Viennale 2017: Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette von Bruno Dumont

Über einen Film zu schreiben, ist immer auch ein Versuch den Film besser zu verstehen. Manchmal überwiegt der Drang bestimmte Aspekte eines Films herauszuheben oder ganz einfach nur die eigene Begeisterung zu vermitteln, Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont ist für mich aber eindeutig einer jener Filme, über den ich schreiben will, um ihn selbst besser zu verstehen. Ein wenig hat das auch damit zu tun, dass ich am Beginn dieses Texts ziemlich ratlos vor dem Film stehe (Blake Williams bezeichnete den Film nicht zu Unrecht als UFO). Da sind die offensichtlichen Referenzpunkte, die Dumont auch selbst anbietet – der Verweis auf Straub-Huillet oder die abgründige Verrücktheit, der bereits Dumonts letzte beide Projekte Ma Loute und P’tit Quinquin geprägt hat. Auf der anderen Seite gehen die Gemeinsamkeiten mit Straub-Huillets Moses und Aaron kaum über eine ähnliche Form der Tonaufnahme hinaus und auch die Verrücktheit in Jeannette äußert sich weniger in makabren humoristischen Einlagen, als in einer Grundstimmung der Absonderlichkeit, die vor allem mit Musikauswahl und Figurenzeichnung zu tun hat.

Während sich die großen Jeanne d’Arc-Filme der Kinogeschichte meist mit den Erfolgen der Jungfrau auf dem Schlachtfeld und ihrem Niedergang auf dem Scheiterhaufen befasst haben, ist Jeannette ein vergleichsweise leichtfüßiges Musical über die Jugendjahre Jeannes. Der Film hört mit dem Aufbruch Jeannes in Richtung Orléans auf – das Drama ihres späteren Lebens ist da noch gar nicht abzusehen. Dementsprechend unbeschwert setzt der Film ein: sanfte Sanddünen, ein Bach, eine Schafherde und eine junge Hirtin in blauem Kleid, die singend von ihrem Leben erzählt.

Der Clou über den viel berichtet wurde, ist die Entscheidung Dumonts die Musik nicht im Studio aufzunehmen, sondern den Gesang seiner Laiendarsteller bei den Dreharbeiten als Direktton aufzunehmen. In der Postproduktion wurde lediglich das instrumentale Playback hinzugefügt. Laut, falsch und mit Begeisterung tanzt und singt sich die ungeübte Protagonistin und ihre Mitstreiter also durch den Film, und Dumont hat tatsächlich kaum Anstrengungen unternommen die Unsauberkeiten der Aufnahmetechnik auszumerzen. Es gibt in der Filmgeschichte wohl wenige professionelle Arbeiten, in denen so viele falsche Töne zu hören sind und so unsaubere Choreographien getanzt werden. Das unterscheidet Dumont schon mal radikal vom perfektionistischen Verfahren von Straub-Huillet. Die Frage ist nun aber, ob man diesen Amateurismus positiv oder negativ werten sollte. Dumont spielt absichtlich mit der Ästhetik des Unfertigen und Imperfekten, er verzichtet bewusst auf eine Optimierung der Musik- und Tanzeinlagen, um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erreichen. Das mag auch an der Lust an der technischen Herausforderung in der Produktion liegen, aber nicht zuletzt wird die Figur Jeannettes dadurch menschlicher, gewöhnlicher. Sie ist ein Mädchen, das ungefähr genauso gut tanzen und singen kann, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Auf der anderen Seite wirkt diese bewusste Setzung mit all ihrer handwerklichen Schludrigkeit und der eklektischen Musikauswahl aus Heavy Metal und Electronic etwas aufgesetzt provokant. Womöglich ist es also am besten die Unreinheiten gar nicht zu bewerten, sondern als gegeben hinzunehmen. Das würde dann bedeuten, die Musik in ihrer Imperfektion als überaus lebendig wahrzunehmen; welche Typen Dumont im Casting seiner Laien gefunden hat, ist – wie immer in seinen Filmen – ohnehin fantastisch; die Aufnahmen der Landschaft Nordfrankreichs, wohin Dumont seine Jeanne d’Arc hinverpflanzt hat, sehen atemberaubend gut aus – in Sachen Kadrierung und Beleuchtung ist der Film alles andere als amateurhaft.

Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette ist also in jedem Fall ein großes Fest für die Sinne, aber auf eine andere Weise als es bisherige Bearbeitungen des Stoffes waren. Dumonts Jeanne fehlt es weder an Frömmigkeit noch an Determiniertheit, aber sie äußert sich anders, denn diese Jeanne ist nicht leidend oder heroisch, sondern verspielt und lebensfreudig. Das ganze Gesinge und Getanze mag davon ablenken, aber im Kern gelingt es Dumont sehr gut diesem jungen Mädchen, das gleichzeitig ein französisches Nationalheiligtum ist, mit seinem filmischen Porträt näherzukommen. Sie ist überaus entschlossen Gottes Plan zu erfüllen und ihr glorreiches Heimatland Frankreich vor fremden Mächten zu schützen, wie ihre Vorgängerinnen in der Filmgeschichte. Der Grundton des Films, der halbironische Gestus, der Hang zum Absurden scheint den Ernst ihrer Mission aber beständig zu unterminieren. Diese Unentschiedenheit macht den Film erst so richtig interessant. Dumont scheint sich nicht groß darum zu scheren, ob die filmische Form, die er für den Film gewählt hat, dem epischen Charakter seines Sujets gerecht wird. Historische Ungenauigkeiten, Anachronismen, amateurhaftes Schauspiel und Genreelemente, stehen sehr präzisen und gar nicht trashigen Kadrierungen (die Bildsprache unterscheidet sich in ihrer Brillanz nicht von Dumonts früheren Arbeiten), und einem Interesse für Physiognomien und der mittelalterlichen Lebenswelt gegenüber. Das führt dazu, dass diese Jeanne weniger als verklärtes Relikt, denn als lebendige Person auftritt, nicht als mythologische Gestalt, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, die mit einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort und einer dazugehörigen Geisteswelt in Verbindung zu bringen ist. Jeannette ist kein historisierender Blick zurück auf eine Legende aus längst vergangenen Tagen, sondern eine Aktualisierung, die versucht ihrer Protagonistin über einen Umweg in die Gegenwart näherzukommen.

Die Annäherung an Jeanne d’Arc wird durch die Anachronismen und historischen Fehler vervollständigt, indem man durch sie einerseits die Jeanne in ihrer ganzen Menschlichkeit kennenlernt, und andererseits immer wieder die Rahmung des Gezeigten hinterfragt. Die Absurdität und der Eklektizismus sorgen somit für einen Verfremdungseffekt, der aber paradoxerweise zu einem tieferen Verständnis der filmischen Welt führt: Die Inszenierung der Vision, in der Jeanne den Auftrag bekommt Frankreich zu retten, unterscheidet sich kaum von ihrem restlichen Leben – religiöse Visionen sind im 15. Jahrhundert sehr viel wahrhaftiger und gleichzeitig banaler. Es geht weniger darum, was ein 13- oder 16-jähriges Mädchen im Spätmittelalter über Gott und das Land, in dem sie lebt, wissen kann, als darum, wie stark eine Überzeugung unter den damaligen Voraussetzungen wirken kann. Vielleicht ist dann die kinetische Energie eines Heavy-Metal-Songs gar nicht so weit von der Wucht einer göttlichen Eingebung entfernt als man glaubt. Natürlich ist der Film auch ein Witz, eine Abrechnung mit überhöhtem Nationalstolz (der Nationalismus Jeannes ist eine ebenso anachronistische Setzung, wie die musikalische Gestaltung) und eine ironische Variation eines Filmmusicals, aber es ist zugleich ein Porträt von Jeanne d’Arc, das erstaunlich tief in den Mythos eindringt. Wie konnte es geschehen, das vor über 500 Jahren ein Mädchen eine Armee anführen konnte? Wie konnte sie den Status einer Nationallegende erlangen? Wie konnte eine göttliche Eingebung den Lauf der Geschichte entscheidend verändern? Dumont macht in Jeannette die Verzahnung der mittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt greifbar. Was auf uns verrückt wirkt, ist, dass er zwischen den beiden keinen Unterschied macht. Und damit ist er wahrscheinlich ziemlich nah am Lebensgefühl der Menschen aus vergangenen Jahrhunderten.

