Distant Fingers: Oublie-moi by Noémie Lvovsky

In Noémie Lvovsky’s film Oublie-Moi, its main character is Nathalie (Valeria Bruni Tedeschi), but the opening image is of her best friend, Christelle (Emmanuelle Devos). Connected by their clasped hands and a resulting twirl (motivating a connective pan of the camera), they dance together in Christelle’s apartment to Patti Smith’s “Distant Fingers”. These opening seconds are already enough to endear them, aided by Lvovksy and her cameraman, Jean-Marc Fabre, capturing it all in an uninterrupted take. Like Agnès Godard and Claire Denis, Farbre and Lvovsky know best when *not* to move the camera. As such, it’s the performers who astonish, not the virtuoso take that captures them.

Nathalie spends the rest of the film going to and from former and current suitors (the imperceptible line between “former” and “current” is among Nathalie’s gifts; the film’s also). The first she speaks to is a dishevelled-looking Eric (Laurent Grevill), repelled by her mere presence, both of them unfavoured by the harsh and truthful-looking fluorescents of the Paris metro. The next boy in her orbit is her off/on, live-in boyfriend, Antoine (Emmanuel Salinger), arriving at this metro location to lend a seemingly desperate Nathalie a 100 franc note (one she immediately throws on the train tracks). The third is Christelle’s own boyfriend, Fabrice, arriving to Nathalie and Christelle (again, seemingly pulled in from the ether into Nathalie’s metro space) in a drunken stupor and, at first glance, Nathalie’s equal in a skittish nervous energy – one that reunites them later in the film for a botched bed-in in his barren apartment (Rarely has a colour film rendered Paris apartments so desolate and white, excepting perhaps Bresson’s post-Mouchette output).

Nathalie’s encounter with Fabrice, building from the opening dance, strengthens a flow that courses through the rest of the film (it’s also the second musical sequence in the film, this time set to the strains of Lou Reed’s “There is No Time”). Remembering a phone number insisted upon by Fabrice, Nathalie uses a pocket of her unending, waking hours to show up at his place with a bottle of gin. They subsequently souse themselves from it, unchanging in their composure or speech. Fabrice proceeds to strip to his underwear and covers himself in a sheet on his thin, floor-bound mattress. In response, Nathalie strips completely nude and lies beside him, ridiculing his face as they stare each other down on the mattress. Every version of this scene not involving Nathalie would be a traditional sex scene, but this version is invariably less interesting than the one that we’re shown. Nathalie seems only capable in relating to others if she simultaneously attracts and repels them; they must re-iterate (and sometimes repeat verbatim) the words she spits out at them. By the time she has ventriloquised these suitors, they’ve already left her sight, abandoning – yet again – what drew them to her in the first place (i.e. that same energy that introduced us to her).

She isn’t only a repellent force, but a catalyst for change; a discriminatory one that retains, within her gravitational pull, all those willing/stupid enough to be held up by such emotional hostility. Partially externalised through flinty and reactive movements – the flick of a hand or biting of her tongue – all of which fuse Tedeschi’s freedom as a performer to that of her character. It goes without saying that her performance is remarkable; beyond that, she has a freedom few performers have had since. A good narrative film usually has both an intelligent director and an intelligent lead actor; it’s seldom the case that the director lets this intelligent actor move freely, unbounded by “marks” of tape on the floor or a dictatorial DP and/or first AC. Lvovksy is among a group of French filmmakers underrated outside of France and more well known as an actor, like Mathieu Amalric (both also got their start behind the camera with Arnaud Desplechin). Amalric, and presumably Lvovsky also, see acting as a means to financially support their directing efforts. But as with Oublie-moi’s opening, their practical understanding of performance flows through to their performers (many of whom are already close friends/collaborators of these filmmaker(s)).

