Life is full of suffering. This is a cliche on account of it being so true. Staying hung up on your problems won’t get you anywhere. The question is how you deal with them. And yet there is something cathartic about not doing anything to solve them and just complaining to an audience instead, which is what Luís Miguel Cintra does in Manoel de Oliveira’s Mon Cas. The film is divided into four sections and takes place on a proscenium stage. The first three sections deal with a group of actors who self-consciously read from a script they’re trapped within, namely Jose Régio’s “O Meu Caso”, and the fourth is a retelling of “The Book of Job.” The characters in the first three are dealing with personal issues and there is competition between them for the audience’s sympathy. Cintra delivers a diatribe somewhere between a confession and a complaint. It calms him to do so, to get it all off his chest. The catharsis is short lived, however. The other characters need time to speak, too, and the director is getting annoyed with the actors for being so selfish; he has an agenda that is being compromised by studio demands and doesn’t want to hear them whine about their problems.
The scene starts over from the beginning, this time sped-up, silent, and in black and white. As the scenario is repeated a deep, off-screen voice delivers an existential monologue about himself in the third person, about his birth and death. This text is from Samuel Beckett’s “Fizzles.” What was a wacky, hyper-reflexive play on a gaudy set with unsympathetic characters becomes surprisingly earnest and introspective. The play is repeated once more. It’s in color again. It’s sped up like the previous section, but the ambient audio has returned through some kind of distorted filter. And in the background there is a projector playing scenes of wars taking place at the time. We know these images; they relativize our problems within the grand scale of human misery. In making an appeal for empathy, however, they have the unintended effect of numbing us to the suffering of others. If anything, we resent the problems on screen for minimizing our own. There just doesn’t seem to be enough space.
In the final section we see Job in a dystopian junkyard covered in wounds. It’s even more theatrical than the first three sections, and yet paradoxically it’s the most somber. It deals with the suffering of an individual like the others, but there isn’t any rejection of artifice, and there isn’t a fixation on it either. Job doesn’t make appeals to his friends for sympathy; he bears his pain indifferently. There is a reverent expression through the absurdity of the mise-en-scène and excessive makeup. I wonder what this section would have been like had it not been preceded by the other three, which so foregrounded the issue of the character’s self-awareness of themselves, of the script, of the stage and their presence in it. I thought de Oliveria must have been making a critique of the social situation of art and theatre at the time, as if he wanted to point out that it couldn’t get past it’s navel gazing, but then as the film was ending some little girls showed up dancing and throwing flowers, and they gave the Mona Lisa to Job like a trophy for his steadfast commitment, and this was all so incomprehensible that I had to abandon such a literal interpretation and see where else the film would take me, and then it came to end.
Wer spricht wie aus Büchern, gehoben und archaisch, dem sagt man, mit der um sich greifenden Genugtuung jener, die sich kollektiv im Recht sehen, gern nach, weltfremd oder dekadent zu sein. Das Beispiel João César Monteiros, der sich um einen Ausdruck bemühte, der mehr an Luís de Camões erinnerte, als an die verstaubten Straßen, auf denen er drehte, beweist, dass dabei nichts gewonnen wird. Schließlich verändert Monteiro das Licht der Dinge, wenn er spricht.
Die sogenannte „schöne Sprache“ wurde längst vom Diktat des Massengeschmacks aus Literatur und Kino entfernt, dort wo sie noch aufblitzt, hängt sie wie ein verblassendes Gemälde in der Nische, für all jene, die daran noch Gefallen finden (alle anderen haben sicher besseres zu tun).
In Filmen, das sagte schon Maya Deren, dürfe ohnedies nicht schön gesprochen, geschweige denn gedichtet werden und man fragt sich, was diejenigen, die der Poesie der Sprache jene des Bildes gegenüberstellen, gewinnen und was andersherum verloren gehen würde, wenn man beides nebeneinander stellte, wie das etwa bei Manoel de Oliveira, Danièle Huillet, Jean-Marie Straub, Marguerite Duras oder Chris Marker der Fall ist.
Der vielerorts verpönte Voice-Over, der mehr sein will als Information, der im Zwischenspiel von Sprache und Bild seine Bestimmung findet, ist so viel stiller als der aufgesetzte Lärm, mit dem das Kino uns seit Jahrzehnten Handlungen zeigt. Aber woher soll die Sprache auch kommen, wenn sich diejenigen, die ein Gefühl für sie haben, davor fürchten, dass sie nicht verstanden werden? Jenseits der wirklich guten Lektoren wird in impressionistischer Sekundenschnelle an ästhetischen Verfeinerungen gearbeitet, die gleich einer Asphaltwalze alles ebenerdig und teerduftend in der angenehmen Bedeutungslosigkeit versenken. Lieber lebensnah als wahr, lieber klar als kompliziert.
Sie alle haben Recht, denn anders werden sie nicht verstanden, egal ob sie ein wirkliches Bild machen oder einen wirklichen Satz sprechen, all das in den Augen und Ohren derer, die entscheiden: angestrengt, verkopft, prätentiös und abgehoben. Lieber also nur möglichst leicht verständlich das nachsagen, was erwartet wird und zufrieden sein, weil man dafür gestern wie heute das meiste Lob bekommt.
In Fundão, Castelo Branco vom 27. bis zum 30. April zu Füßen der im dunstigen Schnee lauernden Sierra da Estrela: Das Kino als Begegnungen auffassen. Eine Gruppe außergewöhnlicher Kinoliebhaber huldigt diesem Ideal seit Jahren. Sie sind gekleidet wie die Outlaws einer vergangenen Zeit: Trenchcoats, Lederjacken, Cowboyhüte und zerrissene Wolle eines aufrechten Widerstands. Ihre größte Waffe ist Offenheit und Demut gegenüber Mensch und Film. Es gibt hier eine Allianz zwischen dem Kino und den Leuten, deren Augen das Kino erst lebendig werden lassen. Es gibt hier ein Kino, das zu den Menschen will.
