension bringt, in welcher die Grenzen zwischen den Toten und den Lebenden, der Alltäglichkeit und dem Land der Albträume völlig durcheinander gebracht werden.
Eine Frau, die einen Autounfall überlebt hat, begibt sich hinkend zur nächsten großen Stadt. Das ist der Ausgangspunkt einiger amerikanischen Filme, die die Entstehung einer verwirrten Beziehung zur Wirklichkeit – durch den Wahnsinn, die Träume oder die Filmsucht – erzählen und inszenieren. Zu diesem Thema könnte man unter anderem Carnival of Souls von Herk Harvey erwähnen, in dem eine junge Orgelspielerin einen Autounfall an einem sonnigen Nachmittag überlebt. Bei einem gefährlichen improvisierten Autorennen zwischen zwei Draufgängern fällt das Auto, in dem sie als Passagierin saß, in einen Sumpf. Als die Polizisten sich bemühen, das Auto aus dem Wasser herauszuziehen, taucht die dünne, blonde Frau, durchnässt und erschrocken auf. Alles scheint in die geregelte Ordnung zurückgebracht worden zu sein, bricht aber unter der ruhigen Oberfläche zusammen. Nach dem Unfall, als die junge Frau nachts zu ihrem nächsten Auftrittsort fährt, erlebt und überlebt sie einen zweiten Autounfall, der zwar physisch harmloser ist als der erste, sich aber als psychologisch schwerwiegender erweist.
Der erste Hinweis, dass etwas nicht stimmt, geben die Spiegelungen der Fahrerin in den beiden Fenstern des Autos, die so wirken, als wäre sie in diesem Moment von ihrem bösen gespenstischen Doppelgänger beobachtet. Dann taucht plötzlich im rechten Fenster eine erschreckende Figur auf; eine Art Vampir, der wirkt als ob er aus einem gotischen Stummfilm herausspaziert wäre, und dessen aufgerissene Augen uns unbehaglich anstarren. Die unangenehme Erscheinung verschwindet, meldet sich aber gleich darauf erneut, diesmal mitten vor der Windschutzscheibe. Die Fahrerin hält es nicht aus, dreht rasch das Steuer nach rechts und landet im Straßengraben. Trotz einiger schönen Inszenierungsideen ist sich Carnival of Souls seines Plots allzusehr bewusst, und zwar in einem solchen Maß, dass man längst geahnt und geraten hat, worum es eigentlich geht: um eine Gespenstergeschichte. Im Nachhinein kann trotzdem eine Parallele zwischen diesem Film und dem von Lucrecia Martel gezogen werden: Der Anfang von La Mujer sine cabeza könnte wie eine noch gespenstischere Fassung der oben geschilderten nächtlichen Szene in Carnival of Souls gesehen werden.
Bei Lucrecia Martel ist der Zwischenfall zwar auch von einer unbehaglichen Erscheinung verursacht, nur bleibt diese aus; es handelt sich nicht um ein hässliches Monster, sondern um Erschöpfungserscheinungen – innere Zeichen eines Nervenzusammenbruches also, deren Deutung aber unzureichend ist, um sich in eine beruhigende Erklärung zu fliehen. Im Laufe der Erzählung verdichtet sich diese Flüssigkeit der Zeichen noch weiter, als die Freundinnen und Verwandten Veronicas – so heißt die Hauptfigur, die von Maria Onetto gespielt wird – sich bemühen, jede Spur ihrer Anwesenheit vom Tatort zu entfernen, bis hin zu ihrem eigenen Schuldgefühl. Bald gibt es keine Zeichen mehr – nur dieses Verwischen der Spuren bleibt spürbar und unbezweifelbar, aufgrund dessen der Film sich immer deutlicher in einer „Zeit des Verdachts“ bewegt.