But we do not do: Ma Loute von Bruno Dumont

MES ENFANTS

Von der ersten verhaltenen Reaktionen aus Cannes aus dem vergangenen Jahr, über den deutschen Titel und Trailer bis zur etwas weicheren Canal+-Glasur, mit der sich Bruno Dumont in diesen Zeiten blicken lässt, habe ich mich täuschen lassen. Von Juliette Binoche und ihrem Arthaus-Premium-Gesicht, von diesen bunten Regenschirmen, dem Jacques-Henri-Lartigue-Charme und der Tatsache, dass P’tit Quinquin zwar grandios war, aber letztlich Fernsehen mit weniger Raum für Zeit, Farben und in sich zirkulierenden Erinnerungen, von einer Tendenz, die ich glaubte in dem Filmemacher zu sehen, der mit La Vie de Jésus, L’Humanité und Twentynine Palms einen neuen Existentialismus ins Kino brachte, einen der nicht mehr auf dem Konflikt beruhte, sondern auf dessen Verschlucktwerden, einen der sich nicht entzündete, sondern der als gegeben festgesetzt wurde, einen der in den Bildern ruhte, statt sich aufzudrängen, davon dass er plötzlich Schauspieler zu besetzen schien und keine Menschen mehr, habe ich mich täuschen lassen.

© arte

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WE KNOW WHAT TO DO BUT WE DO NOT DO

Ma Loute ist großes Kino. Dumont zeigt das Aufeinanderprallen zweier Klassen, den inzestuös reichen Strandseglern Van Peteghem und den kannibalistisch gefärbten Muschelsammlern Brufort zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bitterbösen, völlig losgelöst absurden Triebfilm, in dem jegliche Motorik von erhöhten Krampfzuständen unterbrochen wird, in der jedem praktisch alles jederzeit schwer fällt in einer gemäldeartigen Landschaft, die in all ihrer Erhabenheit zugelassen und dennoch parodiert wird. Wieder hat Dumont etwas weiter an der Deformationsschraube gedreht, die kleinen Verformungen und an Rodin erinnernden Unförmigkeiten, sind inzwischen ein einziger Rausch an Übertreibungen geworden. Dass was seine Verformungen geöffnet haben in der Wahrnehmung einer Geste oder eines Blicks, das schließen sie jetzt in einer Reinheit des Körperlichen: Schmatzend, tänzelnd, glucksend, springend, jauchzend, fliegend, kreischend, knurrend, rülpsend, rollend, stotternd, stampfend, quietschend. Das Loch zwischen einer Tat und ihrer Bedeutung ist nicht mehr leer im Kino von Dumont, es ist überfüllt. Wie er selbst sagt: Er benutze jetzt kein Teleskop mehr, sondern ein Mikroskop. Damit ist auch und hauptsächlich die Arbeit mit der Kamera gemeint, die das Digitale in all seinen möglichen Korrekturen auskostet und die Körper und Gesichter derart brutal und majestätisch in den Kinosaal ragen lässt, dass man Ozeane in den Furchen und Fältchen unter den Augen der Protagonisten lesen kann. Mehr noch gilt die Überfüllung aber für die Tonebene, die Dumont im Gegensatz zu früheren Arbeiten nicht mehr öffnet für die Geräusche des Augenblicks, sondern die er fast hermetisch durchkomponiert, im Stile eines Jacques Tati, sodass jede Kopfbewegung ein „Wusch“ erzeugt und jede Figur mit ganz eigenen Geräuschkulissen ausgestattet wird wie der rollende und sich aufblasende Inspektor Alfred Machin, der mit seinem Gefährten Malfoy an Laurel & Hardy erinnert.

Die Übertreibungen arbeiten vor allem – und das ist ein ganz neuer Aspekt bei Dumont – in den wohlhabenden, erwachsenen Figuren. Das bringt einen auch gleich zu dem, was Dumont da eigentlich macht. Jenseits eines Filmemachers wie Jean-Luc Godard hat man wohl kaum jemanden gesehen, der sich selbst in seinen eigenen Werken so heftig kritisiert. In einer bemerkenswerten Szene sitzen die Van Peteghems, jene schrille Gaga-Familie, die in einem ägyptisch geprägten Bauwerk namens Typhonium (der Name bezeichnet eigentlich die Eidechsenwurz, die Wunderknolle, die ohne Erde und Wasser Blüten treibt) an Dumonts geliebter Nordküste nahe Calais vor sich hin vegetieren und schreien, an einem Tisch. Sie warten auf Omelettes und betrachten einen Fischer. Sie, das heißt vor allem Fabrice Luchini, der die beste Performance eines jeden Lebens abliefert, bewundern den Mann aus der Distanz, er sei wie aus einem Gemälde entwachsen, er sei so erhaben, so schön. In diesem Gestus liegt gerade in der Übertreibung eine enorme Sozialkritik am bürgerlichen Tourismusdenken. Die vornehme Distanz, die bizarre Wahrnehmung von Schönheit, der Film legt all das immer wieder offen. Es folgt eine Nahaufnahme des Fischers, in der Dumont wie so oft die vollkommene Banalität des Kinos gegen die Erwartung stellt. Und damit auch sich selbst hinterfragt, denn in vielen Interviews hat Dumont immer wieder von den malerischen Aspekten dieser Gesichter des Nordens gesprochen, der flämischen Tradition. Diese Banalität existiert immer wieder in größtmöglicher Ambivalenz. So sieht man eine Landschaft, wie man sie schon immer gesehen hat bei Dumont. Sie ist bisweilen schön, er filmt sogar gegen die Sonne. Aber man weiß nicht, ob man das jetzt schön findet oder nicht, schön finden darf oder nicht, unter allem schlummert bereits die Parodie.