Die Landschaft um Fundão ähnelt jener großer amerikanischer Western. Vieles wirkt unberührt, unerschlossen und doch von den verheerenden Feuern der letzten Jahre erschüttert. Verbrannte, unberührte Erde. Die Verbindung der Menschen und auch des Kinos mit der Erde sollte uns in den Tagen in Portugal beschäftigen. Das Gesetz, so sagt man uns, sei weit entfernt von Fundão. Man nimmt einen Zug aus Lissabon. Wie lange es dauert, ist unerheblich. Nachdem man die Industrie und den überschwappenden Tourismus der portugiesischen Hauptstadt hinter sich gelassen hat, beginnen Adler vor dem Fenster zu kreisen. Der Tajo fließt golden zwischen verheißungsvoll glänzenden Hügeln. Man beginnt etwas zu träumen, aber die Nähe von Schönheit und Ödnis, Reichtum und Armut lässt einen nie ganz schwärmen.
Lucky Star von Frank Borzage
In Fundão selbst herrscht ein kalter Wind bei unserer Ankunft. Er sollte sich nicht legen. Die Gipfel am Horizont schienen sogar neuen Schnee zu empfangen, was die Einheimischen nicht an ihren kauernden, kaffeetrinkenden und rauchenden Posen in den Straßen des Ortes hinderte. Ganz im Gegenteil gab es ihrer Präsenz noch etwas mehr Kraft, regte sie sich eben nicht nur gegen die Welt, sondern den spürbaren Wind. Gleich neben dem Bahnhof, das war auch gleich neben dem Kino, dem Kunstzentrum der kleinen Stadt, „A Moagem“ (Das Mahlen), wartete ein scheinbar streunender Hund an einem Kreisverkehr auf. Er blickte zu dieser Gruppe überzeugter Kinoenthusiasten in verlorener Erwartung. Das ganze Szenario hatte etwas Raues an sich, wäre es nicht zugleich so sanft.
Das Sanfte im Rauen erinnert an die hand- und herzensverlesenen Filme des Festivals. Filme wie Frank Borzages brutaler und romantischer Lucky Star oder Pierre-Marie Goulets balladenhafte Polifonias – Paci é saluta, Michel Giacometti und Encontros. Diese Filme über Alentejo, die Poetin Virgínia Dias, Korsika und den Ethnografen Michel Giacometti sind das beste Beispiel für die Verbindung von Kino und Erde, Menschen und Kino, die bei Encontros Cinematográficos betont wurde. In Modi von Gleichklang und Mehrklang untersucht Goulet dabei Verbindungen und Begegnungen zwischen Koriska und Alentejo sowie zwischen Musik und Leben, Poesie und dem Boden, aus dem sie wächst. Seine schwelgerischen und im betörenden Sinn repetitiven Kamerafahrten versetzen in einen Zustand der Vermischung, der dadurch verstärkt wurde, dass seine beiden zusammenhängenden Werke (am Abend wurde noch ein dritter, sein neuester Film, als Überraschungsfilm gezeigt) direkt hintereinander gezeigt wurden. Immer wieder der Blick hinaus in die Landschaft, der Worte und Musik ermöglicht. Die Reichhaltigkeit eines Lebens, das Leiden, der Kampf, die Schönheit und ihr letztendlicher Ausdruck für den Goulet filmische Denkmäler baut. Die Wahrnehmung so sehr nach außen gestülpt, dass man vergisst, woher die Imagination kommt. Nicht das einsame Zimmer von Robert Walser, nicht das am Anfang stehende Wort, sondern die Berührung und Begegnung mit allem, was sich vor diesem Zimmer befindet. Nicht nur aus diesem Grund immer wieder Bilder von Terrassen, die sich an der Schwelle zwischen Zuhause und Natur befinden. Eine Form innerlicher Überwältigung, die sich nach außen trägt. Keine Explosionen oder Dinosaurier, einzig der Blick hin zur Welt.
Encontros von Pierre-Marie Goulet
Encontros ist auch ein Film über das Kino, insbesondere über Paulo Rochas Mudar da Vida. Der Filmemacher und sein Film durchwandern Encontros, es stellt sich die Frage nach der Verbindung eines Filmemachers und seiner Drehorte sowie den Menschen, die er so wundervoll filmte. So also vermag Encontros ein Film darüber zu sein, wie die Liebe zu Kino und Kunst, Menschen näher zusammen bringt. Sowohl in der selben Zeit, als auch über die Zeiten hinweg. Michel Giacometti, Manuel António Pina, António Reis, Paulo Rocha, Virgínia Dias und Pierre-Marrie Goulet. Sie alle wandern auf gleichen Pfaden und treffen sich in diesem Film, der die Zeit zu Gunsten eines Ortes aufhebt.
Dieses Wunder erschien bereits am Morgen in den bewegendsten Augenblicken, die ich jemals in einer Kirche verbracht habe. Ein Bus brachte die Gruppe gleich einem Schulausflug durch für Busse eigentlich zu enge Gassen in einen Nachbarort. Dort stand, umgeben von traumeinladenden Gärten und beobachtet von einem weiteren, diesmal dreifüßigen, stolz hinkenden Hund, die Tür zu einer alten Kirche offen. Vorne war eine Leinwand aufgespannt. Unsere Gruppe schlich trotz herziger Begrüßung etwas schüchtern und bemüht anmutig durch die morgendliche Heiligkeit. Zeigt man es in der Kirche kommt einem das Kino schnell wie eine Sünde vor, schließlich weiß und zeigt es mehr als der Pfarrer. Im linken vorderen Teil, näher am obligatorischen Jesuskreuz versammelte sich eine Gruppe älterer Menschen, die wir bislang nicht gesehen hatten. Wahrscheinlich, so dachte ich naiv, Menschen aus der Kirchengemeinde. Weit gefehlt. Gezeigt wurden Episoden aus der von 1970 bis 1974 laufenden TV-Serie Povo Que Canta von Alfredo Tropa und Michel Giacometti. Die Frage danach, wer dieser Michel Giacometti war, erreichte uns immer wieder während des Festivals. Man erzählte uns, dass er auf einmal aufgetaucht war. Ein Retter der portugiesischen Musiktradition aus Korsika. Mit Tuberkulosediagnose zog er nach Portugal und gründete dort ein Archiv, um Volkslieder und Erzählungen aus dem Hinterland zu sammeln. Er reiste von Ort zu Ort und sammelte ein musikalisches Erbe. Seine Präsenz in den Bildern ist von außerordentlicher Ruhe und Neugier beseelt. Er spricht zu uns vor allem durch die Musik, die er liebt und die Menschen mit denen er diese Liebe teilt. Seine Arbeit ist die des Zuhörens. Er dokumentierte gegen das Vergessen.