Dabei hat er mit einem anderen Film ziemlich viel gemeinsam, auch wenn die Implikationen ihrer Ähnlichkeiten weit auseinanderliegen – nämlich Mulholland Drive von David Lynch. Schon auf der Ebene des Sounddesigns lässt sich eine Ähnlichkeit beobachten. Beide Filme arbeiten mit subtilen, stumpfen, gedämpften Tönen und Geräuschen, die innerhalb des ansonsten natürlichen, realistischen Soundtracks, auf eine Innenwelt hinweisen, welche teils erschlossen wird, teils verschlossen bleibt.
Auf der Erzählebene finden sich ebenfalls Gemeinsamkeiten. Genau wie Rita/Camilla (Laura Harring) nach ihrem Autounfall am Anfang von Mulholland Drive, verliert Veronica nach dem Aufprall des Autos ihr Gedächtnis. Langsam wächst aber in beiden Figuren so etwas wie eine Erinnerung – es wird befürchtet, dass etwas Tragisches passiert ist, dass jemand tot ist. Und in beiden Filmen beginnt eine Art Untersuchung; man kehrt zu den Tatorten zurück, sucht nach weiteren Hinweisen, findet aber nichts. Denn das Geschehnis ist tief im Inneren verwurzelt, im Boden des Unbewussten, rührt dabei nicht am Tod eines Fremden, sondern am eigenen Ableben.
Doch so überfüllt mit Symbolen sie auch sein mögen, hüten sich diese zwei Filme davor, die Schichten dieses Unbewussten zu einfach zu entäußern. Eines der wenigen Zeichen, das gegeben wird, macht die Frisur der Hauptfiguren aus, welche in beiden Fällen eine Rückkehr in den Mythos der Filmgeschichte darstellt. Historisch betrachtet ist es nie eine beliebige Entscheidung, wenn eine Frau sich am Anfang oder im Laufe eines Filmes die Haare färbt oder färben lässt. Immer wird dadurch die Hoffnung eines Neuanfangs geäußert: Man ändert die Farbe seiner Haare, um die Identität einer Anderen anzunehmen, um sein vergangenes Selbst endgültig hinter sich zurückzulassen.
Dabei sind Hitchcocks Marnie und Vertigo Musterfilme: Fünf Minuten nach dem Beginn von Marnie wascht sich die titelgebende Kleptomanin in ihrem Hotelbadezimmer die Haare. Ins Waschbecken fallen dunkle schwarze Tropfen, dann folgt die erste Nahaufnahme auf das Gesicht der Hauptdarstellerin, die, wie sich herausstellt, statt schwarzer, eigentlich lange blonde Haare hat. Die erste wichtige Entscheidung, welche die Hauptfigur nach ihrer Flucht trifft, ist jene die Farbe aus ihren Haaren zu waschen. In Mulholland Drive sieht es etwas anders aus: Erst gegen Mitte des Plots wechselt Rita ihre Frisur und Haarfarbe, als ihr ihre Freundin Betty (Naomi Watts) eine hellblonde Perücke auf den Kopf setzt, damit sie nicht mit einer verstorbenen Frau verwechselt wird.
Die Konversation zwischen den Freundinnen am Anfang von La Mujer sin cabeza weckt Erinnerungen an diese beiden Szenen, wirkt dabei aber irgendwie beängstigender – die erste substanzielle Information, die wir über die Hauptfigur Veronica bekommen, betrifft ihre Haarfärbung. Das erweckt in uns das Gefühl, dass sie eine schwere Vergangenheit hinter sich hat, als käme sie aus einem Film noir. Als das Ende des Films sich nähert, wird Veronica wieder zur Schwarzhaarigen – der letzte Schritt im Auslöschen ihrer Spuren, welcher die blonde Fahrerin vom Beginn ins Nichts zurückweist.