Selbiges gilt dann auch für die dramatischeren Szenen im Film, der Liebesgeschichte zwischen Ma Loute und Billie. Es gilt auch für Billies Geschlecht, das vom Filmemacher und auch der Öffentlichkeitsarbeit des Films in einer unbequemen und Mechanismen hinterfragenden Schwebe gehalten wird. Und schließlich für eine überwältigende, an das Kino von Jean Epstein erinnernde Rettungsaktion durch den Vater von Ma Loute, den sie „Der Ewige“ nennen. Die Kamera betrachtet ihn schräg von unten, ein Held unter dem digital bis zur kleinsten Farbe komponierten Gewitterhimmel. Denn auch wenn Dumont die Schönheit des Ortes unter den Fragen der Ambivalenz und der Banalität verhandelt, arbeitet er doch mit besessener Perfektion, an seinen Bildern, ihrem Framing, ihren Farben und ihrer Position zwischen zwei anderen Bildern. Nur so vieles, was einst so unglaublich ernst war, scheint jetzt so unheimlich gelöst. Aber das täuscht, denn nach wie vor schlummert in diesem Reigen an Irrsinn eine Verbitterung, die Dumont, auch wenn er das selbst nicht hören wollen würde, zu einem der wichtigsten politischen Filmemacher eines nach rechts schwankenden Europas macht. Einer, der Zustände freilegt durch eine nie psychologische, sondern immer kinematographische Herangehensweise. Die Schwierigkeit zu handeln, die Schwierigkeit einen Satz zu sagen oder einen Schritt zu gehen. Eine Form von motorischer Ohnmacht, die sich in eine Verunsicherung hinein sträubt, kaum zu bändigen scheint und letztlich immer konsequenzlos bleibt, selbst wenn sie tödlich endet. Hier existieren alle nebeneinander (man achte auf die vielen weiteren, reichen Strandurlauber, die sich schweigend über das Wasser tragen lassen und fast wie Geister als Farbflecke in der Landschaft agieren), niemand ineinander (nur, wenn man die andere Person isst) und alles, was angesehen wird, wird nicht angeblickt, nichts wird wirklich berührt, es bleibt eine Distanz, die sich in Bildern ergötzt, in Aussichten, Marienstatuen und Äußerlichkeiten.

Noch kurz ein Wort zu Luchini, das muss erlaubt sein, mit seinem Lächeln, seinem Timing, dem den Gesetzen der Schwerkraft widersprechenden Bewegungen, die immerzu kippen und sich drehen, und aus der größten Verkrampfung noch einen leicht tänzelnden Schritt gewinnen wollen. Der sich nicht wirklich hinsetzen kann, nicht wirklich aufstehen kann, nicht wirklich gehen kann. Immer wieder versucht die Figur zu winken, wie man als Adeliger winkt, aber es bleibt nur eine verformte Geste, ein Fingerkrampf, der nach einem Hut greift, den der gute Mann nicht immer aufhat. Selten hat man ein derart perfekt choreographiertes Bewegungssammelsurium in einem Körper gesehen. Eine Szene, in der er in einem Segelwagen am Strand einen Unfall baut, leitet er ein, indem er eine lange Zeit im Wind tänzelt, sich warm macht, man weiß es nicht, ehe er sich in wildem Kostüm, fast fetischierend eingesetzt von Dumont, in das Gefährt begibt. Sämtliche Bewegungen von Luchini unterliegen dem Prinzip ihrer eigenen Unterdrückung. Kaum eine Figur, vor allem nicht bei den Van Peteghems kann wirklich die Bewegung vollführen, die sie vorhat. Dieser Irrsinn fällt mit Juliette Binoche am schwersten. So ganz will sie sich den rein mechanischen, körperlichen Absurditäten nicht hingeben, ihre Figur ist immer von einem inneren Konflikt gelenkt. das ist schade, weil diese deformierten Bewegungen eigentlich eine Zustandsbeschreibung sind und keine narrative oder psychologischer Folge einer Figur. Es macht zwar absolut Sinn, dass Dumont die Distanz zwischen den Van Peteghems und Bruforts auch im Casting reflektiert, aber nicht alle Schauspieler sind bereit, ihre Körper gleichermaßen zu einem Schlachtfeld der Zuckungen zu machen.