Nuvem von Ana Luísa Guimarães
Was ist es mit diesem Geschreibe von den „Menschen“? Ist es nur die Überwindung mitteleuropäischer Kühle und Distanz, die einem im Besuch dieser anderen Kultur in einen Rausch an Empathie verwandelt? Ist es vielleicht gar die Hilflosigkeit im Angesicht einer fremden Offenherzigkeit, die mich auf einen Allgemeinbegriff wie Menschlichkeit zurückfallen lässt? Ich weiß es nicht, aber die Szenen, die sich in der Kirche abspielten, haben, wenn nicht mit Menschen, doch zumindest mit ihren Erinnerungen und ihrer Sterblichkeit zu tun. Denn die uns unbekannte Gruppe im vorderen linken Teil der Kirche bestand aus einer Vielzahl an älteren Damen, die sich selbst und ihre Stimmen auf der Leinwand wiederfanden. Beinahe 50 Jahre später, im Angesicht der eigenen Jugend. Ihre Unruhe und ihr Lachen, ihr Erkennen und Verblassen erzeugten eine ungeahnte Spannung zwischen Leinwand und Zusehern. Die Kirche wurde eine Zeitkapsel, nicht mehr das Sehen und Hören stand an erster Stelle, sondern das Sein an diesem Ort zu dieser Zeit. Tränen sammelten sich in den Augen als eine Stimme in der Kirche gar in spontaner Emotion die Musik auf der Leinwand begleitete. Der Gesang hallte echohaft unter der Decke der Kirche und aus den Lautsprechern. Beim Verlassen des Gemäuers waren wir endgültig aus der Zeit gefallen.
Regen kündigte sich an. Im milchigen Dunst über dem steppengleichen, trockenen Boden fragt niemand nach den falschen Fragen des Kinos. Niemand will wissen, wer diese Filme programmiert hat, niemand will wissen, wer sie besitzt. Es kann keine Rolle spielen. Die Probleme bei mancher Projektion erinnern höchstens an Rechtschreibfehler in Liebesbriefen. Sie sind nicht relevant, der Gestus ist nicht Perfektion, sondern Zuneigung. An einem Abend jagen wir mit einer kleinen Gruppe einen Regenbogen, der in besonders kräftigen Farben aus dem Boden zu sprießen scheint. Straßen im Irgendwo. Alles durchdrungen von unserem im Kino geschärften Blick für Schönheit und Vergänglichkeit. Wir stoppen in einer verlassenen Gegend an einer im Sonnenlicht badenden Steinhütte. Es ist ein zugleich lebensfremder und lebensbejahender Ort. Ob man hier leben könne, fragt jemand. Wenn man sich erinnern würde, wie man lebe, entgegnet eine andere. Es ist erstaunlich, was mit der Wahrnehmung passiert. Schließlich sehen wir in dieser Gegend und auch im Kino auch viel von der sozialen Ungerechtigkeit, politischen und natürlichen Problemen. Wir erleben einen Widerstand auf der Leinwand. Wir hören auch viele schlimme Geschichten über die portugiesische Filmlandschaft. Von Bestechungen, ausbleibenden Fördergeldern und kaum zu fassenden Mechanismen.
Espelho Mágico von Manoel de Oliveira
Ein Beispiel dafür findet sich in Ana Luísa Guimarães, die zu Gast ist auf dem Festival und ihren Film Nuvem zeigt. Der Film, der bis heute ihr einziger Langfilm ist, ein zerbrechlicher Traum verlorener Jugend, die genrehafte Erprobung von Gesten und Verhaltensweisen als Akt des Ausbruchs mit unheimlicher Sicherheit in die Nacht hinein inszeniert, sodass man sich plötzlich im pulsierenden Mond von Nicholas Ray wiederfindet, obwohl man jederzeit fest in Portugal verankert bleibt. Nuvem ist ein Film, der vieles falsch machen könnte, weil er von einer klischeehaften Welt notgedrungen mit Klischees erzählt. Aber Guimarães findet aus den Fallstricken heraus, weil sie das Kino und die Illusion mit der Sensibilität ihrer Figuren verbindet. Erzählt wird eine klassische Liebesgeschichte im Kleingangstermilieu. Der Eindruck eines Freiheitsbegehrens entsteht, eines, das sich zwischen Tag und Nacht abspielt, aber nie wirklich ankommt. So wie bei Nicholas Ray immer die Gangster am zärtlichsten sind, so ist bei Guimarães die Nähe zwischen Kuss und Todesschuss, die verführt. Das Spiel und die Körper in diesem Film könnte jederzeit zerbrechen. Doch wie schon über dem Film ein Hauch von schicksalshafter Ungerechtigkeit hängt, so ist es auch der Filmemacherin widerfahren. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Nähe zu Ray oder auch John Boultings Brighton Rock, die in Wahrheit nur eine Liebe zum Kino ausdrückt, und – um es zu sagen, wie es ist – weil sie eine Frau ist, konnte sie diesem ersten Funkeln in der Gangsternacht keinen weiteren Langfilm folgen lassen. Es bleibt das Rot und eine Fahrt aus der Dämmerung der Stadt zurück, die uns klar macht, dass meist irgendwo irgendwer steht und träumt. Ergeht es uns nicht so an dieser Steinhütte? Sollten wir nicht wütend Kampagnen für die Filmemacherin starten statt melancholisch zu bedauern, dass sie keinen weiteren Film machen konnte? Würde uns das zustehen?
