Diagonale 2019: Avantgarde-Rundschau

ORE von Claudia Larcher

Wie immer habe ich meinen persönlichen Diagonale-Spielplan rund um die Programme des „Innovativen Kinos“ (wie hier jene filmischen Formen heißen, die sich weder sauber als Spielfilm, noch als Dokumentarfilm einordnen lassen – innovativ sind sie nicht immer) aufgebaut. Und trotzdem eines dieser Programme verpasst. Da diese „Rundschau“ keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit erhebt, sondern (ohnehin subjektive) Wahrnehmungen präsentieren will, störe ich mich aber nicht weiter daran.

Ich habe schon im Rahmen früherer Diagonale-Ausgaben darüber geschrieben – und ich bin bei weitem nicht der einzige, der diese Meinung teilt –, dass Österreich als Filmland vor allem im Avantgarde-Bereich überdurchschnittliche Leistungen erbringt. Das hat sich auch 2019 nicht groß geändert. Problemlos ließe sich das untenstehende „Best of“ um zusätzliche Titel erweitern, ohne dass die Qualität massiv abfallen würde.

animistica von Nikki Schuster

animistica von Nikki Schuster

Unstet und sprunghaft schleicht die Kamera über den Boden. Die Pflanzen- und Tierwelt der mexikanischen Wüste zeigt sich in voller Pracht. Ornamentale Strukturen schmücken die Leinwand, sie sind nicht von menschlicher Hand geschaffen. Aus nächster Nähe werden hier die Oberflächen organischen Lebens (und Todes) untersucht. Was aus der Ferne als kompaktes, glattes Ganzes erscheinen mag, entpuppt sich durch die Lupe als porös und zerfurcht. Dünne Stacheln werden zu monströsen, furchterregenden Gebilden, das Fell von Säugern wird zu einem ruppigen Teppich. Begleitet werden diese Bilder von einem Sounddesign, dass ihnen eine weitere Dimension hinzufügt. Die Bewegungen der Kamera entlang der wundersamen Oberflächenstrukturen werden durch den Ton zum Horrortrip. Als würde sich ein mittelalterlicher Krieger am Ende einer blutigen Schlacht über Leichenberge kämpfen, wird der suchende Blick der Kamera von Knack- und Matschgeräuschen zu einer Studie des Ekels umgedeutet. Die Natur erscheint alles andere als unschuldig. Sie entblößt ihre hässlichen Seiten, zeigt ihre furchterregendsten Formen. animistica ist kein wissenschaftlich-objektiver Blick durch das Mikroskop, kein Naturfilm, der seinem Zuseher neue Perspektiven auf die Welt näherbringen will, er ist ein Test der Wahrnehmung, der zur Diskussion stellt, ob Schönheit und Grausamkeit nicht zwei Seiten einer Medaille sind.

Antarctic Traces von Michaela Grill

Antarctic Traces von Michaela Grill

Die Durchlässigkeit der verschiedenen filmischen Kategorien hat zugenommen, seit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die Diagonale leiten. Der zunehmenden Menge an dokumentarisch-fiktionalen Hybriden und essayistisch-experimentellen Formen kommt eine solche Auflösung der starren Grenzen entgegen. So wird Antarctic Traces von Michaela Grill im Katalog etwa als Dokumentarfilm geführt, aber in einem Programm des „Innovativen Kinos“ zusammen mit Avantgarde-Filmen gezeigt. Hier ist Grills Film sehr gut aufgehoben. Ein filmischer Essay über die South Georgia Islands und vor allem über den Walfang, der dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieben wurde und beinahe zur Ausrottung der ganzen Spezies geführt hat. Eine Frauenstimme liest Exzerpte aus Logbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen und Erfahrungsberichten zum Thema. Dazu sieht man die Ruinen der verlassenen Walfangstationen an der Küste, die von der Natur (namentlich von Robben, Seeelefanten und Pinguinen) wiedererobert wurden und Fotografien des Meeres. Eindringlich und bildlich wird die Jagd auf die Riesen der Meere geschildert, ohne dass je Fotos oder Bewegtbilder von Walfängern zu sehen sind. Erst zu den Credits bieten historische Fotografien die Gelegenheit des Abgleichs der Schilderungen mit konkreten Bildern. Man ertappt sich dann beim Gedanken, dass es diese Bilder gar nicht gebraucht hätte. Die Wortgewalt der Erzählung vermag es, einen Film zu tragen (Duras wird in diesem Text auch noch Thema sein).

Armageddon von Kurdwin Ayub

Armageddon von Kurdwin Ayub

Gäbe es bei der Diagonale eine eigene Programmreihe für Animationsfilme, wäre Armageddon dort wohl am besten untergebracht. Da Kurdwin Ayub seit Jahren zu den Konstanten des „Innovativen Kinos“ gehört, hat man ihren doch recht konventionellen Animationsfilm Armageddon ebenfalls dort geparkt. Obwohl ich diese kuratorische Entscheidung nicht ganz nachvollziehen kann (wäre er nicht besser in einem Kurzspielfilm-Programm aufgehoben), gibt es mir immerhin Gelegenheit an dieser Stelle darüber zu berichten. Denn das Ergebnis – unabhängig von seiner leidlichen Kategorisierung – überzeugt durch Humor mit Stirnrunzelfaktor. Die Ausgangssituation ist einfach erklärt: Wir schreiben das Jahr 2138, die beiden Wiener Vampire Anton und Franz sitzen auf einer Couch und werden interviewt. Sie berichten von der Islamisierung des Landes und von der unterschiedlichen Blutqualität verschiedener Ethnien (Asiatinnen sind am begehrtesten, treten sie unseren Breiten doch nur in Gruppen auf). Gefährlich nah am Abgrund der political uncorrectness bewegt sich dieses Gespräch. Jede Pointe lässt einen unwillkürlich zusammenzucken: Es geht um Geschlecht, Ethnien, Religion – ist Lachen darüber überhaupt erlaubt? Das Fazit: Anton und Franz sind zwar keine Puppen, sondern aus Knetmasse geformt, doch was vor 40 Jahren bei Waldorf und Statler funktioniert hat, ist heute ungebrochen effektiv.

Cavalcade von Johann Lurf

Cavalcade von Johann Lurf

Eine Art Wasserrad in einem Bach. Es ist Nacht. Das Rad erwacht zum Leben. Immer schneller und schneller dreht es sich, bis es schließlich wieder zum Stillstand kommt. Dazwischen ein Test menschlicher Wahrnehmung und der Leistungsfähigkeit des Kinoapparats. Denn dieses Wasserrad ist kein normales Wasserrad, sondern mit verschiedenen visuellen Elementen besetzt und mit mathematischer Präzision ausgetüftelt. So scheinen die Schaufelräder ab einem gewissen Tempo stillzustehen (wenn sich ihre Umdrehungsanzahl mit der Aufnahmegeschwindigkeit der Kamera deckt), der Ring aus Farbfelder im Inneren verändern je nach Drehgeschwindigkeit scheinbar ihre Anordnung und die Spiralen verändern scheinbar ihre Drehrichtung. Man hätte daraus einen anschaulichen Lehrfilm über optische Wahrnehmung machen können, Lurf hat einen Abenteuerspielplatz für die Augen angelegt.

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

Rainer Kohlbergers Filme zählen zum außergewöhnlichsten, was das österreichische Kino zu bieten hat. Es ist eine Mischung aus technologischer Konzeptkunst und irren Herausforderungen an die menschliche Wahrnehmung. Mithilfe von Algorithmen verformt Kohlberger das Bild bis zur totalen Unkenntlichkeit. Mal sieht das aus wie ein TV-Testbild, mal wie eine fehlerhafte VHS und mal entsteht originär digitale Pixelkunst. Dazu dröhnende elektronische Musik, die sich nahtlos an den Rhythmus der Bilder schmiegt. Im spezifischen Fall von It has to be lived once and dreamed twice wird die Bild-Ton-Wucht durch ein Voice-over ergänzt. Letztlich wirkt die Stimme aber eher störend, verhindert das Versinken in Bild und Ton, lässt nicht zu, dass man sich voll und ganz auf das Wahrnehmungsexperiment konzentriert. Und zugleich lassen es die mächtigen Bildkompositionen nicht zu, dass man sich auf den Text konzentriert. Überfülle kann höchst befruchtend sein, hier entkräftet sie sich selbst.