We (the viewer, the filmmakers and, eventually, her surrounding characters) must admire the behavioural boundaries she pushes. Because placed within a film, these are dramaturgical boundaries also. For Lvovsky and Tedeschi – up until the film’s final frame (seemingly made frozen by Nathalie’s smile) – all formal liberties are a result of a charitable-yet-unblinking gaze, and the resulting freedoms captured from said gaze. They’re enough to – not only justify – but conduct Nathalie’s inner light.

Notiz zu Le Stade de Wimbledon von Mathieu Amalric

Kleiner Spleenfilm (wirklich klein, kein Anspruch auf Größe, man könnte sagen: aus dem Ärmel geschüttelt). Jeanne Balibar mit Liebe gefilmt in Triest (hauptsächlich) und London (kurz) auf der Suche nach Bobi Bazlen, einem der faszinierendsten Bartleby-Autoren von Enrique Vila-Matas, berühmter Verleger und Literat, Freund Joyces, Eingang Kafkas in die italienische Kultur, der nichts schrieb außer Fußnoten. Und Jeanne Balibar auf der Suche nach sich selbst. Der Versuch einen Film wie eine Fußnote zu machen.

Le Stade de Wimbledon ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Daniele Del Giudice. Es gibt allerhand literarische Begegnungen und eine spürbare Liebe für die so reiche und melancholische Bücherwelt an der heute italienischen Adriaküste. Ein gewisser Surrealismus greift um sich, ganz so, als wollten sich der Film und seine Protagonistin entkommen statt finden. Balibar bewegt sich zunehmend ziellos, verloren zwischen Zügen in einem Europa, das so unfertigt bleibt wie nie beendete Romane.

Eine Studie unvollkommener Wahrnehmung, in der jede Szene, jede Begegnung nur eine Findungsphase ausmacht, die niemals enden darf. Man begreift: alle losen Enden des Lebens sind gleichzeitig unzusammenhängende Anfänge für die, die nach uns kommen.

Viennale 2017: Barbara von Mathieu Amalric

Für alle, die sich mit Mathieu Amalrics neuestem Film auf die Suche nach der französischen Sängerin Barbara machen, sei bemerkt: Man findet weniger ihre Geschichte, weniger ihre körperliche Präsenz als die Vibrationen zwischen Erleichterung und tiefer Traurigkeit, die ihre Musik im Herzen auslösen. Es scheint, dass das heutige Kino vor allem bei Musikern einen freieren Zugang zu Biopics erlaubt. Das zeigten bereits Todd Haynes in seinem I’m Not There und Joann Sfar in seinem unterschätzen Gainsbourg (Vie héroïque). Sfar ist mit Sicherheit ein Referenzpunkt für Amalric, der diesen 2010 für eine Kurzdokumentation (Joann Sfar (dessins)) beim Zeichnen beobachtete. In mancher Hinsicht beobachtet er auch Barbara, das heißt die Darstellerin Brigitte, das heißt Jeanne Balibar beim Zeichnen. Es sind die Sketche einer Annäherung, die ein feuriges Bild ergeben, eines, in dem man tauchen kann. Dabei bleibt nach dem Film vor allem die Wirkung der Musik.