Im Gegenteil zu dem, was sich in den Filmen von Hitchcock oder Lynch ereignet, scheint jedoch dieser Wechsel hier keine besondere Bedeutung in sich zu tragen. Wo er von den beiden amerikanischen Filmemachern zur echten dramaturgischen Wendung gemacht wird, so stellt er bei Lucrecia Martel höchstens einen misslungenen Versuch dar, ein schmerzhaftes Geschehnis ungeschehen zu machen. Diesen Versuch könnte man stellvertretend für das ästhetische Projekt verstehen, das Lucrecia Martel in La Mujer sine cabeza verfolgt, in dem Sinne, dass sie beständig unsere Wahrnehmung der Zeit herausfordert und verwirrt, etwa indem sie die Zeit zu einem ungewissen, unstetigen Stillstand zu bringen versucht. Dieses „Ungeschehenmachen“ ist selbstverständlich auch auf einer politischeren Ebene zu betrachten. Auch wenn die ärmsten Schichten der argentinischen Gesellschaft in dem ganzen Film gewissermaßen abwesend sind, oder gerade vielmehr wegen dieser Abwesenheit, könnte das eigene Schuldgefühl der Hauptfigur, obzwar dieses Gefühl unpräzise ist, als das Schuldgefühl des Bürgertums an sich gelten. In La Mujer sin cabeza ist aber diese „politische“ Stellungnahme umso interessanter, als sie die Form einer einseitigen Botschaft nie annimmt, welche Lucrecia Martel in ihre Bilder zwängen würde. Diese manchmal viel zu vorhersehbare Bissigkeit dem argentinischen Bürgertum gegenüber, welche die Hauptschwäche der ersten zwei Kinofilme von Martel war, ist in diesem Film irgendwie sanfter geworden – eine Sanftheit, die viel effektiver wirkt, weil sie die sorgsame Inszenierung nicht stört, und weil sie das Politische auf einen rein leiblichen Ausdruck einschränkt.
Genau das wird etwa zwanzig Minuten nach Beginn des Filmes in einer Szene beeindruckend inszeniert – wiederum in einer Art und Weise, die an Mulholland Drive erinnert. Als Veronica nach dem Unfall zu Hause ankommt, wird sie von einem scheinbar fremden Mann – später erfährt man, dass es eigentlich ihr Ehemann ist – überrumpelt. Sie geht die Treppe runter, steht still vor dem Fremden, der in der Küche beschäftigt zu sein scheint. Im Vordergrund, links, die Treppe. Mitten im Bild, Veronica. Im Hintergrund, die Haustüre. Im rechten Teil des Bildes kann man den Fremden sehen; man fragt sich aber, warum Veronica dann nicht in seine Richtung schaut, sondern nach links. Der Mann hebt den Kopf und verschwindet aus dem Bild, bis man versteht, dass es sich eigentlich um eine Spiegelung handelte. Nun ist der Mann mitten im Bild; aus Angst geht Veronica die Treppe wieder hoch, sie wird von ihm verfolgt. Da sperrt sie sich im Badezimmer ein. In der nächsten Einstellung sieht man links einen kreisförmigen Spiegel, in dem Veronicas Kopf halb abgeschnitten eingerahmt wird. Das auf der Tür angebrachte Glasquadrat nimmt den rechten Teil des Bildes ein; durch dieses Quadrat erscheint unklar der Kopf des Fremden. Ratlos, schaltet Veronica die Dusche an und duscht mit ihren Kleidern.
Durch diese leichte Zersplitterung des Raumes versetzt uns Lucrecia Martel in dieser Szene in eine unbestimmte Traumzeit, genauso wie es David Lynch in einer ganz ähnlichen Szene von Mulholland Drive gemacht hatte. Als sie im Haus ihrer Tante angekommen ist, entdeckte Betty unter der Dusche, im Badezimmer, die orientierungslose und verängstigte Fremde, die zu Beginn des Films in einen Unfall verwickelt war. Martel und Lynch legen den Fokus jeweils auf kleine Details, die eine Unstimmigkeit in sich zu bergen scheinen – bei David Lynch, die Tatsache, dass diese Fremde es sich gestattet, in einem fremden Haus zu duschen und bei Lucrecia Martel, dass Veronica bekleidet unter die Dusche geht. Vor allem zeigen sie behäbige Körper, die noch unter dem Schock eines Autounfalls stehen, und die jede Sekunde drohen, in den Schlaf zu sinken.