Muybridge's Disobedient Horses von Anna Vasof

Muybridge’s Disobedient Horses von Anna Vasof

Anna Vasofs Muybridge’s Disobedient Horses ist die Dokumentation verschiedener para-kinematografischer Formen. Versteht man Kino und Film als etwas, das über die Grenzen des Kinosaals und die Versuchsanordnung Projektor-Leinwand-Publikum hinausgeht, dann handelt es sich hier quasi um einen Film im Film. Vom Daumenkino über das technisierte Daumenkino (bemalte Geldscheine in einem elektrischen Zählgerät) zum aufwendigeren Versuchsaufbau mit Pappbechern, Taschenlampen und Pendeln, setzen sich hier unbelebte Bilder in Bewegung (oder werden in Bewegung gesetzt). Die Kamera imitiert dabei nur die Rolle des menschlichen Auges und fängt diese Bewegung ein. Und verdoppelt somit das Spiel mit Licht, Zeit und Bewegung. Auf den ersten Blick wirkt das alles einfach und simpel – nicht mehr als ein show reel der eigenen Basteleien. Und doch mehr als das. Denn die Vorführung der Apparaturen vor dem Kameraauge werden verdoppelt durch die Vorführung des Films vor dem Menschenauge. Ein filmisches Impulsreferat über Wahrnehmung und Dispositivtheorie.

ORE von Claudia Larcher

ORE von Claudia Larcher

ORE beginnt in höchster Höhe. Aus der Vogelansicht wirft die Kamera einen Blick auf das weiter unter ihr liegende Erzabbaugebiet. Langsam wandelt sich der Drohnenblick in einen (unmöglichen) Kameraschwenk. Nahtlos geht die Vogelperspektive in einen irdischeren Blick auf die Maschine der Bergbaulandschaft über. Ebenso nahtlos bahnt sich der Blick schließlich seinen Weg von der Oberfläche tief ins Innere des Bergs. In den Stollen. In nur sechs Minuten von höchsten Höhen in tiefste Tiefen.

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Ein gutturaler Vortrag eines scheinbar dadaistischen Gedichts: „From the stomach in your chest through your throat to the world.” Immer und immer wieder wird dieser Satz vom etwas abgerissenen Mann in Rising wiederholt. Dabei filmt er sich mit einer Videokamera selbst. Was dieser Satz bedeuten soll, wird erst nach einiger Zeit deutlich. Er ist durchaus buchstäblich zu verstehen. Dann nämlich steckt sich der Protagonist den Finger in den Hals und erbricht. Und erbricht wieder. Bis man vor lauter Dreck auf der Linse kaum mehr etwas erkennt. Dazwischen manifestartig die Erklärung dazu. Das Kotzen soll das Sprechen als Kommunikationsmittel ersetzen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei. Man weiß nicht so recht, was man mit dieser Performance anfangen soll. Im Publikum hat sie gleichermaßen für Gelächter als auch zu geekelter Ablehnung geführt. Eine Reaktion ist dem Film in jedem Fall gewiss.

Victoria von Lukas Marxt

Victoria von Lukas Marxt

Ein Ford Crown Victoria ist der titelgebende Protagonist dieses einstündigen Films von Lukas Marxt. Er durchquert das kalifornische Hinterland. Weite, eintönige Steppen, durchbrochen nur von Eisenbahnschienen. Schier endlose Kolonnen von Güterzügen durchtrennen die gleichsam endlose Landschaft und bilden einen visuellen Referenzrahmen, den sonst nur der verlorene, fahrerlose PKW liefert, der immer wieder auf oder neben der Straße die Landschaft durchzieht. Begleitet wird die Fahrt dieses ungewöhnlichen Protagonisten von Untertiteln, die Filmklassikern entnommen sind und eine humoristische Annotation des Geschehens liefern. Irgendwo an der Schnittstelle von Landscape Art, Structuralist Film und Film-Essay bewegt sich Marxt durch Kalifornien. Und obwohl man anhand der obigen Beschreibung meinen könnte, dass sich der Versuchsaufbau schnell erschöpft, erzeugt er einen immens starken Sog. Die verschiedenen textuellen Ebenen erleben gerade genug Abwechslung, dass es immer etwas Neues zu sehen oder hören gibt, wenn das Bildfeld erschöpft scheint. Ein bisschen (und nicht nur wegen der Züge) erinnert Victoria an die früheren, analogen Arbeiten James Bennings (als dieser noch nicht so sehr von seiner eigenen künstlerischen Brillanz eingenommen war).

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

Man denkt sofort an Lumière: Die Explosion eines Fabriksgebäudes wird zeitlich umgekehrt. Aus der Implosion richtet sich das Gebäude wieder auf. Die Gebäude, um die es sich handelt, sind Anlagen von Kodak in Rochester, New York. Bei den Aufnahmen handelt es sich um Youtube-Clips von der Sprengung von Teilen des Werks im Rahmen der Konsolidierungsmaßnahmen des Unternehmens. Nur mit Ach und Krach hat Kodak den unaufhaltsamen digital turn in der Filmindustrie überlebt. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen dieser Videos war das Überleben keineswegs gewiss. Die Ungewissheit über die Zukunft des Kinos und des Analogfilms und die Erinnerung an seine frühesten Gehversuche gehen hier Hand in Hand. In kurzer und recht simpler Form errichtet Viktoria Schmid hier ein turmhohes Gedanken- und Referenzgebilde.

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

Aufnahmen aus dem Zugfenster gehören zu den Konstanten der Filmgeschichte. Siegfried A. Fruhauf liefert eine doch recht ungewöhnliche Variation dieses Motivs. Er zerschneidet die Aufnahmen der Zugfahrt und ordnet sie neu an, lässt sie tanzen im Takt der gleichnamigen Schlagzeugkomposition von Jörg Mikula. Der Wirbel der Zugfahrt-Bilder steigert sich bis hin zum Fast-Flicker. Umso schneller, desto mehr scheint Fruhaufs Ästhethik in ihrem Element. Und bald geht es nicht mehr um Züge, sondern um das Blitzen und Blinken der Bilder auf der Leinwand.

Neregių žemė von Audrius Stonys

Honourable Mention: Mavericks

Es ist fast unfair, diesen Vergleich anzustellen, aber das beste Programm „Innovativen Kinos“ wurde gar nicht in dieser Programmschiene gezeigt. Im Rahmen der Personale zu Ludwig Wüst, bekam der Filmemacher auch Gelegenheit eine Carte Blanche zu programmieren. Das Resultat war eine Reihe von vier fulminanten mittellangen Filmen, die jeder für sich das meiste, was sonst so am Festival gezeigt wurde, mit Leichtigkeit in den Schatten stellte: ob das betont unsaubere Porträt des Zeitungsboten Bobby in Robert Franks Paper Route, die dystopisch anmutenden Industriebrachen in Audrius Stonys‘ depressiv-melancholischem Neregių žemė, die philosophische Bild-Text-Juxtaposition in Marguerite Duras‘ L’homme atlantique oder Artavazd Peleshians große Armenien-Symphonie Menq. Selten war auf der Diagonale 2019 ein klareres Bild filmischer Haltung zu erkennen, selten wurde das Publikum so auf den Prüfstand gestellt – denn die Aneinanderreihung der drei Filme am Ende in ihrer ultimativ Schwere und Schwermütigkeit in Kombination mit der akuten Sauerstoffnot und der Sauna-Atmosphäre im Rechbauer-Kino (könnte man hier vielleicht eine Lüftung einbauen?) erforderte einiges an Durchhaltevermögen. Wer blieb, wurde belohnt.