Barbara Amalric

Erzählt wird eigentlich von der Komplexität eines Lebens und den außergewöhnlichen Blüten wie dem tristen Versagen von Liebe. Liebe nicht als romantische Geschichte zwischen zwei Menschen, sondern als Einstellung zur Musik, zum Leben. Es geht um einen Film über Barbara, der in Barbara gedreht wird. Amalric spielt selbst den Filmemacher, eine Rolle, in der wir ihn nur zu gerne sehen, auch wenn er sie dieses Mal auf den verliebt Staunenden reduziert, einen Mann im Bann einer Sängerin, einer Schauspielerin. Immer wieder starrt er mit offenem Mund auf diese Frau und schließlich drängt es ihn selbst vor die Kamera. Stürmend hetzt er los: „Filmt mich! Filmt mich!“, schreit er. Als er gefragt wird, ob er einen Film über Barbara mache oder über sich selbst, entgegnet er: „Das ist dasselbe.“ Die Schauspielerin ist zugleich Brigitte, ein etwas exzentrischer Star mit vielen Assistenten als auch Balibar, die nach Ne Change Rien wieder einmal vor der Kamera an ihrer Perfomance arbeitet. Der Film gibt hier und da vor, von der Arbeit zu handeln, letztlich aber hat er dafür keine Zeit. Er zeigt vielmehr unterschiedliche Möglichkeiten einer Annäherung an Barbara, jene vor allem in Frankreich berühmte Sängerin, die mit bürgerlichen Namen Monique Andrée Serf hieß und die Geschichte von Fragilität in der französischen Populärluktur fortschrieb. Sie treibt durchs Bild wie der Wind, manchmal kurz vor dem Zusammenbruch, manchmal mit ungeheurer Kraft im hektischen oder hypnotischen Rederausch, immer exzentrisch, fordernd und mit voller Leidenschaft für ihre Musik oder im Fall von Brigitte für das Schauspiel. Amalric lädt dazu ein, sich nicht über die Hintergründe eines Lebens zu informieren, sondern in der Musik zu bleiben oder wie er selbst sagt: Im Mythos. Derart virtuos wechselt Amalric zwischen den Ebenen des Film-im-Films, der Arbeit an diesem Film-im-Film und dokumentarischen Material, das man manchmal weder weiß, wen man gerade sieht noch wer gerade singt. So taucht zum Beispiel immer wieder Barbara-Biograf Jacques Tournier im Bild auf. Seine Präsenz wird jedoch einfach in die Fiktion verwoben. Es ist ein Verkleidungsspektakel nicht nur im Kostüm, sondern vor allem auch der Kamera und des Blicks auf eine Frau. Eine Einstellung, in der Amalric vor einer Fotowand sitzt, zeigt bereits, dass dieses Vorgehen als ein überfordertes Schwimmen in einer Bilderflut zu verstehen ist. Es gibt viele Barbaras, viele Wege, sie zu sehen.

Balibar, die selbst als Sängerin arbeitet und zwei herausragende Alben („Paramour“ und „Slalom Dame“) veröffentlichte, ist schlicht und immer ergreifend eine der großen Schauspielerinnen unserer Zeit. Von Zeit zu Zeit scheint sie förmlich in Barbara oder Brigitte oder was auch immer zu verschwinden. Der Film zeigt ihre Verwandlung, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Hier gibt es keine Zeitsprünge, keine Schnitte, die à la Méliès Zaubertricks ermöglichen, sondern eine körperliche Transformationen, die einem Wunder gleicht. Nur hat man gar keine Zeit, diese zu verarbeiten und sie als solche zu sehen. Einmal beobachten wir Balibar/Brigitte wie sie Gesten von Barbara studiert. Sekunden später ist sie diese Geste. Wenn plötzlich die echte Barbara zu sehen ist, glaubt man für eine Sekunde: Das ist doch Balibar. Wie Amalric hängt ihre Karriere eng an den Filmen von Arnaud Desplechin, mehr noch waren die beiden ein Paar und insbesondere in Frankreich wurde der Film auch als dieses Wiedersehen betrachtet. Diese zusätzliche Ebene erinnert etwas an Opening Night von John Cassavetes. Man hat einen Film, einen Film-im-Film und das Leben hinter dem Film. Die Nähe zu Cassavetes, der ja ebenfalls als Schauspieler und Regisseur arbeitete, war auch schon in Amalrics Tournée sichtbar, ein Film, der an The Killing of a Chinese Bookie erinnert. Bei beiden Filmemachern. geht es immer wieder um die Versuche einer Lust am Leben, eines Überlebens für die Freude.