In einem gewissen Sinne könnte man La Mujer sin cabeza als einen Schlaffilm bezeichnen. Nicht weil er langweilig ist, sondern weil Lucrecia Martel sich vornimmt, diesen schwer bestimmbaren Übergang zwischen dem Einschlafen und dem Erwachen durch ihre geometrischen Bilder spürbar zu machen. In den ersten Minuten, die dem Unfall folgen, wird dieser schwankende Übergang auf eine sehr schöne Weise angedeutet. Im Hotel angelangt, nachdem sie beinahe in Ohnmacht gefallen war, legt sich Veronica aufs Bett. In der ersten Einstellung sieht man, dass sie auf dem Bett liegt. Durch ein rechteckiges langes Fenster im Hintergrund fällt das Nachmittagslicht ins Zimmer. In der nächsten Einstellung, im Gegenschuss, wird eine Putzfrau gezeigt, welche die noch einschlafende Veronica anspricht. Die dritte Einstellung zeigt wieder das Zimmer, die langsam erwachende Veronica im Bett, nur ist es jetzt nachts, wie man dank des Fensters sieht.
Innerhalb nur weniger Sekunden geht also die Erzählung vom Tageslicht in die nächtliche Dunkelheit über, ohne dass dieser Übergang einer Ellipse ähnelt. Dadurch spiegelt sich vielmehr das aufgewühlte innere Leben der Protagonistin wider, deren Wirklichkeit sich wie ein Albtraum anfühlt; wie eine moralische Achterbahnfahrt, die keinen Haltepunkt hat. Dann bleibt nichts mehr als der verschwommene Anblick einer Hundeleiche, die auf der Straße liegt und die man durch die hintere Windschutzscheibe hindurch sah, als das Auto sich vom Tatort entfernte. Ein Hund, kleine, kindliche Handspuren auf dem Autofenster – das sind wohl die einzigen Hinweise, die wir erfasst haben. Man hätte Lust, zur Ödnis der Straße des Unfalls zurückzukehren. Diese hat sich aber schon längst zu einer vagen Erinnerung verwüstet, die Erinnerung eines noch trüberen Albtraumes; eines Traumes ohne Wiederkehr.
Als der Abspann erscheint, muss ich an Chantal Akerman denken, vor allem an Sud, einen Dokumentarfilm, den die belgische Filmemacherin im Süden der USA gedreht hat, und in welchem es darum ging, die unsichtbaren Spuren des von weißen Suprematisten begangenen Mordes eines schwarzen Mannes durch lange, tiefgreifende Einstellungen zu hinterfragen. Erst in der letzten Einstellung des Films werden deutliche Beweise des grausamen Ereignisses gezeigt, nämlich die mittlerweile getrockneten Spuren einer Blutpfütze auf der Straße. Das Opfer war mit einer Kette am Fuß an einen Wagen gebunden und dann mehrere Meter auf der Straße hinterhergeschleppt worden. Auch wenn La Mujer sin cabeza sich an eine gewisse politisch-gesellschaftliche Kritik Argentiniens heranwagt, besonders indem der Film das Ausschalten des moralischen Gewissens des Bürgertums betont, dann fehlt ihm jedoch ein solches Beweisbild wie in Sud. Eine nicht zu schließende Lücke; eine unbeantwortete und dringende Frage, welche noch Tage später tief in uns bohrt.
Eine Stippvisite beim Filmfest München
Ich war heuer beim Filmfest München. Genauer gesagt: Ich habe mir heuer einen Film beim Filmfest München angeschaut – einen einzigen. Stimmt nicht ganz, einen Vorfilm gab es auch – aber es war nur ein einziges Filmprogramm. Besucht habe ich das FFM, um ein paar Interviews zu führen. Nebenher, so meine Hoffnung, würde ich vielleicht auch ein bisschen ins Festival reinschnuppern können und mir einen kursorischen Einblick ins örtliche Ambiente verschaffen. Leider wurde aus diesem Vorhaben nichts, uninteressanter Gründe halber. Beziehungsweise wurde schon was draus, aber eben nur diese eine Vorstellung. Zumal von einem Film, den ich ohnehin schon kannte: Zama von Lucrecia Martel.