Diagonale 2016: Avantgarde Rundschau

Atlantic35 von Manfred Schwaba

„Gibt es eine andere Liebe, als die der Dunkelheit, eine Liebe, die sich am helllichten Tag laut kundtäte?“ (Albert Camus)

Die Diagonale als Schaukasten und Jahresbericht des österreichischen Filmschaffens ist trotz seiner selbst auferlegten strikten geographischen Einschränkung eines der spannendsten und best-kuratierten Festivals seiner Größe. Nicht zuletzt liegt das an der beeindruckenden Riege an unabhängigen Künstlern, die sich im experimentellen und avantgardistischen Filmemachen üben. Bei der Diagonale sind ihre Filme in der Sektion „Innovatives Kino“ zu finden – ein furchtbarer Name, den die neue Festivalintendanz leider nicht geändert hat – und in meiner Planung sind diese Kurzfilmprogramme Fixpunkte. Die behutsame Neuausrichtung des Festivals hat auch vor dieser Programmsparte nicht halt gemacht, mit Claudia Slanar wurde eine Co-Kuratorin ins Boot geholt, die einzelnen Programme sind stärker durch kuratorische Überlegungen geprägt und es lassen sich nun sehr viel klarere Fäden durch die einzelnen Filme der Programme ziehen. An und für sich ist das eine begrüßenswerte Entwicklung und doch hatte ich einige Male den Eindruck, das ein Film eher deshalb ausgewählt wurde, weil er gut in ein bestimmtes Programm passte, als aufgrund seiner filmischen Qualitäten – vielleicht ist das aber auch nur eine Überinterpretation meinerseits oder aber der aktuelle Jahrgang des avantgardistischen Filmschaffens kann ganz einfach nicht mit dem Output der letzten Jahre mithalten. Im Folgenden ein paar Filme, die mir aus unterschiedlichen Gründen besonders imponiert haben:

Der beste Weg von Angelika Herta

Der beste Weg von Angelika Herta

Wie visualisiert man den Alltag einer Blinden? Diese unmögliche Fragestellung liegt Angelika Hertas Film zugrunde. Das Ergebnis ist fast unerträglich selbstironisch und gesättigt mit beißendem Humor der Marke „ich bin blind, ich darf das“. Das kann man lustig finden oder aber anbiedernd bourgeois, in jedem Fall geht der Film sehr spielerisch mit seiner Grundidee um. Konsequent müsste ein Film über das Leben einer Blinden eigentlich ohne Bilder auskommen, oder zumindest mit Bildern jenseits naturalistischer Bildästhetik arbeiten. Herta hält sich allerdings nicht lang mit solchen konzeptionellen Überlegungen auf, sondern denkt in erster Linie an ihr (sehendes) Publikum. Die Stimme eines Sprachprogramms, das normalerweise die Textinhalte von Computerbildschirmen vorliest, trägt in Der beste Weg einige Anekdoten aus dem Leben einer Blinden vor, die gleichzeitig in weißer Schrift auf schwarzer Leinwand zu sehen sind. Die kleinen und großen Probleme des Blindendaseins werden auf vergnügliche Art und Weise von der mechanischen Stimme vorgetragen. Die Komik erwächst dabei zum einen daraus, was erzählt wird, aber nicht zuletzt auch durch die monoton-abgehackte Vortragsweise der Computerstimme. Damit dem Auge beim Zuhören nicht langweilig wird, wird auch die Schrift in ausgewählten Momenten animiert, bleibt stehen „wie ein sturer Esel“ oder verteilt sich über die Leinwand, wie eine Handvoll verstreuter Münzen. Das sind billige Gimmicks, dumme Spielereien, die eigentlich mit der Logik des Films brechen, aber wer braucht schon logische Konsequenz, wenn er konsequent Schabernack treibt.

Herbst von Meinhard Rauchensteiner

Herbst von Meinhard Rauchensteiner

Es können wohl nicht viele Filme von sich behaupten, ihren Reiz aus der Konfrontation von Rainer Maria Rilke und einem Stofftier zu beziehen. Rilkes namensgebendes Gedicht ist hier Ausgangspunkt für eine unwahrscheinliche Komödie: im Zentrum des Geschehens ein Stofftier, das von einer statischen Kamera aufgenommen, den ganzen Film hinweg nicht bewegt wird; off-screen eine Stimme, die laut, fast herrisch, Rilke rezitiert. Das Stofftier, mit integriertem Tonaufnahme und –abspielmechanismus „antwortet“ auf die Rezitation, Rilkes Gedicht wird zur Iteration, die menschliche Stimme wird abgelöst durch die mechanische Stimme des Stoffstiermonsters. Die Sinnlichkeit der Poesie wird in einem komödiantischen Gebrüll aufgelöst, die Tücken des Sprechmechanismus des Stofftiers bringen die hohe Dichtkunst Rilkes an die Grenzen ihrer Wirkkraft.

Hidden Tracks von Karin Fisslthaler

Hidden Tracks von Karin Fisslthaler

Karin Fisslthaler ist nicht zu Unrecht regelmäßiger Gast auf der Diagonale. Ihre Filme zeichnen sich durch popkulturelle Sensibilität, Musikalität und vor allem durch fabelhaftes Rhythmusgefühl aus. Hidden Tracks ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme und gerade in Sachen Rhythmik ein herausragendes Werk. Es gehört einiges an Chuzpe dazu einen Film aus Found-Footage-Schwarzblenden zu montieren und noch mehr künstlerische Befähigung, daraus etwas zu gestalten, das nicht nur auf konzeptueller Ebene funktioniert. Und wie es funktioniert: ein sorgfältig durchkomponierter Reigen aus kurzen Momentaufnahmen, der verdichtete letzte Lebenshauch der filmischen Einstellung. Fisslthaler breitet diese Verdichtung aus, webt ein feines Netz aus filmischen Referenzen, das durch Schnitt und Musik in einem rhythmischen Pochen aufgeht.

distortion von Lydia Nsiah

distortion von Lydia Nsiah

Der Tod und die Verwesung üben seit Urzeiten eine besondere Faszination auf den Menschen aus. Filmische Metaphern dafür finden sich zuhauf, mit expliziter cinematischer Nekrophilie hat sich zum Beispiel Bill Morrison einen Namen gemacht. Das nun vermehrt der digitale Tod beschworen wird, ist eine logische Entwicklung unserer Zeit. Lydia Nsiahs distortion ist nicht der erste Film, der Material kompiliert, das durch digitale Eingriffe beschädigt worden ist (Sebastian Brameshubers und Thomas Draschans Preserving Cultural Traditions in a Period of Instability, der im Rahmen der Personale zu Gabriele Kranzelbinder gezeigt wurde, übte sich schon vor mehr als zehn Jahren an Ähnlichem), zählt jedoch zu den gelungeneren Exemplaren dieser Sorte Film. Es ist ein großer Coup filmemacherischer Subversion, jene Elemente ästhetisch zu verarbeiten, die dafür konzipiert sind das Filmerlebnis zu beeinträchtigen, denn Nsiah hat als Ausgangsmaterial Filmausschnitte gewählt, die durch digitale Kopierschutzmaßnahmen beeinträchtigt worden sind. Doch distortion ist weit mehr als nur Konzeptkunst, denn der Film funktioniert auch auf einer ästhetischen Erfahrungsebene: das Flackern der digitalen Partikel, die verzerrten Farben und verpixelten Flächen machen die ästhetischen Qualitäten eines Seherlebnisses deutlich, das sonst meist mit dem Frust über technisches Versagen verbunden ist.

Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba

Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba

Es wäre gar nicht so abwegig Lukas Marxt alljährlich den Hauptpreis der Sektion „Innovatives Kino“ kampflos zu überlassen. Kaum ein anderer österreichischer Filmemacher findet in solcher Regelmäßigkeit und mit solcher Konstanz neue Wege seine künstlerische Position zu artikulieren und zu verfestigen. Für Wunderschön und ruhig gelegen hat er mit dem tschechischen Filmemacher Jakub Vrba zusammengearbeitet. Wie so oft in Marxts Filmen steht eine Landschaft im Zentrum. Die Landschaft, in diesem Fall ein kleines Waldstück an einem Berghang, wird schon bald verschwinden, nicht jedoch durch eine Bewegung der Kamera oder eine Manipulation des Bilds, sondern durch pyrotechnischen Nebel. Eine künstliche Wand aus milchigem Weiß verschluckt schon bald den gesamten Bildraum, lässt das Waldstück fast vollständig verschwinden und gibt sie schließlich wieder langsam frei. Wie die Skyline von Hongkong in Black Rain White Scars oder die Gletscherlandschaft in High Tide verwandelt sich die realistische Naturaufnahme in eine abstrakte Transfiguration. Marxt und Vrba thematisieren damit einerseits die Macht der Dauer als Grundkonstante des Kinos und andererseits hinterfragen sie das Verhältnis von Manipulation und Vertrauen in das filmische Bild.

even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

not even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

So sehr sich das österreichische Filmemachen immer wieder hervortut, man kann nicht von jedem Film auf der Diagonale erwarten, dass er eine komplexe filmische Position artikuliert. Das ist schlicht nicht möglich, sonst wäre die Welt voll von Meisterwerken und man müsste sich gar nicht erst die Mühe machen, einen Versuch der kritischen Differenzierung zu unternehmen. Pro Jahr schaffen es nur wenige Filme meine Wahrnehmung der Welt oder meine Haltung zum Kino nachhaltig zu erschüttern. Wenn ich nach einem Screening das Kino verlasse, kann ich also nicht jedes Mal verlangen, dass meine Weltsicht über den Haufen geworfen ist (das wäre auch ungesund), aber es ist gut, wenn wenigstens meine Augen bluten – und in Sachen Augenbluten ist Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts Klassenprimus. Das Flackern von Schwarz-Weiß-Kontrasten und ein Drone-Sound, der Angriff des Algorithmus auf die Netzhaut, eine brutale Attacke gegen die menschliche Wahrnehmung, bei der das Betrachten einer zweidimensionalen Leinwand an Körperlichkeit gewinnt.

Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf

Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf

Ähnlich brutal wie Kohlbergers Film ist Siegfried A. Fruhaus Vintage Print. Etwas unglücklich für die geschundenen Augen liefen die beiden Filme zwar unmittelbar hintereinander, doch offenbarte diese direkte Gegenüberstellung die unterschiedlichen Strategien des Flickerwahnsinns. Während Kohlbergers Film ein durch und durch digitales und berechnetes Konstrukt ist, verwendete Fruhauf als Grundlage für seinen Film eine uralte Fotografie aus dem späten 19. Jahrhundert. Diese Fotografie manipulierte er auf mannigfaltige Art und Weise, kopierte sie unzählige Male und veränderte sie dabei jedes Mal mit einer anderen Technik. Das programmierte Chaos Kohlbergers steht Fruhaufs Chaos nach Programm gegenüber, das digitale Code-Monstrum dem riesigen Materialkonvolut. Umso erstaunlicher, dass die Resultate Ähnlichkeiten aufweisen, in ihrer Strategie mit dem Zuseher in Kontakt zu treten. Beide attackieren sie den Sehnerv, vertrauen auf die Wirkung von geistigen Nachbildern, die ihre eigenen Bilder unterstützen und auf den Taumel aus Bild und Ton, der schließlich körperliche Effekte erzielt.

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

Seit Peter Tscherkasskys The Exquisite Corpus letztes Jahr in Cannes Premiere feierte wartete ich ungeduldig auf eine Gelegenheit den Film zu sehen. Das lange Warten hat sich bezahlt gemacht, denn The Exquisite Corpus ist (wenig überraschend) ein bemerkenswerter Film. Zum einen ist da die technische Virtuosität, die handwerkliche Genialität, die Tscherkasskys Werk befeuert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Handwerk, den jedes dieser sorgsam manipulierten Frames ging durch Tscherkasskys Hände. Wie üblich dringt er tief ein in die Struktur des Films, macht sichtbar, was nie sichtbar sein sollte. Es ist ein schmaler Grat zwischen einem brutal-invasiven Eingriff in das Material und einer poetisch-sublimen Auseinandersetzung, die zugleich auch Genre-Reflexion ist: Die Männerfantasie des pornographischen Films dekonstruiert, destruiert und doch bestätigt.

A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish von Johannes Gierlinger

A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish von Johannes Gierlinger

Etwas unglücklich lief Johannes Gierlingers A Subsequent Fulfilment of a Pre-Historic Wish gleich im Anschluss an Tscherkasskys kolossalen The Exquisite Corpus. Dass der Film trotzdem im Gedächtnis bleibt ist ein erstes Indiz für seine Qualität. Gierlinger macht sich darin auf die Spur der kubanisch-amerikanischen Künstlerin Ana Mendieta und zwar nicht in Form einer schnöden Künstlerbiographie, sondern frei, poetisch, assoziativ. Die satten Farben und die Grobkörnigkeit des 16mm-Films bestimmen die Bilder des Films, auf der Tonspur Gedanken, die lose mit der Künstlerin und ihrem mysteriösen Tod in Verbindung gebracht werden können. Ana Mendieta war mir zuvor kein Begriff, aber nun habe ich eine Vorstellung davon, für welche Form von Kunst sie stehen könnte. Unabhängig davon funktioniert der Film auch als sinnliches Filmgedicht über Kunst, Leben, Spiel und Revolution.

Atlantic35 von Manfred Schwaba

Atlantic35 von Manfred Schwaba

Schon während eines Festivals zeigt sich meist welche Filme Bestand haben und im Gedächtnis bleiben, und welche in der Bilderflut untergehen. Atlantic35 ist nur wenige Sekunden lang, doch das kurze Aufflackern der portugiesischen Atlantikküste umrahmt von einigen Sekunden Schwarzbild ist ein großer Moment, der im Gedächtnis bleibt. Ironisch könnte man konstatieren, dass der Film die letzte ökonomisch durchführbare Form eines unabhängig finanzierten 35mm-Films darstellt; mit gebotener Ernsthaftigkeit könnte man allerdings auch feststellen, dass Atlantic35 sich in die lange Reihe erstaunlicher Filme einreiht, die nur durch Barrieren (seien sie ökonomischer, politischer oder technischer Natur) entstehen konnte, die überwinden werden wollten.

SELF von Claudia Larcher

SELF von Claudia Larcher

Eine lange Kamerafahrt über eine Mondlandschaft, eine organische Mondlandschaft, den menschlichen Körper. Ein unmöglicher Körper viel mehr, dessen Körperteile und dessen Geschlecht nicht so einfach feststellen lässt. Die extremen Nahaufnahmen bringen exotische Perspektiven zum Vorschein, man verliert sich in den Irrungen von Gliedmaßen, Poren und Körperbehaarung. SELF nötigt zum Aufgeben der Orientierung, gar zum Versuch jeder Orientierung und schlägt stattdessen eine Lesart des menschlichen Körpers als Baustoff, als Ruine, als Landschaftsformation vor – ein Architekturfilm ohne Gebäude, ein landscape film ohne Landschaft.