Barbara ist ein äußerst verspielter Film. Immer wieder bemerken wir erst am Ende einer Szene, das es sich eigentlich um eine gefilmte Szene handelt, das Décors fällt wiederholt vor unseren Augen zusammen oder entblößt sich als solches. Amalric findet auf den ersten Blick wenig Neues in diesen Überlappungen, was er jedoch findet, ist eine immense Lust daran. Barbara erinnert daran, dass das Kino lebendig sein kann. Übrigens basiert der Film auf einer Idee von Pierre Léon, der auch öfter mit Balibar arbeitete. Allgemein hat sich dort um Filmemacher wie Desplechin, Bertrand Bonello, Amalric, Léon oder Antoine Barraud eine interessante Formation etabliert. Ihr Jean-Pierre Léaud heißt Jeanne Balibar. Barbara ist ein weiterer Schritt für Amalric, der ihn trotz oder gerade wegen seines relativen Stardaseins als äußerst freien Filmemacher etabliert.

Filmfest München: Trois souvenirs de ma jeunesse von Arnaud Desplechin

Arnaud Desplechin kehrt mit Trois souvenirs de ma jeunesse nicht nur zurück zu bereits bekannten Figuren, sondern vor allem zurück zu seiner alten Lebendigkeit. Dieser Film, der eine Vorgeschichte zu Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle) erzählt und dennoch völlig eigenständig funktioniert, beinhaltet eine Energie, die man als die dynamische Melancholie einer Jugend bezeichnen kann, die ständig im Begriff ist, sich aufzulösen und die dennoch bis in die Augen und den Schmerz der Gegenwart pulsieren. Anders könnte man formulieren: Trois souvenirs de ma jeunesse ist der Proust-Film, den Olivier Assayas schon immer drehen will. Nun hat Desplechin das für ihn übernommen. Ein Film, in den man sich verlieben muss.

Im Zentrum steht die Figur des Paul Dédalus, den wir hier in unterschiedlichen Phasen seines Lebens begleiten. Vor allem eine als eine Art Agententhriller aufgemachte Episode in der Sowjetunion und die Liebesgeschichte zu Esther bekommen hier eine große Bedeutung. Paul ist jemand, der sich selbst immerzu beobachtet, der sich falsch einschätzt, in dem man eine Kraft und eine Angst zugleich spürt. Nicht nur in dieser Hinsicht kann man durchaus von Desplechins Antoine Doinel sprechen. Ein Mensch, der Geheimnisse behält und Geheimnisse nur mit dem Zuseher teilt. Im ruhigen Blick dieser Figur herrscht eine verliebte Panik und in seiner Wut eine wissende Gelassenheit. Dennoch ist er eine einsame Figur. Zwischen ihm und seiner Umgebung ist ein unsichtbares Glass, das sich wiederum hin in den Zuschauersaal erstreckt. Dieses Glass ist auch eine fehlende Fähigkeit zu lieben, zu fühlen. Paul ist ein Ausgestoßener, ein junger Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes seiner Identität beraubt wird. Die Position zum Leben und die Thrillerkomponente erinnern oft gar mehr an La sentinelle denn an Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle). Wie in La sentinelle werden politische Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer umgehend auf ihre persönliche Bedeutung überprüft. Politik bestimmt hier ein Leben, zu dem es keinen Zugang hat.

My Golden Years

Mathieu Amalric in seiner Rolle als Paul Dédalus

So oder so, Desplechin bleibt ein Soft-Spot Catcher, einer der wenigen, die es schaffen großes Kino zu machen, ohne dass sie sich in einer Krise der Repräsentation befinden. Man kommt nicht umhin, so besetzt und schwierig ein solcher Begriff ist, diesen Film als lebensnah zu bezeichnen. Wie in den besten Filmen von Desplechin bekommt man dieses Truffaut-Gefühl, diese Freiheit in der Kontrolle der kinematographischen Sprache. Als herausragendes Beispiel dient dafür die vielfältige Art und Weise, in der hier die zahlreichen Briefe vorgetragen werden. Das kennen wir auch schon von Desplechin, aber in Trois souvenirs de ma jeunesse herrscht eine Monikaesque Leichtigkeit in der Traurigkeit, wie bei Bergman und Harriet Anderson liegt die Vernichtung gerade in dieser Lockerheit der Jugend und dadurch, dass uns diese jungen Gesichter immer wieder ansehen, wenn sie ihre Briefe vortragen, können wir ihr Verlangen und ihre Zeitlichkeit in einer berührenden Direktheit erleben.