Kann man von einer einzigen Filmvorführung auf ein ganzes Festival schließen? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem wage ich hier diese unangemessene Extrapolation, im Guten wie im Schlechten: Schließlich wurde mir für die Zama-Vorstellung eine Pressekarte gewährt, und ich empfinde darob eine moderate Textbringschuld.
Was mir noch vor Filmbeginn auffiel, war die Stimmung im Kino. Jedes Filmfestival hat eine Grundstimmung, die dem Großteil seiner Vorführungen eignet. In Cannes ist diese feierlich, angespannt und dabei trotzdem auf eine erschöpfte Art ausgelassen. Bei der Viennale befindet sie sich meist auf der Schwelle zwischen Gemütlichkeit und Pietät. In Bologna wirkt sie in erster Linie angenehm. In Berlin eher gestresst. Hier in München, namentlich in einem kleinen, vollgepackten Saal der City Kinos gegen 19:30, hat sie etwas Heimeliges, wohlig Aufgeregtes – schön, wir sehen jetzt einen Film!
Was gleich klar ist, als die beiden Moderatoren auftreten: Ein cinephiles Privatissimum wird das hier nicht. Die kurzen Einführungen sind niederschwellig, ein bisschen schwärmerisch, weisen das Publikum sachte darauf hin, doch bitte etwas genauer als womöglich üblich auf Bildsprache und Sounddesign zu achten – als würden sie im Wohnzimmer den Freunden erstmals ihren etwas exzentrischen Lieblingsfilm zeigen. Im Zuschauerraum sitzt, so scheint es mir zumindest, viel Laufkundschaft, nicht nur Pressevertreter und Festivalroutiniers. Ob sie ahnen, was auf sie zukommt?
Gehen tut jedenfalls kaum jemand. Ob sich wer langweilt, kann ich nur bedingt beurteilen. Hie und da scheinen Leute jedenfalls mit dem Film mitzugehen, lachen auch stellenweise oder geben ein nachdenkliches „Hm!“ von sich. Als die Vorstellung dann zu Ende ist – bzw. eben noch nicht ganz zu Ende – erstmal ein kleiner Schock: Keine zwei Sekunden nach Beginn des Abspanns (und der Zama-Abspann ist kein japanischer Schluss-Aus-Rockmusik-Abspann, sondern ein behutsam von der langen, musikalisch verträumten Einstellung eines langsam aus dem Bild driftenden Kanus zum Ausklang überleitender, farblich ausgestalteter Hier-Ein-Name-Nach-Dem-Andern-Abspann) wird der Ton abrupt gekappt, und Florian Borchmeyer, Leiter des internationalen FFM-Programms und einer der bereits erwähnten Moderatoren, läuft vor die Leinwand und ins weiterstrahlende Projektorlicht, um sichtlich erfreut bekanntzugeben, dass die Regisseurin wider Erwarten zugegen ist und sich zu einem Publikumsgespräch bereit erklärt hat.
An diesem Punkt wären bei mir normalerweise schon die Luken dicht. So brutal in eine Sichtung reinzuschneien, bei der sich noch keinerlei Aufbruchsstimmung breitgemacht hat, und damit die Integrität des Films zu unterhöhlen, tut in meinen Augen keinem Festival gut. Aber ok: Dass Martel da ist, weiß hier ja noch niemand, und wenn man nicht gleich Bescheid gibt, sind am Ende wirklich alle weg. Außerdem scheint sich die Filmemacherin selbst, die auch schon vorne steht (und bei der man dann doch annimmt, dass sie das Kino als Kunstform ernst nimmt), in keinster Weise am Prozedere zu stören. Vielleicht ist mein Schreckimpuls ja überhaupt nur cinephile Eitelkeit. Also mal schauen.