Von der Steinhütte zum aristokratischen Anwesen in Manoel de Oliveiras Espelho Mágico. Musik: La danse macabre von Camille Saint-Saëns. De Oliveira, dem am letzten Tag eine musikalische Hommage durch Bruno Belthoise gewidmet wird (die einzige Vorführung, die pünktlich beginnen sollte), ist nicht gestorben. Er hält seine Hand über das portugiesische Kino. Bei unserer Abreise am Flughafen sehen wir die nach ihm benannte Maschine. In Lissabon passieren wir Orte, an denen er gedreht hat. Auch Ana Luísa Guimarães hat mit ihm gearbeitet, seinen Visita ou Memórias e Confissões geschnitten.
Espelho Mágico ist eine Lektion in Ambivalenz. Der Film zeigt Adel und Reichtum mit boshafter Ironie und berührender Zärtlichkeit zugleich. Erzählt wird eine katholisch pervertierte Geschichte rund um die Suche nach ewiger Jugend. Ein makaberer Tanz, ein in sich verlorenes Gelüst. Auch De Oliveira interessiert sich für die Terrasse. Doch im Gegensatz zu Goulet ist sie nicht der Kontakt mit der Natur, sondern die Abgrenzung. Beinahe erinnert der Umgang mit Terrassen an diesen Tagen an Jean-Luc Nancys Gedanken zur Haut. Der Tastsinn gehört nicht zu dem, was wir zuerst mit dem Kino in Verbindung bringen. Höchstens aufgrund der Dunkelheit und Nähe von Liebenden, deren Hände sich umschlingen und die sich im Licht der Leinwand nur erfühlen können. In Fundão jedoch hatte man – und sei es nur verzaubert vom Bann eines geliebten Kinos – das Gefühl, dass das Kino die Erde berühren kann.
Hier noch das Gespräch, das ich vor Ort mit Sílvia das Fadas und Marta Mateus führen durfte:
Ein sichtlich betrunkener Nachtwächter torkelt durch die Gassen eines heruntergekommenen Viertels in Lissabon. Mit jedem Schritt über die grob gepflasterten Treppen, meint man ihn Fallen zu sehen. Jedes Mal hält er aber die Balance, bekommt eine Mauer, ein Geländer zu greifen. Er kramt in seiner Tasche, holt einen Flachmann hervor, genehmigt sich einen weiteren Schluck, während es langsam hell wird. Dieser Nachtwächter tritt zu Beginn von Manoel de Oliveiras A Caixa auf, einem schwierig einzuordnenden Film, zwischen Schmierenkomödie, Milieustudie und griechischer Tragödie. Im weiteren Verlauf des Films spielt der Nachtwächter keine Rolle mehr, doch abgesehen davon, dass diese Anfangsszene brillante Slapstick-Einlagen zeigt, hat sie noch eine andere wichtige Funktion. Sie vermisst den Ort des Geschehens, durchwandert die engen, ansteigenden Gassen dieses Viertels, dass der Film nie verlassen wird. Die hohen, aber schmalen Häuser, der Handlauf in der Mitte des gepflasterten Wegs, die Torbögen und Durchgänge, die das Ende der Gasse darstellen und sich hin zu einem anderen Lissabon öffnen, das der Film vollkommen ausschließt.
Oliveira und die Orte
Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Film von Manoel de Oliveira mit so einer filmischen Kartographie eines bestimmten Ortes beginnt. Orte sind für Oliveira sehr wichtig, das können Häuser, Stadtviertel oder ganze Städte sein, allen voran natürlich seine Heimatstadt Porto, in der die meisten seiner Filme spielen und der er mit Porto da minha infância einen eigenen Film gewidmet hat. Aber mehr noch als das Aufspüren, das Kennenlernen und das Auswählen eines Ortes, haben Oliveiras Filme eine unbestimmte Qualität diese Orte in Szene zu setzen. Entscheidender noch, als der Umstand, dassA Caixa mit einer Vorstellung eines Ortes beginnt, ist die Art und Weise, wie Oliveira ihn vorstellt: Das leichte Schwanken der Kamera, die dem Nachtwächter folgt, das langsame Durchtasten des engen Raums der Häuserschlucht, die Menschenleere, die langsam der morgendlichen Hast weicht, der die leicht heruntergekommenen Häuserfassaden trotzen.
Die Art der Inszenierung wiederum hat mit Oliveiras Verbindung zur Architektur zu tun. Orte, Bauwerke, Architektur, Filme: Patrick hat einmal einen Vortrag zu diesem Themenkomplex in den Filmen von Oliveira am Beispiel von Visita ou Memórias e Confissões gehalten. An anderer Stelle hat er nochmal über denselben Film geschrieben. Ich möchte seine beiden Texte als Grundstock nutzen, um auf andere Stellen in Oliveiras Filmographie hinweisen, in denen Architektur eine bedeutende Rolle spielt.
Es gibt viele Meinungen darüber, wie sich das Kino zur Architektur verhält. Helmut Färber hat vor Jahren einmal ein Buch darüber geschrieben, was sie verbindet (und trennt). Peter Kubelka spricht oftmals über Architektur, dass sie eigentlich nur in der Bewegung wahrgenommen werden kann und dass deshalb ein Film, um Architektur fassbar zu machen, das Umherschweifen des Blicks nur durch eine rasche Abfolge von Einzelbildern simulieren kann. Konträr dazu funktionieren manche Filme aus dem Genre des Architekturfilms, wie etwa die Architekturstudien von Heinz Emigholz, die lange, statische Einstellungen aneinanderreihen. Andere Architekturfilme wiederum, beispielsweise jene von Lotte Schreiber oder Sasha Pirker, bemühen sich eher darum die Atmosphäre eines Bauwerks einzufangen, als seine äußere Erscheinung filmisch zu reproduzieren.