Ein Kuss in diesem Film ist die einfachste Schönheit, die man sich vorstellen könnte. Er passiert einfach und doch so unendlich kompliziert. Die Tiefe von Gefühlen läuft hier an den Figuren vorbei und erst in der Erinnerung an ihre Jugend wird die Tragweite ihrer Liebe bewusst. Darin liegt das Melodramatische, für das man aber kaum Zeit hat, weil das Leben bei Desplechin immer weiterläuft, unaufhaltsam und geheimnisvoll. Und so mag man ihm romantische Einstellungen mit dem Eiffelturm nicht nur verzeihen, nein, sie sind sogar absolut notwendig, weil sie gleichzeitig von der Erinnerung wie von der Wahrnehmung durch die Augen der Jugend sprechen, etwas aufgeladenes, das man trotzdem nicht festhalten kann, die unglaublichsten Momente huschen hier nur vorbei, dort wo andere Filmemacher in Liebesfilmen die Unendlichkeit eines Augenblicks festhalten, weil sie mehr sehen als ihre Figuren, da fliegt Desplechin schon weiter und greift somit nach der wahren Essenz dieser verlorenen Schönheiten. Zu seinem und unserem Glück ist diese Flüchtigkeit prädestiniert für das Kino und so entfalten sich bei aller proustianischen Romanhaftigkeit der Erzählung, filmische Kräfte, die weit darüber hinausreichen. Kleine Gesten, die sich wiederholen, Handlungen am Rand der Bilder, die von einer Sehnsucht erzählen oder die äußerst energetische Verquickung von Musik und Bild.

My Golden Years

Desplechin vermag das Gefühl einer ersten Liebe, zu einer lebendigen Schönheit der Verunsicherung zu machen und dadurch wirkt der Film eher wie eine Dokumentation über die Erinnerung an eine Jugend als eine Fiktionalisierung irgendwelcher Ereignisse. Desplechin haucht Leben in Persönliches und lässt sich dann ins Treiben seiner Welten sinken oder besser, er lässt sich vom Strom dieser jugendlichen Lebendigkeit mitreißen und erzeugt so erst in dieser Differenz zwischen der Erzählperspektive und der Kraft von Bildern und Musik jene Melancholie, die andere in die Bilder und Töne selbst legen. In diesem Sinn ist Trois souvenirs de ma jeunesse sicherlich verwandt mit US Go Home von Claire Denis und – der Filmemacher nannte diesen Film selbst als Einfluss – Superbad von Greg Mottola. Erwachsenwerden als Gefühl, als Bedauern, als Leichtigkeit, als Schönheit, als Grauen, als Vergangenheit.

