Die unwirkliche Wucht des Remco Evenepoel: Lüttich-Bastogne-Lüttich 2022

Was die TV-Übertragungen von Radrennen besonders ansprechend und gleichermaßen absurd macht, sind all die für den Sport essentiellen Aspekte, die die Kameras nicht einfangen können. Das Unfilmbare, Nur-Erzählbare des Sports. Diejenigen, wortwörtlichen Elemente, die die sowieso schon geradezu lächerlich passive Position des Betrachters im Angesicht des auf den Bildschirmen flimmernden Leidens noch weiter von den Sportlern entfernt. Dazu gehören der Wind (den man nur in extremeren Ausprägungen anhand sich bewegender Bäume sehen kann), die Steilheit der Straßen (der Begriff „False flat“ zeigt, dass hier nicht nur das Kameraauge getäuscht werden kann), Hunger, Durst, Dreck, der Geruch nach Pisse (der sich entleerenden Fahrer) und Dung (vom Straßenrand), das Laktat (man sieht es nicht) sowie all jene Geschichten, die den Kameras entgehen, weil sie sich zu weit hinten oder zwischen den Ereignissen abspielen.

Die diesjährige Austragung von Lüttich-Bastogne-Lüttich, La Doyenne wie das seit 1892 ausgetragene Rennen mehr liebevoll als demütig genannt wird, steckte voller solcher, für die Heimzuschauer unsichtbarer Wesenszüge. Als der spätere Sieger Remco Evenepoel, der pausbackene, blondschopfige Goldjunge des belgischen Radsports, im Ziel vom Gegenwind erzählte, klang das fast wie eine Mär. Zum einen war praktisch während der gesamten Übertragung nichts von diesem Wind zu sehen, zum anderen wuchtete er sich durch selbigen, als wäre da nichts außer die schiere Kraft der Beine und des Willens. Während des Rennens nannten die Kommentaren unentwegt die zurückgelegten Höhenmeter, ganz einfach deshalb, weil man sie mit bloßem Auge nicht wahrnehmen kann.

Eine andere Unsichtbarkeit des Rennens war besorgniserregender. Ein heftiger Sturz, der das halbe Peleton auf einer enorm schnellen, leicht abfallenden Passage zu Fall brachte, forderte einige Opfer und schlimme Verletzungen. Mit betroffen war Julian Alaphilippe, der die Frühjahrssaison bereits im März mit einem spektakulären, glimpflicher verlaufenden Sturz einläutete. Er stürzte gegen einen Baum und zog sich einige schlimme Verletzungen zu, die auch seine Lunge beeinträchtigten. Ein unscharfes Helikopterbild, das den besorgten Romain Bardet (der eigentlich für ein anderes Team fährt und sich derart seiner Chancen beraubte, um den Sieg zu fahren) zeigt, wie er versucht seinem auf dem Boden liegenden Kollegen zu helfen, gehört zugleich zu den wichtigeren wie schockierenderen des bisherigen Jahres. Dies waren die einzigen Bilder Alaphilippes und erst die Berichte über seinen einigermaßen stabilen Zustand ermöglichten eine erneute Konzentration auf das Rennen.

Lüttich-Bastogne-Lüttich ist ein trügerisches Rennen. Im Gegensatz zu anderen Horten großen europäischen Radsports wie die Kopfsteinpflaster in Flandern oder Nordfrankreich, die Serpentinen der Alpen oder die schmalen Ziegenpfade der Pyrenäen, wirkt der Parcours im Kirschblütenlicht eines gemäßigten Aprils geradezu freundlich. Die Wallonen an der Strecke haben sich längst nicht dem gleichen Flaggenkult verschrieben, wie ihre löwenschwenkenden Nachbarn aus Flandern. Sie applaudieren brav und begeistern sich, natürlich umso mehr, wenn, wie in diesem Jahr, zum ersten Mal seit Joseph Bruyère, Freddy Maertens und Frans Verbeeck 1976 drei Belgier auf dem Podium landeten, aber außer einiger ins Bild gehaltener, nackter Ärsche und dem inzwischen obligatorischen Klimaaktivisten, der es wieder schaffte, hinter dem Sieger über die Ziellinie zu laufen, wirkte das Rennen geradezu zahm. Selbst die am Streckenrand aufgeschreckten Pferde, Alpakas und Kühe wirken entspannt in ihrer Panik.

Obwohl die Belgier seit Philippe Gilberts Siegesfahrt 2011 nun 11 Jahre warten mussten bis sie wieder einen (und dann gleich drei) ihrer nationalen Vertreter auf dem Podest bejubeln konnten, haftet dem Rennen ein lokalerer Geschmack an, als anderen Eintagesrennen. Es gibt weniger Pilger, die quer über den Kontinent reisen, um an den Côtes zu stehen, als an den Pavés, Hellingen oder Alpenpässen. Gilbert übrigens fuhr dieses Jahr sein letztes Lüttich-Bastogne-Lüttich. Die legendäre Côte de La Redoute, die dieses Jahr, dazu gleich, noch legendärer wurde, als sie es ohnehin schon ist, war wie jährlich vollgeschrieben mit dem Namen dieses großen Radsportlers.
Phil
Phil
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Phil ein ganzer Anstieg lang, ein Name, der sich in diese Straßen geschrieben hat, sodass man jedesmal, wenn man ihn ausspricht, ein Stück näher an das Ende der Straße gelangt. Man kann nur ahnen, was Gilbert, der in der Region geboren ist, durch den Kopf ging, als er derart verabschiedet wurde (er beendete das Rennen auf Rang 46 und in der Ewigkeit zugleich).