Ghost Copy von Christana Perschon

Ghost Copy von Christiana Perschon

Ein wiederkehrendes Thema der diesjährigen Filme des „Innovativen Kinos“ war das kurze Aufflackern, das die Vergänglichkeit des kinematischen Augenblicks betont und sich in Reduktion übt. Auch Ghost Copy ist ein Film, der mit der Ausstellung des Moments arbeitet und findet für diese Form einen geeigneten Inhalt. Zwischen ausgedehnten Passagen von Schwarzfilm kurze Ausschnitte von österreichischen Amateurfilmen. Die ephemere Form der Präsentation trifft auf eine ephemere Form des Inhalts. Nur schwer lassen sich diese filmischen Erinnerungsschnipsel erkennen, einordnen und deuten, nur schwer lässt sich eine Verbindung zwischen den einzelnen Ausschnitten ziehen. Die Erinnerung bleibt lückenhaft, die Filme widersetzen sich den Bedürfnissen des menschlichen Chronisten. Was bleibt ist ein sinnliches Blitzgewitter gerahmt von Dunkelheit.

Diagonale-Dialog 2: I see the sun

not even nothing can be free of ghosts von Rainer Kohlberger

Alle Jahre wieder können Patrick und Rainer ihre Erfahrungen nur begrenzt austauschen, da sie sich selten im Kino sehen. Immerhin hat Patrick nun Die Geträumten von Ruth Beckermann gesehen und ist vom Film ähnlich überwältigt wie Rainer.

Rainer: Mittlerweile glaube ich fast, ich sollte diesen Dialog mit Ioana führen, weil sie sehr oft mit mir Vorstellungen besucht, während wir beide uns (wie üblich) selten über den Weg laufen. Im Übrigen habe ich noch immer nicht den Festivaltrailer gesehen: finden wir heute trotzdem eine Gesprächsgrundlage?

Patrick: Ja. Die Geträumten von Ruth Beckermann, den du in Berlin gesehen hast. Obwohl wir uns nicht über den Weg laufen, gebe ich dir völlig Recht. Das ist ein herausragender Film, der mir Tränen in die Augen trieb und mich neu-konfrontiert hat mit Gedanken zu Schauspiel, deutscher Sprache und letztlich sogar Liebe. Er zeigt auch, dass man das Gefühl vielleicht in der Fiktion finden kann und das ist einer der traurigsten und zugleich hoffnungsvollsten Gedanken, die ich seit langer Zeit in einem Film gespürt habe. Du bist ja der Beckermann-Experte…hat sie schon mal etwas Vergleichbares gemacht?

Rainer: Als Beckermann-Experte würde ich mich nicht bezeichnen, eher als Bewunderer, der leider noch nicht alle ihrer Filme gesehen hat, aber Die Geträumten nimmt meiner Einschätzung nach in ihrem Oeuvre schon eine Ausnahmestellung ein. Sonst findet man bei ihr meist nicht so eine starke Reflexion über das Filmemachen und ein solches Vabanquespiel mit verschiedenen Fiktionsebenen. Der Film ordnet sich dann aber doch irgendwie ganz gut in ihr Schaffen ein, weil sie meiner Einschätzung nach schon immer ein Händchen dafür hatte dem gesprochenen Wort sehr viel an Gefühl zu entlocken. Diese Blicke, diese Unmittelbarkeit, die durch die Schauspieler vermittelt wird – das ist zweifellos etwas, das man auch in ihren früheren Filmen findet. Ich würde sagen Wien retour funktioniert (auf ganz andere Weise) sehr ähnlich.

Patrick: Das könnte gut sein. Ich hatte auch das Gefühl, dass gerade diese Art wie sie diese beiden Menschen ansieht, unheimlich wichtig ist. Sie kommt da tatsächlich zur Seele der Figuren, zu dem was sich unter dem Sprechen befindet und gerade daher wird das Sprechen beziehungsweise Lesen wieder interessant. Auch die Art und Weise wie diese Briefe zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu einer Narration verdichtet wurden, ist brillant. Hast du dich auch von etwas begeistern lassen?

Rainer: Ich bin noch immer von Die Geträumten begeistert, auch wenn es schon ein paar Wochen her ist, dass ich ihn gesehen habe. In ähnlichem Ausmaß hat mich bisher nichts berührt, aber das Programm Innovatives Kino war sehr gut. Man kann ja nicht von jedem (Avantgarde-)Film verlangen, dass er einem mit einer hochkomplexen und perfekt durchartikulierten filmischen Haltung entgegentritt, aber es ist gut, wenn danach wenigstens die Augen bluten. Das hat mir in denen ersten beiden Programmen etwas gefehlt – die waren zu brav und zu leise – aber Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts erfüllt diese Erwartungen vollkommen. Der spielt gleichzeitig mit der Wahrnehmung und versucht dir sehr offensiv die Sinne zu rauben. Ein rhythmisches Flackern algorithmischer Hell-Dunkel-Stakkatos und eine sehr aggressive Tonspur. Das macht schon Spaß sich so blenden so lassen. Einzig die Programmierung war etwas fragwürdig, denn gleich danach kam mit Vintage Print von Siegfried A. Fruhauf ein zweiter Film ähnlicher Gangart, und ich war eigentlich schon nicht mehr aufnahmefähig. Der faszinierendste Film des Programms war aber Wunderschön und ruhig gelegen von Lukas Marxt und Jakub Vrba – über Marxt unterhalten wir uns auch jedes Jahr kommt mir vor?

Patrick: Ich denke nicht in Jahren. Ich denke in Filmen.

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Rainer: Nun gut, ich sehe aber seine Filme alljährlich bei der Diagonale und es scheint mir, dass sie immer zum Thema werden. Ich kann dir dieses Programm in jedem Fall nur von ganzem Herzen empfehlen. In welchen Filmen denkst du denn im Moment?

Patrick: Vielleicht denke ich wie ein Geträumter, weil wenn man in Filmen denkt und lebt, dann ist man ja irgendwie Teil dieser Fiktionen. So ein Fühlen, das es vielleicht gar nicht gibt und das sich trotzdem so viel echter anfühlt. Gestern hat sich der junge Darsteller aus Henry spät am Abend an unseren Tisch gesetzt. Er hat dann versucht – kurz nachdem Beckermann meinen Glauben an das Schauspiel erneuert hat – diesen gleich wieder zu vernichten. Aber wahrscheinlich war es nur Einbildung. Hat dich auch schon so richtig was enttäuscht oder aufgeregt?

Rainer: Dieser Junge war schon eine ziemliche Enttäuschung… Nein, Spaß beiseite, also die ersten zwei Programme Innovatives Kino waren schon in gewisser Weise eine Enttäuschung für mich. Von der Diagonale ist man da ein höheres Niveau gewohnt, aber es hat sich alles sehr brav, lasch und nichtig angefühlt. Mir fehlte da die Dringlichkeit, die gerade bei diesen Formen des Filmemachens gegeben sein muss, da sie sonst zur Stilübung verkommen. Ich überlasse dir einen Aufreger als wirkmächtiges Schlusswort.

Patrick: Nichts Schönres unter der Sonne/ als unter der Sonne zu sein.