Tatsächlich bleiben jetzt nicht alle, aber doch viele Menschen, um Martel zuzuhören und ihr Fragen zu stellen. Sie, die in etwaigen Videointerviews einen etwas eigenbrötlerischen Eindruck auf mich gemacht hat, wirkt hier in persona gar nicht so, sondern sehr umgänglich, locker und gut aufgelegt, mit Menschen zu reden – auch mit solchen, die mit ihrer Art von Kino vielleicht kaum was am Hut haben. Zwar sagt sie dann schon Sachen wie: Ein Film muss erstmal gar nichts. Aber das klingt aus ihrem Mund weder herablassend noch eingebildet noch apodiktisch. Sondern genauso, wie es klingen sollte – nach Wahrheit. Sie holt auch weiter aus, erzählt (mit Übersetzung von Borchmeyer) von der Entstehungsgeschichte des Films, der Inspiration durch eine Odyssee gegen die Strömung des Paraná-Flusses (das Boot kam nur so langsam vorwärts, dass sie auch zu Fuß hätte gehen können, scherzt Martel), der ungewöhnlichen Musikauswahl – und mit wenigen Ausnahmen, die irgendwann den Saal verlassen, scheinen die Zuschauer dankbar für ihre Ausführungen.
Als ich dann hinaustrete in den Gastgarten der City Kinos, einer lauschigen Bobo-Enklave im sonst eher lebenssatt ungebärdigen Bahnhofsviertel Münchens, denke ich mir: War doch eigentlich ganz nett. Hier haben eben gar nicht mal so wenige Menschen, die, wie ich anzunehmen wage, nicht allzu oft ins Kino gehen und dort nur selten etwas vorgesetzt bekommen, was sie wirklich herausfordert, mehr oder weniger aufmerksam und enthusiastisch einen Film gesehen, der zwar zugegebenermaßen nicht ganz so „schwierig“ war, wie ich ihn ursprünglich in Erinnerung hatte, aber doch in jeder Hinsicht ungewöhnlich und von klassischen Erzählkinomustern meilenweit entfernt. Diese Menschen sind mehrheitlich gebannt bis zum Ende geblieben und haben ihre hoffentlich spannende und/oder sinneserweiternde Erfahrung überdies per Augenhöhenbegegnung mit der Filmemacherin abgerundet/konsolidiert und insofern im Idealfall als positiv und wiederholenswert abgespeichert. Das kann (nicht nur, aber heutzutage vor allem) ein Filmfestival leisten, und vielleicht ist eine einladende, „Achtung, Kunst!“-Barrieren abbauende „Nettigkeit“, die ich im filmischen Mehrheitsbespaßungseventkontext sonst eher ablehnen würde, ganz einfach notwendig für diese Leistung.
Aber dann fällt mir der Artikel aus einer FFM-Beilage der Süddeutschen Zeitung wieder ein, den ich vor Zama gelesen habe, und in dem steht, dass das Filmfest bald budgetär aufgestockt und „zum Medienfestival umgebaut“ werden soll. Dann sollen hier „neben Filmen und Serien“ auch „Games, Animation und Virtual Reality“ eine Rolle spielen. Keine Sorge: „Film bleibt der Nukleus“, zitiert der Text Festivaldirektorin Diana Iljine, um dann euphorisch zu schließen: „Das Filmfest macht sich fit für die Zukunft – und nur die Pessimisten und Verweigerer sagen vielleicht noch: ‚Braucht’s das?‘“ Auch das ist ein Resultat besagter Nettigkeit, die sich hier als Anpassungsbereitschaft an Gegebenheiten äußert, die die Spezifität der Kinoerfahrung verleugnen. Und plötzlich bin ich mir doch nicht mehr so sicher, ob es wirklich sinnvoll ist, von einer einzigen Filmvorführung auf ein ganzes Festival zu schließen.