© arte

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LES OISEAUX

Was wir sehen, ist die aufflammende Deformation sämtlicher Gesellschaften und jene der Repräsentationsfunktionen des Kinos. Es ist ein Kino, das sich selbst abschwört und darin wieder und wieder zu sich findet. Wenn Dumont sagt, dass Komödie und Drama zwei Seiten der gleichen Medaille sind, hat er Recht. Es ist nur so, dass seine Komödien viel bitterer sind als seine Dramen nach Twentynine Palms. Zumindest aus seiner etwas schwierigen Phase mit Filmen wie Camille Claudel 1915, Flandres oder Hadewijch erschließen sich nun ganz neue Wunden. Was geblieben ist, ist der religiöse, spirituelle Fluchtversuch, die Frage nach einem göttlichen Wirken. In Ma Loute wird gebetet und dann gibt es auch ein Wunder. Liegt darin nur das Aufeinandertreffen dieser großen Banalität und Fleischlichkeit mit einer plötzlichen Erhöhung? Oder wohin fliegen all diese Figuren, warum fliegen sie, wovor fliegen sie hinfort? Es fällt auf, dass Frau Van Peteghem, gespielt von Valeria Bruni-Tedeschi, nachdem ihr ein Wunder an der Küste widerfährt, in glückseeliger Ruhe, sanft lächelnd verbleibt. Ist das der Lösungsvorschlag des bitteren Ironikers Dumont? Man braucht eine göttliche Erscheinung, um dem zu entkommen? Oder ist es die Reaktion der anderen, die zunächst überschwänglich ist, aber dann vergisst, was passiert ist? Ist es die Feststellung, dass man wieder landet, das alles gut ist und es immer eine Zeit gibt, um zu vergessen? Oder ist es nur die nüchterne Feststellung, dass auch diese göttlichen Kräfte, das Deus Ex Machina völlig deformiert ist und zur falschen Zeit der falschen Figur erscheint?

Bleibt noch die Frage nach der Art und Weise, in der Dumont Menschen zeigt. Es wurde immer wieder darauf verwiesen, dass sich Dumont ganz bewusst in moralischen Grenzbereichen aufhalten würde. Das liegt darin, dass er vor allem in einem Film wie Camille Claudel 1915 Behinderungen extrem offensiv dargestellt hat. Offensiv, das heißt in konkreten, klaren Bildern, die sich nahe an Menschen wagen und denen kaum Schutz gewähren. Außerdem gibt es sicherlich eine Tendenz zur Ästhetisierung  von Gesichtern und Körpern, auch deren Bloßstellung. Dumont betont, dass er gerne in dieser Region drehe, weil er selbst von dort komme und die Menschen dort besser nachvollziehen könne. Ma Loute zeigt das vor allem deshalb so deutlich, weil das Fremdartige bei Dumont nie in der Deformation, nie im langen Studieren nicht-symmetrischer, rauer Gesichter liegt, sondern im Wahnsinn eines Vergrabens und Auslebens animalischer Elemente des menschlichen Daseins. Es liegt im Kontakt, der simplen Geste, es liegt einfach da. es ist nicht schlicht eine Sache des Blicks, sondern der Sekunden danach, Dumont bietet uns etwas an, wir können damit umgehen, er stellt es uns frei. All diese Dinge existieren in einem derart ambivalenten Raum, dass sie eigentlich kaum benennbar sind. Letztlich werfen sie das Auge auf sich selbst zurück und man sieht in den Blicken dieser Laien und deformierten Gesichter die Transformation einer Frage aus dem moralischen, pseudo-politischen Parabelkino, mit dem man sonst gerne konfrontiert wird. Denn statt „Wo stehst du?“ fragt Dumont „Wie stehst du?“.