I see the sun

She dawns

She burns

She grows

She feeds

She spews

She dies

Above us

Diagonale 2015: Avantgarde-Rundschau

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Die Reihe der Programme zum „Innovativen Kino“ gehören für mich bei der Diagonale zu den Fixpunkten. Man könnte sogar sagen, ich baue mein Programm rund um diese Avantgarde-Filmblöcke. Das liegt zum einen an meinem grundlegenden Interesse an der filmischen Avantgarde, und zum anderen, dass hierin (wie auch in der dokumentarischen Form) die besondere Stärke des österreichischen Filmschaffens liegt. Hinzu kommt, dass die Macher dieser Filme oft aus dem Bereich der Bildenden Kunst stammen, sich selbst sehr viel stärker als Künstler wahrnehmen als so mancher Spielfilmregisseur und dementsprechend exzentrisch daherkommen, was die Publikumsgespräche oft zu äußerst erquickenden Angelegenheiten werden lässt. In der Natur der Diagonale, als Festival, das einen Querschnitt des österreichischen Films bieten soll, liegt es natürlich, dass nicht jeder Film, der gezeigt wird ein Knaller sein kann, jene Werke, die mir besonders imponierten, will ich aber im Folgenden hervorheben (und dabei alphabetisch vorgehen).

back track von Virgil Widrich

back track von Virgil Widrich

Meine Hirnwindungen werden überbeansprucht beim Versuch über diesen Film zu schreiben, denn trotz Erklärungsversuchen des Kameramanns und Set-Fotografien habe ich nicht ganz verstanden, wie back track entstanden ist. Das Ergebnis ist eine lose zusammenhängende Geschichte, aus verschiedenen Ausschnitten von Filmklassikern, doch das Narrativ ist vernachlässigbar, denn es geht vielmehr um die technische Interpretation des Originalmaterials, die Widrich vornimmt. Eine Kombination aus Rückprojektionen, Spiegeln und Requisiten, mit dem Ziel ein möglichst eindrucksvolles 3D-Erlebnis zu schaffen, und das obwohl nur eine einzelne Kamera eingesetzt wurde, mit der im Stop-Motion-Verfahren aus leicht versetzten Perspektiven Bild für Bild abfotografiert wurde. Film als Konzeptkunst, denn das Wissen um den Arbeitsprozess vollendet erst den Eindruck, den der Film hinterlässt.

Black Rain White Scars von Lukas Marxt

Black Rain White Scars von Lukas Marxt

Die Skyline Hongkongs, im Vordergrund Vegetation, im Hintergrund Bürotürme eklektischen Baustils. Ein statisches Bild, die Kamera wird sich für die nächsten neun Minuten nicht bewegen, zunächst passiert auch im Bild selbst nichts außergewöhnliches, doch dann zieht rasch ein Gewitter auf, dass das Stadtbild mit einem grauen Schleier überzieht. Die zuvor sommerliche Atmosphäre wird zusehends von einer ungesunden Düsternis übermannt, die Bürotürme werden zu Raumschiffen und Phalli. Mittlerweile hat sich auch der Charakter der Tonspur verändert, denn der anfängliche naturalistische Begleitton, der ohne weiteres aus der unmittelbaren Nähe der Kamera hätte stammen können, hat sich zu einem abstrakten Hintergrundlärm entwickelt. Marxt fängt die nackte Welt ein und vermag es, sie ganz ohne Kamera- oder Montagetricks zu einer dystopisch-mysteriösen Schattenwelt zu verfremden.

EMBARGO von Johann Lurf

EMBARGO von Johann Lurf

Ein Film, der für uns alle in der Jugend ohne Film-Redaktion zu einem Highlight des Festivals zählte. Die Unschuld der ersten Sichtung lässt Aufnahmen eines Industriekomplexes in der Nacht vermuten, der von energetischer elektronischer Musik unterlegt wird und durch visuelle Brillanz besticht. Bei intensiverer Auseinandersetzung stellt sich heraus, dass es sich bei diesem Industriekomplex um Rüstungsfirmen handelt, die Lurf auch deshalb aus der Distanz filmt, weil es schlicht keine Möglichkeit gibt, ihr Inneres zu erkunden. Das „Embargo“ des Filmemachers entpuppt sich aber als Glücksfall, denn als geübter Erforscher ungewöhnlicher Architekturen kreiert Lurf eine angemessen gespenstische Atmosphäre und spiegelt so in der Form seines Films, den Charakter dieser zwielichtigen Orte.

Empört Euch! von Friedl vom Gröller

Empört Euch! von Friedl vom Gröller

Auch dieses Jahr war wieder eine Auswahl von neuen Filmen von Friedl vom Gröller zu sehen. Der spannendste unter ihnen, zeigt eine Würgeschlange beim Verschlingen ihrer Beute. Das ist erschreckend einfach und einfach erschreckend, Bilder roher Gewalt, aufgelöst in schwarz-weißen 16mm-Glück.

Exhibition Talks von Sasha Pirker und Lotte Schreiber

Exhibition Talks von Sasha Pirker und Lotte Schreiber

Eine Studie der Ausstellungsräume des Architekturforums Innsbruck, das in einer ehemaligen Brauerei untergebracht ist. Die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes ist in seiner Architektur eingeschrieben und wirkt nach dem Funktionswandel höchst ungewöhnlich, lässt es doch von außen Blicke bis tief in das architektonische Skelett zu. Die Filmemacherinnen bieten ausschnitthafte Fragmente der verschiedenen Räume und auch einige Außenansichten, die von einem gesprochenen Kommentar begleitet werden, der über die Geschichte des Hauses aufklärt. Der Kommentar wirkt jedoch nie redundant, sondern lässt den visuellen Fragmenten genug Platz zur Entfaltung, sodass man den Film auch getrost als sinnliches Bildgedicht in grobkörnigem Schwarzweiß wahrnehmen kann. Zieht man jedoch den Kommentar hinzu, verlässt man den Kinosaal nicht bloß ästhetisch beglückt, sondern auch um ein Stück schlauer.

Into the Great White Open von Michaela Grill

Into the Great White Open von Michaela Grill

Ein geradezu monumentales Landschaftsbild aus Eisschollen, Wolken und Meer, das von einer herumstreifenden Kamera immer so erfasst wird, dass man sich nicht ganz sicher sein kann, was man eigentlich gerade zu sehen bekommt. Der harte Schwarz-Weiß-Kontrast, der stellenweise ins Negativ umschwenkt, das Treiben der Eisschollen und das Treiben der Kamera. Ein Tanz am schmalen Grat zwischen Realität und Traum, am schmalen Grat des Horizonts, der die endlosen Wassermassen vom Himmel trennt. Dazwischen wir, dazwischen die polare Kälte, die sich in den Bildern materialisiert, dazwischen die unendliche Nichtigkeit des Seins, die im Aufeinanderprallen so substantieller Mächte wie Schwarz und Weiß, Licht und Schatten oder Himmel und Erde schmerzhaft deutlich wird.

moon blink von Rainer Kohlberger

moon blink von Rainer Kohlberger

moon blink ist ein Sonderfall in diesem Artikel, denn eigentlich habe ich den Film gar nicht gesehen. Wegen technischer Probleme, einer anscheinend fehlerhaften DCP, sah ich rund die Hälfte des Films gar nicht so, wie sie hätte sein sollen. Der Festivalkatalog beschreibt den Film als ein „codegeneriertes Gewitter, das dem Auge zunehmend den Halt versagt.“ Dieses Gewitter entwickelte sich in jenem Screening, bei dem ich anwesend war, zu einer Art statischem Rauschen, dass man von alten Röhrenfernsehern kennt. Kein „vibrierender Strobo-Bombast“, sondern eine farbintensive Halluzination, die aber ebenfalls als „lost in space and far beyond“ bezeichnet werden kann. Zeugt es von der Qualität eines Films, wenn er noch immer auf eine gewisse Art funktioniert, auch wenn die geheimnisvollen Algorithmen im Inneren des Computers verrückt spielen?

Odessa Crash Test von Norbert Pfaffenbichler

Odessa Crash Test (Notes on Film 09) von Norbert Pfaffenbichler

Eine humorvolle Studie zur berühmten Treppenszene aus Panzerkreuzer Potemkin. In unterschiedlichsten Versuchskonstellationen lässt Pfaffenbichler eine bemitleidenswerte Babypuppe die rasante Fahrt bergab nachspielen. Dabei wird deutlich, dass ein Kinderwagen keineswegs in geordneten Bahnen bergab fährt, sondern sich die Fahrt zu einem wilden, bockigen Ritt entwickelt, den mit der Kamera einzufangen, den Filmemacher vor einige Schwierigkeiten stellt – denn wie hält man diese Dynamik, diese Gewalt fest? Pfaffenbichler bedient sich ungewöhnlicher Kamerapositionen und einiger Montagetricks, die dem großen Sergei Eisenstein alle Ehre Wert sind.