Architektur, Filme
Manoel de Oliveira macht keine Architekturfilme. Aber es fällt ins Auge, wie prominent manche Bauwerke in seinen Filmen in Szene gesetzt werden, und wie anders das bei ihm aussieht, als bei anderen Filmemachern, immer scheint er genau die richtigen Punkte eines Gebäudes und die richtige Perspektive darauf zu finden, um seinen Geist zu erschließen. Im Fall von Visita ou Memórias e Confissões funktioniert beinahe der ganze Film nach diesem Muster. Das langsame Annähern von außen, schweifende Blicke durch die Innenräume. Oliveira kannte dieses Haus sehr gut, er hatte fast vierzig Jahre darin gelebt, und er wusste, wo er die Kamera positionieren muss, um den richtigen Eindruck davon zu vermitteln.
Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira
Für den Viennale-Trailer 2014 filmte er den Brunnen Chafariz das Virtudes in Porto. In einer einzigen Einstellung zeigt er nur die beiden wasserspeienden Köpfe am Fuß des barocken Brunnens, der einige Meter hoch ist. Eine Detailaufnahme eines Bauwerks, die keiner Ergänzung bedarf.
Großartig auch die Szene am Grabmal des Schriftstellers Camilo Castelo Branco am Ende von O dia dos desespero. Mit nur wenigen Einstellungen rahmt Oliveira hier den Film über den Schriftsteller, dessen Roman Amor de Perdição er einige Jahre zuvor verfilmt hatte. Das Grabmal als Monument, das einerseits die sterblichen Überreste des Autors beherbergt, und andererseits den Film abschließt.
In der Bovary-Variation Vale Abraão spielen gleich drei Häuser eine zentrale Rolle. Romesal ist das Geburtshaus von Ema, auf dessen Terrasse die Protagonistin als 14-Jährige den vorbeifahrenden Autolenkern den Kopf verdreht und Unfälle verursacht; nach ihrer Hochzeit zieht sie nach Vale Abraão, dem Herrenhaus der Familie ihres Ehemanns; nachdem die Ehe sie langweilt und frustiert, flüchtet sie sich schließlich nach Vesúvio, dem Wohnsitz von Fernando Osorio, einem Freund der Familie und Emas halbgeheimen Liebhaber. Während der Film Romesal und Vale Abraão zumeist von innen zeigt, bekommt Vesúvio seinen ersten Auftritt in einer großzügigen Totale. Freistehend, am Ufer des Douro ist es minutenlang in einer statischen Einstellung zu sehen, während eine Stimme aus dem Off die Vorkommnisse im Inneren schildert. Ein starker erster Eindruck für einen Ort, der anders als die beiden vorangegangenen Häuser kein Ort der Ruhe, der Heimeligkeit, der Familie ist, sondern einer des Abenteuers, des Geheimen, das ausgespäht werden will.
Alle diese Momente haben kein einendes Element, anhand dessen man die Beziehung von Oliveira zur Architektur kurz und knapp charakterisieren könnte. Jedes Gebäude, so scheint es, verlangt seine eigene Inszenierungsstrategie: das bewundernswerte ist aber – Oliveira scheint immer die richtige zu finden, scheint immer den richtigen Sinnzusammenhang zu finden, in dem er die Bauwerke präsentiert. Diese Sinnzusammenhänge entstehen durch eine bunte Mischung von Motiven aus anderen Künsten für die Oliveira im Laufe der Jahre eine ausgefeilte Kombinatorik gefunden hat.
Es gibt wenige Filmemacher (Straub-Huillet zählen sicher dazu), die so präzise und souverän mit den Ideen anderer umgehen, Material aus anderen Künsten in ihre Filme einfließen lassen, und daraus einen eigenen Stil entwickeln. So wie sich ein Text über Oliveiras Verhältnis zur Architektur verfassen lässt, so könnte man auch darüber schreiben, wie er literarische Stoffe umsetzt, etwa die langen Voice-over-Passagen in Vale Abraão, O dia dos desespero, oder Amor de Perdição, einem Film, der wie wenige das Gefühl des Romanlesens evoziert und dabei trotzdem dem Filmischen total verhaftet bleibt. Oder aber man könnte über den auffälligen Einsatz von (klassischer) Musik schreiben, am prominentesten vielleicht jene von Felix Mendelssohn in O Passado e o Presente. Interessant ist auch die Beziehung von Oliveiras Filmen zum Theater, etwa die Operettenszene in Porto da minha infância, in der Oliveira selbst einen portugiesischen Operettenstar seiner Jugend verkörpert oder seine Adaption von José Regios gleichnamigem Theaterstück in Benilde ou A Virgem Mãe – Luís Miguel Cintra, der selbst in einigen von Oliveiras Filmen mitgespielt hat, hat dieses Themenfeld für Cinema Comparat/ive abgedeckt.
Der große „Borger“
Cintra spielt in A Caixa die Rolle des blinden Mannes, dem die namensgebende Büchse gehört, mit der er Almosen sammelt. Er sitzt vor einem der Häuser, die die enge Gasse säumen, die Oliveira so unnachahmlich in Szene setzt. Eine Häuserschlucht in einem Armenviertel, der er mit ebenso viel Respekt begegnet wie den majestätischen Villen im Dourotal. Die Bälle, die in diesen Herrenhäusern für die Oberen Zehntausend abgehalten werden, finden ihre Entsprechung in der surrealistischen Ballettsequenz in A Caixa, in denen die heruntergekommenen Gassen zur Theaterbühne werden. Auch hier gilt: die Architektur entfaltet sich durch die Zusammenführung mit „geborgten“ Elementen anderer Künste.