Weiter vorne hatte Evenepoel in die Pedale getreten, als wäre in ihnen all die Ungerechtigkeit der Welt verborgen. Er presste den auf ihm liegenden Druck aus en Oberschenkeln. Er stampfte mit der Wucht einer Dampflock, sodass man fürchten musste, sein Rad könne jederzeit in zwei Teile brechen. Die heroisch kämpfenden Streiter der ehemaligen Ausreißergruppe (insbesondere Bruno Amirail, der es tatsächlich noch unter den besten Zwanzig ins Ziel schaffte), die Evenepoel aufklaubte wie von den Bäumen gefallene Kastanien, zerbrachen an seinem Hinterrad in tausend Teile. Evenepoel blieb über 257,2 Kilometer in seinem Sattel sitzen, nur einmal, als er seine entscheidende Attacke über die Kuppe eben jener Côte de La Redoute (1,6km, Durchschnittsteigung 9,5 %, Maximalsteigung 22 %) setzte, erhob er sich mit solchem Aplomb aus dem Sattel, das sein Rad ihm und der Straße und der ganzen Physik menschlicher Leistungsfähigkeit zu entgleiten drohte.

Alle anderen platzen auf wie reifes Springkraut. Niemand konnte sein Hinterrad halten. Nicht die großen Kletterer, die sich immer etwas ausrechnen bei diesem letzten der Frühjahrsklassiker, nicht Superstar Wout van Aert, nicht einer aus dem Starensemble des Teams Bahrain – Victorious, die zuvor in einer Serie beinahe ulkiger Dauerattacken (Mikel „Hans“ Landa tänzelte kilometerlang vor dem Feld und bewies damit, dass man auch ironisch radfahren kann, postmodern gewissermaßen, nur so tuend, als ob, aber doch dadurch tuend) das Feld dezimierten. Selten ist es Fahrern gelungen eine Attacke an der Redoute, ins Ziel zu bringen. Sie ist ein Hügel der Vorentscheidung und nicht der Entscheidung. Dieses Jahr war alles anders, vielleicht auch wegen des Gegenwinds, den man nicht sah, aber spüren musste. Vor allem aber wegen Evenepoel, der bewies, dass man stampfend fliegen kann.

Während der Siegerehrung sang Evenepoel die belgische Nationalhymne neben seinen zwei stummbleibenden Landsmännern (Überraschungszweiter Quinten Hermans sowie van Aert, der seine eindrucksvolle Top-10-Serie bei Klassikern fortsetzt) auf dem Podium stehend so innbrünstig mit, dass van Aert sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Evenepoel besitzt die Ausstrahlung alter Volkshelden. Die Marketingleiter von Suppenfirmen wären dumm, wenn sie ihn nicht sofort unter Vertrag nähmen. Auf dem Weg zum Fußballprofi hat sich dieser erst 22jährige Komet, dessen Vater Patrick bereits Radsportler war, für die Straße entschieden. Kein Versprechen leuchtet derzeit heller am Radsporthimmel und obwohl er 2020 während der Lombardei-Rundfahrt ähnlich wie sein Teamkollege Alaphilippe in diesem Rennen, schwer stürzte und sich das Becken brach (die Bilder seines regungslosen Körpers am Fuße einer Böschung gehören zu jenen filmbaren Aspekten des Sports, die ihn allerdings nicht näher an die Zuschauer bringen, sondern verstärkt unwirklich erscheinen lassen), scheint sein Weg in den Radsportolymp vorgezeichnet. Wenn man Vorschusslorbeeren essen könnte, wäre Evenepoel bereits geplatzt. Mit diesem Triumph bei seinem Debüt bei Lüttich-Bastogne-Lüttich allerdings löst er ein erstes, großes Versprechen ein. Man darf gespannt sein, was das mit ihm macht.

Das Frühjahr hat jedenfalls gezeigt, dass die problematische, aber berauschende Unwirklichkeit der Nullerjahre zurück in den Sport gekehrt ist. Waren es damals Bergsprints zwischen Alberto Contador und Michael Rasmussen, sind es heute einige titanenhafte Überfahrer wie van Aert, Mathieu van der Poel, Evenepoel oder Tadej Pogačar (der als Vorjahressieger aufgrund eines Trauerfalls in der Familie nicht starten konnte in Lüttich), die die Vorstellung des Machbaren ausreizen. Gleichzeitig haben diese Fahrer erstaunlich selten gewonnen in diesem Frühjahr. Sie kämpfen (noch) mit der Wirklichkeit. Die einschlafenden Beine van Aerts im Finale dieses Rennens, das gesenkte Haupt van der Poels vergangene Woche in Roubaix, der wackelnde Körper Pogačars an der Mur de Huy, all das zeigt, dass Menschlichkeit und Wirklichkeit existieren, gerade dort, wo man sie nicht erwarten oder sehen kann.