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Ein kunterbuntes stummes Kurzporträt einer Frau im Garten, gefolgt von einem kontraststarkem Musikvideo in Schwarzweiß mit imposanten Mehrfachbelichtungen. Zuerst also ein Musterbeispiel an innovativer Postproduktion, gefolgt von einem in der Kamera geschnittenen Werk allerhöchster Handwerksgüte. Hunter bewegt sich in beiden Fällen auf den breit ausgetretenen Pfaden der Avantgardefilm-Geschichte irgendwo zwischen Len Lye und Kenneth Anger, ohne sich jedoch sorgen zu müssen, in diesen Fußstapfen zu versinken.

Video1 von Kurdwin Ayub

Video1 von Kurdwin Ayub

Der Lauf der Dinge wird zeigen, ob die selbstreferentiellen, ironischen und medienkritischen Filme von Kurdwin Ayub Werke von großem künstlerischem Gehalt sind, oder bloß die kleinen naiven Spielereien, als die sie sie präsentiert. Ayub stellt sich in diesen Arbeiten radikal zur Schau, überlässt sie aber dem Festival- und Kunstmarkt, anstatt sie, ihren Inspirationsquellen gleich, ins Netz zu laden. Dahinter steckt mehr Berechnung als sie zugeben will, und wenn sie sich mit Weinglas und gelebtem Desinteresse dem Publikumsgespräch stellt, spielt sie ihre Fassade so eindrucksvoll weiter, dass man geneigt ist zu glauben, dass das alles womöglich doch nicht mehr als postmodernes Herumgealbere ist. Ich glaube aber, hinter diesem exzentrischen Gehabe steckt sehr viel mehr als jugendliche Wurschtigkeit – selbst mehr als eine feministische Agenda oder eine ironische Kritik an der herrschenden Netzkultur – was genau, diese Filme aber ausmacht, darüber bin ich mir selbst noch nicht sicher.

Diagonale-Dialog 4: Wahrnehmungen

Da man auf einem Festival besonders viele Filme sieht, beginnt man früher oder später auch über die eigene Wahrnehmung von und mit Film nachzudenken. Was sieht man eigentlich? Wie sieht man eigentlich? Warum sieht man eigentlich? Dabei zeigt sich auch wie Film und im Besonderen ein Filmfestival zu einer persönlichen Entwicklung beitragen kann, die nicht weltfremd ist sondern mitten hinein in die Welt zielt. Und das bedeutet bei Rainer und Patrick wie schon im vergangenen Jahr auch oft: Konflikt.

Patrick: Wie war das Michael Glawogger Memorial?

Rainer: Weniger deprimierend als ich erwartet hatte. Sich diese frühen Filme anzusehen ist in mehrerer Hinsicht spannend. Es zeigt wie sich langjährige künstlerische Kollaborationen gebildet haben (anders formuliert: wie die österreichische Filmszene miteinander verbandelt ist) und natürlich wie sich die Formsprache eines Filmemachers entwickelt hat. Glawogger hat in den 80er Jahren sehr interessante Dinge gemacht: das poetische Bildgedicht Haiku und die frühen Experimentalfilme aus seiner Zeit in den USA haben es mir besonders angetan. Diese Filme zeugen von einem irrsinnig feinen Gespür für visuelle Gestaltung.

Patrick: Inwiefern feinsinnig?

Rainer: Farben, Komposition, Licht und in weiterer Folge Rhythmus und Musikalität – nicht dass schon alles in jeder Hinsicht perfekt wäre, aber man sieht wo es hinführt. Du hast parallel das neue Werk eines anderen großen österreichischen Autorenfilmers gesehen, hast du darüber etwas zu berichten?

Patrick: Ja ich war in Ludwig Wüsts (Ohne Titel). Manche Bilder waren schön. Der Film hält für mich aber weder konzeptuell (wir haben eine Frau mit einer Kamera und sehen die Bilder dieser Kamera, aber wir sehen trotzdem immer genau das, was wir sehen sollen), noch rhythmisch (alles wirkt abgehackt und dieses Unabsichtliche wirkt so merkwürdig absichtlich, Szenen finden sich selbst zu gut und bleiben daher stehen ohne tieferen Grund), noch narrativ (Film spielt mit krassen Themen, aber macht nichts damit), noch bezüglich der Stimmung (durch die Verspieltheit in der Form wird das Drückende im Film unterwandert), noch ästhetisch (Oberflächen werden gefilmt, aber mit Material, das die Konturen gar nicht hervorbringt) zusammen. Ich war enttäuscht.

Ohne Titel

Rainer: War überhaupt ein krasser Slot gestern früh. Bo Widerbergs Ådalen 31 wurde ebenfalls zur gleichen Zeit gespielt – dafür habe ich um 16 Uhr gar nichts von Interesse für mich gefunden. In Zeiten, wo man von VOD und vollen Festplatten verwöhnt ist, finde ich solche Entscheidungen und Überlegungen sogar sehr erfrischend.

Patrick: Welche Entscheidungen meinst du?

Rainer: Einerseits die kuratorischen, andererseits die des Zusehers (also von mir selbst). So wie du gestern argumentiert hast, dass du nicht in die Glawogger-Filme gehst, weil du auch nicht gegangen wärst, wenn er nicht verstorben wäre. Dieses Entscheidungen und womöglich noch die Begründungen dazu.

Patrick: Jetzt wirft du aber viele Dinge durcheinander? Was hat denn das mit Festplatten zu tun? Da hast du doch auch die Qual der Wahl? Und außerdem ist ein Festival schon im Kern so verschieden davon, dass ich das einen sehr bizarren Vergleich finde. Und ich habe meine Entscheidung nicht damit begründet, dass ich nicht in das Glawogger Programm gehe, weil ich nicht gegangen wäre, wenn er nicht verstorben wäre. Das klingt ja gefährlich einseitig. Also deine Frage zielt ja ein bisschen darauf: Wie trifft man eine Entscheidung auf einem solchen Festival. Ich glaube, dass man eine Entscheidung immer für einen Film trifft und nie gegen einen anderen. So sollte es zumindest sein. Ich habe lediglich geäußert, dass mir das immer suspekt ist, wenn Filmemacher usw immer sichtbar werden, wenn sie verstorben sind. Das ist etwas, was mich traurig macht. Dann bekommen sie plötzlich Programme und Interesse als würde der Tod ihre Arbeit aufwerten. Daher machen mir solche Programme oder Events immer etwas Angst.

Rainer: Naja, aber die Filme auf der Festplatte verschwinden ja nicht. In diesen Fällen ist es eher ein Aufschieben, auf Festivals hat es etwas Endgültiges – das ist doch schon was anderes.

Patrick: Du findest also, dass eine solche Entscheidung zum einen eine endgültige ist und zum anderen, dass das eine kluge Sache aus kuratorischer Sicht ist? Ich habe das Gefühl, dass ich jeden Tag eine Auswahl habe und dass selbst bei Streaminganbietern Angebote verschwinden und ich eine Wahl treffen muss. Schon die Existenz der Zeit an sich, zwingt mich zu dieser Auswahl.

Rainer: Ja sicher gibt es das auf anderer Ebene auch, aber bei einem Festivals tritt es stärker ins Bewusstsein (zumindest bei mir) und ich mache mir dann Gedanken darüber und ich frage mich dann auch, was die Kuratoren zu diesen Programmen bewegt.