Viennale 2014: Detached Lies: La chambre bleue von Mathieu Amalric

Mathieu Amalric The Blue Room

La chambre bleue von Mathieu Amalric ist ein surrende Hitchcock-Wind, der in seinen bewusst gesetzten Zwischentönen von einer merkwürdigen Abwesenheit inmitten seiner stilistischen Marmeladentropfen und blau/roten Farbgestaltungen erzählt. In der Romanadaption von Georges Simons gleichnamigen Buch aus den 1960er Jahren stilisiert Amalric sein Gefühl für Momente und die Welt zunächst bis zu einem gefährlichen Grad. Alles soll hier der schwitzenden und bedrohlichen Stimmung von Lügen, Sex und Gewalt untergeordnet werden. Es ist ein Film über eine manische Affäre, die in undurchschaubaren Morden enden wird. Das 1:33 Format, die schnellen und treibenden Schnitte begleitet von einer Bernard Herrmanesquen Musikkulisse (Musik: Grégoire Hetzel, auf jeden Fall einer der besten klassischen Scores des Jahres), der zarte und niemals verschleierte Einsatz von Licht und Farben und das zurückgenommene und doch sehnsuchtsvolle Schauspiel deuten auf einen derart souveränen Umgang mit dem Stil eines Genres hin, dass man sich durchaus berechtig fragen darf, ob sich hinter dem Stil noch etwas befindet.

The Blue Room mit Mathieu Amalric

Der Film ist eine Übung des Blickpunktes. Amalric verändert die Realität und unsere Wahrnehmung dieser nach der Erinnerung eines verunsicherten Erzählers, kleine Augenblicke blitzen auf und die Wahrheit und der Stil beginnen sich anzunähern. Denn das Auge-und das ist kein Wortverdreher-liegt sicher in der Wahrheit des Betrachters. La chambre bleue ist ein Film über die Angst vor sexueller Begierde, indem die Bedrohung nicht wie etwa in In the Realm of the Senses von Nagisa Ōshima von der Gleichzeitigkeit von Gewalt und Sex ausgeht sondern schlicht in der Existenz einer verbotenen Sexualität. Dies ist natürlich keine Neuerfindung des Genres, aber in nervösen Vermischungen von Fiktion, Wahrheit und Erinnerung ergibt sich ein fesselndes Bild einer unumkehrbaren Gegenwart, indem man erst nach und nach begreift, dass der Blickpunkt ein subjektiver ist und ein fehlerhafter. Es ist dies der bereits 4. Spielfilm des französischen Schauspielers und Regisseurs, der sich selbst in einer undurchschaubaren Verletzlichkeit inszeniert, die gewissermaßen seine drei großen Stärken vereint:

1. Der zerbrechliche Amalric
Im Grunde ein Kind, pflegebedürftig, schaut mit großen Augen in die Welt, wird von der Welt geschoben, unkontrolliertes Treiben, irgendwo in ihm spürt man eine Verbindung zu uns, man mag ihn.

2. Der kalte Amalric
Er lügt ohne Wimpernschlag, er richtet sich immer wieder seine teuren Hemden und schlendert elegant beobachtend durch die Welt. Dabei wirkt er schuldig und verletzend und sehr arrogant, man mag ihn.

3. Der nackte Amalric
Vor einem Fenster, nackt, irgendwie nicht nur körperlich, sondern mit seiner Desplechin-Seele, er raucht und denkt, seine Augen sind dann glasig, man mag ihn sehr.

Als Regisseur bleibt der Franzose ein Chamäleon, keiner seiner Filme gleicht dem Nächsten. Als großer Freund seines Tournée musst ich mich erst mit der Hermetik seines neuen Films anfreunden, schließlich war eine große Stärke seines vorherigen Langfilms die Offenheit, die immer bereit war den Zufall und den Moment des Schweigens in die Bilder zu lassen. Bei genauerer Betrachtung jedoch offenbaren sich auch in La chambre bleue solche Momente. Da wäre zum einen eine fantastische Szene, in der eine Richterfigur plötzlich bei der morgendlichen Vorbereitung auf eine Verhandlung oberkörperfrei und sehr entkräftet in seinem Büro steht, um sich sein Hemd anzuziehen. Später wird er während des Gesprächs kurz ans Telefon gehen und über einen anderen Fall sprechen und auch im Gericht selbst wird die Kamera immer wieder auf scheinbar leeren Momente mit alltäglichen Regungen, Abwesenheiten und Müdigkeit (sogar des Angeklagten selbst) gerichtet. Damit ist La chambre bleue ein abwesender Film, dem man ständig die absolute Aufmerksamkeit entgegenbringen muss, weil in seiner Flüchtigkeit und Ablenkung vielleicht der entscheidende Hinweis, der entscheidende Blick, die entscheidende Farbe aufleuchten wird.