Oliveira ist der große „Borger“ der Filmgeschichte. Film als Kunst gestaltet sich bei ihm als eine (keineswegs willkürliches) Sammelsurium aus äußeren Einflüssen, die er zu einem feinen Muster verwebt. Tanz, Theater, Literatur und eben Architektur sind seine Referenzpunkte. Die mediale Vermittlung über den Film nimmt er sehr ernst, so ernst, dass sich daraus ein ganz eigener Stil entwickelt, der sehr viel mit intellektueller Überforderung zu tun hat. In Filmen, die scheinbar stringent einer Erzählung folgen, tut sich ein Meer aus Bezügen auf – und genau darin liegt die filmische Qualität Oliveiras: das Vermögen des Films andere Künste in sich aufzunehmen und zusammen mit ihnen zu wachsen.
Die diffuse Vision in Joaquim Pintos hochpersönlichen Essayfilm E Agora? Lembra-me ist die der Wahrnehmung eines Kranken. Folgt man seinem Titel, ist er nicht da, um uns zu erinnern, vielmehr erinnern wir ihn. An was? Daran, dass das Kino heilen kann oder die Kinogeschichte eine Geschichte der erkrankten Blicke ist?
In Form eines Tagebuchs erzählt der portugiesische Filmemacher und ehemalige Wegbegleiter/Tonmann von João César Monteiro, Manoel de Oliveira oder Raúl Ruiz von seinem oder einem Leben, das ihn passiert während er sich einer neuen, unsicheren Behandlung seiner gleichzeitigen Erkrankung an AIDS und Hepatitis C unterzieht. Dieses Leben besteht zum Teil aus der Krankheit, aber es besteht auch aus seinem Lebensgefährten Nuno Leonel, Beobachtungen, Lektüren, alltäglichen Erlebnissen, der Gestaltung eines Lebens und Analogien beziehungsweise Gleichgültigkeiten aus der Tierwelt. Der Film handelt auch davon wie politische Entwicklungen persönliche Hoffnungen begraben können und wie machtlos man im Angesicht dieser Entwicklungen, Bränden, Krankheiten manchmal ist. Die Bekanntschaften von Pinto lesen sich ein wenig wie eine an AIDS verlorene Kinogeschichte.Zu den prominentesten Freunden des Portugiesen zählen Serge Daney, Derek Jarman, Manfred Salzgeber oder Kurt Raab.
Der konstante Kampf, am Leben zu bleiben. Er präsentiert sich als Alltäglichkeit. Es besteht aus einer bereits verletzten Offenheit, die sich hier und unbedingt im Kino entfalten muss. Aber warum ist das der Fall? Man kann nicht wirklich von Forschungszwecken sprechen. Francisco Ferreira hat in seiner Besprechung die Frage gestellt, ob (dieser) Film heilt. Womöglich rückt die Krankheit, wenn sie zu einem Film wird, in ein abstrakteres Reich, in dem die Bildwerdung eine Linderung verspricht. Diese Krankheit ist klein genug. Sie passt in einen Film. Vielleicht gibt auch der Prozess des Drehens, die Arbeit mit der Kamera entlang der Krankheit dieser einen Sinn. Eine besondere Abwesenheit, ein unerträglicher Schmerz kann so zu einer großen Kinoszene werden. Es besteht ein riesiger Unterschied, ob jemand diese Kamera auf sich selbst richtet oder auf eine andere Person. Das bedeutet nicht, dass nicht auch die eigene Krankheit hätte ausgeschlachtet werden können von Pinto. Es erklärt nur die Relevanz von Zuneigung und Offenheit, damit dieses Kino im Angesicht der Schmerzen atmen kann. Es ist eine Entblößung, aber keine, die uns über die Figuren stellt. Vielmehr kann man diese Entblößung nur sehen, wenn man sich selbst vor dem Film entblößt. Wenn man mit dem Film die Krankheit akzeptiert, mit ihm krank wird und sich heilen lässt. Darin liegt beinahe ein spiritueller Auftrag, wenn er nicht mit einer notwendigen Form des Understatements präsentiert werden würde. Fast schüchtern scheint Pinto immer wieder zu betonen, dass er nur für sich selbst zeigen und sprechen könne.
Es ist schon erstaunlich, dass ein skandinavischer Stummfilmstar Angst davor hatte, gefilmt zu werden, weil er dachte, dass die Kamera Strahlen absondern würde, die Krankheiten auslösen würden. Er trug unter seinen Kostümen eine Rüstung. Man könnte sich dieser Angst mit E Agora? Lembra-me auch anders nähern. Womöglich kann nur das Kino die Krankheit sehen. Ein Röntgengerät. Dann hieße Kino sehen auch Krankheiten sehen. Oder andersherum mit Pinto: Krankheiten sehen, heißt Kino sehen. Es ist nicht umsonst von unter anderem Jean Cocteau betont worden, dass Film hieße, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Der Tod im Kino bring Dunkelheit in der Geschwindigkeit des Lichts. Was aber, wenn das Kino den Tod nicht mehr sehen kann? Einmal im Film heißt es, dass die Viren zu klein sind, um Farben zu haben. Was man hier also sieht, ist weniger den Tod bei der Arbeit als die Arbeit des Todes, die Spuren die er hinterlässt und jene, die er nicht hinterlassen kann.