Patrick: Aber ist das, was man als sehenswert einschätzt nicht sowieso subjektiv? Also wie kann das eine kuratorische Entscheidung sein. Du behauptest jetzt, dass das lauter Highlights waren (gleichzeitig lief noch Wie die anderen), aber jemand anderer empfindet das vielleicht an einem anderen Slot so?

Rainer: Ja das ist ja gerade der Punkt. Dann überlege ich mir: Wie kann der Kurator das nicht auch so empfinden, dass das alles Highlights sind? Beziehungsweise, ob meine Vorlieben so anders sind. Für wen kuratiert der Kurator eigentlich. Das sind schon auch Fragen, die mich beschäftigen.

Patrick: Aber da stecken doch auch oft ganz praktische Überlegungen dahinter? Du vereinfachst gerade die Aufgabe des Kurators und reduzierst sie etwas, oder?

Rainer: Ich möchte mit meinen Überlegungen nicht das Berufsprofil des Kurators herabwürdigen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass du meine Äußerungen etwas überinterpretierst. Ich wollte ganz einfach darauf hinweisen, dass ich den Entscheidungsprozess bezüglich der Filme, die man auf einem Festival ansieht sehr interessant finde – auch aus der Sicht des Kurators, der sich ja bestimmt ebenfalls mit solchen Fragen und Prozessen konfrontiert sieht.

Patrick: Ich mag den Gedanken des „Verpassens“ im Bezug zu Filmen nicht. Ich glaube nicht, dass man einen Film verpassen kann. Man kann ihn nur sehen. Natürlich gibt es auf einem solchen Festival einen Eventcharakter. Aber so ein Film besteht sowieso nur dann, wenn ich dort bin, wogegen ich zum Beispiel bei Ausstellungen oder Installationen das Gefühl habe, dass sie ohne mich weitergehen.

Black Rain White Scarfs

Rainer: Ich habe das Gefühl wir diskutieren schon zu lange über das Thema. Reden wir lieber über Lukas Marxt.

Patrick: Über den Trailer oder seinen Film im Programm?

Rainer: Beides?

Patrick: Beides sind sehr schöne Spiele mit der Wahrnehmung und dem Tondesign. Aus einfachen Set-Ups entstehen da Dinge, die man so nicht erwartet und ich glaube, dass das viel mit dieser Krise der Realität zu tun hat, die wir fast in allen Filmen des Innovativen Kinos beobachten können und auch in dokumentarischen und fiktionalen Programmen. In diesem Sinn ist Marxt wohl am Puls der Zeit, denn es scheint schon fast normal, dass aus einem Hochhaus ein Raumschiff wird, wie das vereinfacht in Black Rain White Scarfs passiert.

Rainer: Ok, diese Raumschiffanalogie habe ich so nicht wahrgenommen. Ich bin da vielleicht naiver und sehe „bloß“ ein phallusähnliches Hochhaus im Nebel und achte mehr darauf was der Film mit mir als Betrachter macht, als was im Film selbst stecken könnte.

Patrick: Du fragst dich nicht, was du siehst? Also ich behaupte nicht, dass das ein Raumschiff ist, aber natürlich überlege ich mir, was dort passiert.

Rainer: Ich sehe Häuser und später Nebel, lasse den Blick schweifen und versteife mich schließlich auf irgendein Detail oder bemerke, dass ich mit meinen Gedanken schon ganz woanders bin. Das ist eine schöne Form von Freiheit, die Marxt mir da ermöglicht. Der Trailer funktioniert für mich etwas anders. Da frage ich mich „Moment mal, irgendetwas stimmt da nicht im Zusammenspiel von Bild und Ton“. Mehr als eine solche Frage kann man von einem Einminüter wohl nicht verlangen.

Patrick: Aber du denkst an einen Phallus?

Rainer: Eines dieser angesprochenen Details.

Patrick: Ist das keine Interpretation?

Rainer: So tiefgehend ist es nicht, eher: „Oh witzig, das sieht aus wie eine Eichel.“ Ich integriere das ja nicht in eine feministische Filmanalyse. Was ich sagen will, ist dass ich bei Avantgardefilmen sehr viel stärker vom Bild an sich ausgehe und das perzeptive Stadium gar nicht verlasse – ich denke da nicht und das intensiviert meine Seherfahrung.

Patrick: Und wie kommst du dann damit klar, wenn Lurf in Embargo Waffenfirmen filmt? Glaubst du, dass das egal ist für den Film?

Rainer: Das wusste ich im Vorhinein nicht und es wurde durch den Film selbst auch nicht sichtbar. Dazu mache ich mir natürlich auch Gedanken, aber erst im Nachhinein. Ich fand den Film aber auch ohne dieses Zusatzwissen sehr meisterhaft – also rein viszeral.

Patrick: Ich verstehe das und ich glaube, dass das unglaublich faul ist. Ich glaube, dass man als Zuseher arbeiten sollte an einem Film. Sei es mit seinen Gefühlen, mit seinen Gedanken und vor allem mit der Auseinandersetzung mit dem, was man da sieht. Insbesondere für den Avantgarde-Film gilt das doch. Natürlich lädt da vieles und manches ein zum Abdriften, aber selbst das hat ja schon eine Bedeutung (zum Beispiel bei Lurf), weil man sich durchaus fragen kann (wie du richtig gesagt hast „im Nachhinein“), warum das mit einem passiert ist und so weiter. Film hat etwas mit Sehen und Hören zu tun. Sich hinzusetzen mit der Erwartung, dass man einfach Treiben kann, ist fatal. Dazu empfehle ich dir eine Massage. Das bedeutet nicht, dass gute Filme nicht solche Wirkungen erzielen. ganz im Gegenteil. Aber ein guter Film ist immer eine Form der Partizipation. Ich sehe, dass deine Art der Auseinandersetzung durchaus auch partizipativ ist. Aber wenn du solche Dinge sagst wie, dass dir wichtig ist, was der Film mit dir als Betrachter macht, dann fehlt mir da etwas. Du bist dann ja mehr mit dir selbst als mit dem Film beschäftigt. Und dazu musst du nicht unbedingt ins Kino, obwohl das Kino natürlich erst solche Reflektionen ermöglicht. Aber dann verwendest du diese Filme halt nur als Mittel, um über deine Wahrnehmung etc nachzudenken und denkst nicht intensiv an das, was sie machen, was sie sind.

Rainer: Genau die Frage was sie machen und was sie sind kann ich doch umso deutlicher ergründen, wenn ich mich zunächst einmal voll auf den Film einlasse und mich nicht sofort frage was das alles soll und welche Geschichte da dahinter steckt. Ich meine ja nicht, dass ich mich faul berieseln lasse, sondern dass ich mich voll auf den Film einlasse und ihn für das nehme was er ist: Licht, Schatten, womöglich Farben und Ton. Gerade ein Avantgarde begrüßt so einen Zugang, da man gewöhnlich keiner Handlung folgen muss. In einem weiteren Schritt kann ich mich dann aus dieser Immersion lösen und darüber nachdenken was nun eigentlich passiert ist und warum ich den Film so wahrnehme. Wenn ich dann vom Konzept erfahre und von den Ideen die dahinter stecken, kann ich danach noch immer darüber reflektieren und viele Filme profitieren zweifelsohne davon aber diesen ersten jungfräulichen Zugang, der oft ganz überraschende Dinge mit mir macht, würde ich nicht missen wollen.

Patrick: Das ist interessant. Du weißt ja, dass ich da ganz bei dir bin. Also mit dem Einlassen und so weiter, mit dem jungfräulichen Zugang. Aber warum erscheint es dir dann so fremd, dass ich da ein Raumschiff sehe? Warum glaubst du, dass ich deshalb mir weniger unschuldige Gedanken mache? Das passiert doch gleichzeitig, oder nicht? Ich kann doch nicht sehen und gleichzeitig ignorieren, was ich dazu fühle oder denke?