Die Perspektive eines Kranken, liegend, verformt, panisch oder fiebrig. Verformt wohlgemerkt nicht durch die Krankheit, sondern durch die Heilung. Die Methoden der Heilung. Pier Paolo Pasolini schrieb einmal über Michelangelo Antonioni und seinen Il deserto rosso, dass der Blick der Kamera hier die Neurosen der Protagonistin wiedergeben würden. Es sei ein kranker Blick. Die sprunghafte Unfähigkeit, die Augen offen zu halten, die eingeschränkten, schrägen Blicke auf die nächsten Umgebungen, die fiebrige Intensivierung von Bildern und Tönen, ihr Ineinanderfließen. Die Traumartigkeit des Kinozustandes war auch immer eine Form der Entrücktheit. Die krankhafte Idee, die Leinwand zu berühren, kommt aus der Unwirklichkeit dieser körperlichen Präsenz. Es sind nur Bilder, es sind nur Bilder sagt man kleinen Kindern, als würde das „nur“ die Bilder stoppen. Pinto lässt seine Krankheit/Heilung zu und mischt sie in die Bilder. Er verstärkt den Effekt mit seinem eigenen Voice-Over, der immer wieder abdriftet, fast verschwindet, mit Musik und einem Ton, der manchmal wirkt, als käme er aus einer anderen Welt. Er nutzt das digitale Pendant für Doppelbelichtungen, Wiederholungen, Dekadrierungen und immer wieder den Blick auf sich selbst aus nächster Nähe, irgendwie ganz bei uns, aber nicht bei sich, entrückt eben mit Augen, die die Kamera sehen, aber nicht fixieren können. In den Worten von Pinto: „Die Notizen vergessen, die man sich aufgeschrieben hat, um nicht zu vergessen.“
Es ist ein verlockender Gedanke: Die kranken Bilder des Kinos. Wie die geschwächt geschriebenen Worte von John Keats. Unvollendete Symphonien. Hier zeigt sich recht deutlich, wie wenig die Kamera mit einer Maschine zu tun hat. Sie kann an Fieber erkranken. Es wurden zu wenig Filme gemacht, bei denen die Person, die die Kamera gehalten hat, zu schwach dafür war. E Agora? Lembra-me zeigt das sehr deutlich. Stattdessen wird die Kamera oft als Instrument der Evidenz und Überlegenheit verwendet, der Kontrolle, Überwachung und Kriegsführung. Wie schön der Gedanke, dass eine Kamera nicht schießt, sondern blutet.
So oder so ist E Agora? Lembra-me ein Liebesfilm. Nicht unbedingt inhaltlich, obwohl er Augenblicke immenser Zärtlichkeit enthält, sondern hauptsächlich, weil er gemacht wurde; weil er gemacht wurde, um zu lieben. Nuno Leonel rückt in diesen Filmen wie das erlösende Licht eines angehenden Kampfes. Der Film dokumentiert dieses Licht und gibt dem Licht schließlich selbst die Kamera in die Hand. In dieser Emanzipation eines gemeinsamen Lebens mit der Krankheit versteckt sich ein zärtlicher Widerstand. Auch in ihrem Rabo de Peixe geben Pinto und Leonel die Kamera an einige Kinder weiter. In ihrem Filmschaffen stellt sich ganz offensiv die Frage, ob überhaupt jemand die Kamera halten sollte. Die Titelfrage, danach wie es weiter geht, ist keine Frage einer Entscheidung. Vielmehr ist es eine Erinnerung, ein Passieren, ein Nicht-Geschehen, ein Über-sich-ergehen-lassen. Die Melancholie, die man darin finden kann, steckt voller Lebens- und Kinolust.
Ich habe gestern Nacht das Kapitel bei Annie Dillard und ihrem Pilgrim at Tinker Creek gelesen, in dem sie von den Blinden berichtet, die das Sehen erlernen, die nicht sehen wollen. Du hast es wahrscheinlich auch schon gelesen. Ich habe selten etwas gelesen, das besser erzählt hat, warum das Kino und die Welt so stark verbunden sind, warum das Sehen in der Welt so schwierig, rar ist. Es gibt eine Sehnsucht nach dem Erblinden. Weil es zu viel Licht gibt? Ich frage mich manchmal, ob wir ins Kino gehen um zu sehen, oder um nicht sehen zu müssen. Eigentlich ist die Antwort klar. Sie hängt mit dem zusammen, was Abbas Kiarostami mal gesagt hat, nämlich dass er Dinge besser sehen könne, wenn ein Rahmen um sie herum sei. Aber manchmal erwische ich mich in einem Zwischenstadium. Ich gehe ins Kino, um das zu sehen, was ich gar nicht sehen kann. Das, was zwischen zwei Bildern passiert und meiner Wahrnehmung entweicht. Zum Beispiel die Geburt eines Gefühls, das Verblassen einer Angst oder Lust. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Sehen nennen kann. Es ist sicher etwas, das durch mein Sehen hindurch muss. Aber es ist kein Einsehen, schon gar kein Fernsehen. Eher ist es ein Versehen, leicht entrücktes Sehen, nicht so gezielt, vielleicht mehr ein Schwamm, denn eine Taschenlampe. Ich mag es nicht so sehr, wenn Dinge in Filmen sehr stark beleuchtet werden (außer die Augen der Frauen bei Von Sternberg), das heißt: Eigentlich mag ich es schon, aber ich mag es nur für den Schatten der dann entsteht. In ihm würde ich dann suchen. Wie in der Szene am Ende von Visita, ou Memórias e confissões von Manoel de Oliveira, wenn die beiden Besucher für den Hauch eines Nichtlichts durch das Sehen huschen, als wären sie gar nie da gewesen. Vielleicht suche ich deshalb auch nach diesen Kameraschatten wie jene von Henri Alekan, Emmanuel Machuel, Agnès Godard oder William Lubtchansky. Es geht mir dabei nicht um die Imagination. Ich glaube, dass das Kino jenseits davon operiert, in seiner eigenen Realität der Phantasmagorien.
Oft wird das Kino ja auch mit der Erinnerung in Verbindung gemacht. Es gibt diese Idee, dass man Filme macht, um etwas festzuhalten. Ich mag aber immer mehr die Filmemacher, die diesem Festhalten entrinnen, die wie Marguerite Duras oder Pedro Costa Filme machen, um zu vergessen. Die das Flüchtige als eine Arbeit der Bilder verstehen. Die Arbeit mit dem Flüchtigen, das Flüchtige der Arbeit und alles, was dazwischen passiert, vor allem, ja vor allem, was dazwischen passiert. Zum Beispiel ein Blick aufs Meer bei Duras. Was ist das eigentlich? Darin spiegelt sich ja auch etwas, was mit dem Kino zusammenhängt. Eine Sehnsucht, Seensucht, wenn man so will. Ein wenig einfach diese Worthülse, aber sie sagt doch einiges. Der Ozean bei Duras ist immer zugleich Gegenwart und Vergangenheit, er trägt sich, liegt still und tobt, er ist immer da, unheimlich beruhigend und doch voller Unwegsamkeiten, kaum erforscht, unberechenbar, tödlich, wunderschön. Er ist aufregend. Vielleicht ein wenig wie das Kino. Man sieht ja hin, weil man es kennt, man ist vertraut mit bestimmten Regeln, aber in der Regel weiß man nicht, was einen erwartet. Vergisst man also zu sehen, wenn man auf das Meer blickt oder erinnert man sich daran, was Sehen eigentlich ist? Es eröffnet sich sicherlich ein Potenzial ganz ähnlich jener Lichtphantome des Kinos, ein Potenzial zwischen Stillstehen und Bewegung, zwischen Zeit und Raum.
Dillard schreibt es von der anderen Seite, es geht um räumliches Sehen und diese Wahrnehmung von schwarzen Punkten im Licht, ich würde es Schattentropfen nennen, die wie Tinte auf das Licht klecksen. Es geht darum, dass man auch flächig sehen könnte. Wie das Baby, das nach dem Mond greift, weil es den Abstand, den Raum nicht begreift. Im Kino ist es ja genau andersherum. Man begreift einen Abstand, obwohl er gar nicht da ist. Ich mochte immer Szenen, in denen Figuren die Leinwand berühren. Ich glaube, dass Stan Brakhage Filme darüber gemacht hat. Es ist erstaunlich wie wenige Filme es darüber gibt, also darüber wie wir sehen. Vielleicht das Blinzeln zwischen den Bildern in Mauvais Sang von Leos Carax? Deutlich aufdringlicher dasselbe in Le scaphandre et le papillon von Julian Schnabel? Vielleicht weil Kino eben nicht nur ein Medium des Sehens ist. Aber bei Dillard und auch im Kino scheint es mir um einen breiteren Begriff des Sehens zu gehen, jenen der Wahrnehmung.
Sie schreibt, dass Van Gogh geschrieben hat: „Still, a great deal of light falls on everything.“ Ich habe nach diesem Zitat gesucht. Es ist ein Brief an seinen Bruder und es ist eine Beschreibung dessen, was der 29jährige Maler sieht oder besser: Das, was er in seiner Erinnerung sieht:
„It looks very different here today, but beautiful in its own way, for instance, the grounds near the Rhine railway station: in the foreground, the cinder path with the poplars, which are beginning to lose their leaves; then the ditch full of duckweed, with a high bank covered with faded grass and rushes; then the grey or brown-gray soil of spaded potato fields, or plots planted with greenish purple-red cabbage, here and there the very fresh green of newly sprouted autumn weeds above which rise bean stalks with faded stems and the reddish or green or black bean pods; behind this stretch of ground, the red-rusted or black rails in yellow sand; here and there stacks of old timber – heaps of coal – discarded railway carriages; higher up to the right, a few roofs and the freight depot – to the left a far-reaching view of the damp green meadows, shut off far away at the horizon by a greyish streak, in which one can still distinguish trees, red roofs and black factory chimneys. Above it, a somewhat yellowish yet grey sky, very chilly and wintry, hanging low; there are occasional bursts of rain, and many hungry crows are flying around. Still, a great deal of light falls on everything; It shows even more when a few little figures in blue or white smocks move over the ground, so that shoulders and heads catch the light.“
Van Gogh, der Filmemacher, das hat sicher nicht nur Maurice Pialat gedacht. Annie Dillard ist auch eine Filmemacherin. Aber diese Philosophie des Sehens, diese Betonung des Sehens. Ist das nicht auch eine Betonung des Zwischen-Sehens, des Versehens? Sie schreibt: „It‘s all a matter of keeping my eyes open.“. Sie schreibt recht oft von Zufällen, von Einmaligkeiten und förmlichen Einsamkeiten, in denen sie wirklich sehen kann. Als ob nur sie in dieser einen Sekunde etwas sehen kann, was niemand sonst sehen konnte. Und andere Dinge, die ihr sehr logisch erscheinen, die sie aber noch nie gesehen hat. Sehen ist dann auch eine Art Schwindelzustand, ein anderer Zustand für sie. Ist das so? Ich würde gerne wissen, ob das Sehen, also das konzentrierte Sehen im Kino oder sonst wo, der Akt des Sehens, ob der ein besonders nüchterner oder ein besonders rauschhafter Moment ist. Oder andersherum: Wenn wir nicht wirklich sehen, ist das dann der Normalzustand? Man sagt ja, dass man mehr Dinge sieht, wenn man verliebt ist. Und man sieht sehr wenig in Panikzuständen. Das bringt mich wieder zurück zu Duras, denn bei ihr ist das Verlieben und die Panik oft identisch. Als würde man wegblicken, in dem Augenblick, in dem man am meisten spüren, sehen kann. Und hinblicken, wenn dort nur mehr ein schwarzes Loch wartet. Dieses Versehen ist also auch ein Verpassen. Man muss vielleicht den Mut haben, etwas zu verpassen, um etwas zu sehen.
Und was ist nun mit den Blinden, die wieder sehen können, aber gar nicht so recht wollen? Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht haben sie die ganze Zeit über gesehen. Konzentrierter gesehen, besser gesehen. Sie erinnern mich an jene, die nach dem Kino bedauern wieder in der echten Welt zu sein. Deshalb ist die Feststellung von Carax bezüglich der Kinoinsel so tröstend für uns im Dunkeln Sehende. Denn sie beherbergt den Gedanken, dass man dieses Sehen, das Kino-Sehen, das Versehen, das anders, genauer, gerahmter Sehen auch in die andere Welt mitbringen kann. Dass die Kinoinsel eine Wahrnehmung ist und eine Liebe und eine Sehnsucht.