Viennale 2014 La chambre bleue

Das Prinzip der Ablenkung wird auch mit der Subjektivität der Perspektive verbunden. So bekommen scheinbar banale Gegenstände wie ein rotes Handtuch am Strand oder die blauen Farben im Gericht eine große Bedeutung. Amaric schneidet in Detailaufnahmen dieser Gegenstände, die somit nur auf den ersten Blick die Narration unterbrechen. Denn eigentlich sind sie der Motor jedes Bild, jeder verunsicherten Nacherzählung und gewissermaßen ein Triebauslöser für den passiven Protagonisten. Es ist eine fragmentierte Wirklichkeit, die zum Stil des Romans und damit ganz sicher auch-und Amaric hat mehrfach darauf verwiesen-auf das Kino von Alain Resnais passt, denn hier werden Chronologien aus ihrer Nachvollziehbarkeit gehoben und es entstehen Zeitbilder. Einige Male macht Amalric gelangweiltes Kino mit Klischeeeinstellungen. Das geht los bei seinem eher uninspirierten Szenenbild mit Häusern und Zimmern ohne Leben und geht weiter über Einstellungen wie die nächtliche Kamera aus dem Auto auf die weißen Mittelstreifen zu richten oder diese übertriebene Liebe für warmes, sonniges Gegenlicht, die das diesjährige Kinojahr wie eine Krankheit verfolgt. Man merkt ein wenig zu oft, dass hinter jeder Einstellung ein größerer psychologischer Gedanke weilt und fühlt sich daher etwas arg gelenkt. Das hohe, fast gedrängte Erzähltempo wirft darüber allerdings einen Schleier.

Am Ende stellt sich nun die Frage, ob La chambre bleue eine gelungene Stilübung ist oder mehr. Die Kontrolle über das filmische und genrespezifische Handwerk von Amalric ist absolut beeindruckend und der Film zeigt mal wieder wie eindrucksvoll Film sein kann, wenn er im Bewusstsein seiner eigenen Geschichte und Möglichkeiten entsteht. Durch die subjektive Erzählweise offenbart sich jedoch zudem ein reflexives Bedauern, das in fast vorbeihuschende philosophische und psychologische Tiefen vordringt, die man nicht häufig in einem Genrefilm gesehen hat.

Tsai Ming-liang Retro: Visage

Zum Abschluss meiner Tsai Ming-liang Besprechungen, die im Rahmen der Retrospektive im Wiener Stadtkino entstanden sind, möchte ich mich mit „Visage“ auseinandersetzen, der vor 5 Jahren in Cannes uraufgeführt wurde. Das vom Louvre mitfinanzierte Projekt hat den Neorealismus, der sonst in den Arbeiten des Regisseurs anklingt endgültig in ein L’art pour L’art verwandelt, ein selbstreflexives Kreislaufen, eine Ode an das französische Kino (vor allem an eine romantische Vorstellung von François Truffaut) mit völlig absurden Szenen. Dabei wird trotzdem auch die Geschichte von Hsiao-kang weitererzählt, dessen Mutter stirbt während er einen Film mit Antoine Doinel/Jean-Pierre Léaud in Paris dreht.

Visage

Im Film sind viele Größen des französischen Kinos zu sehen. Fanny Ardant gibt die Produzentin, dabei spielt sie immer Fanny Ardant, die in jungen Jahren für den späten Truffaut spielte. Es gibt Szenen hier, die bestätigen jeden, der das französische Kino hasst. Szenen voller Selbstverliebtheit und kinofremden Klassizismus, die dann von Léaud, für alle, die das Kino lieben, gerettet werden, mit Lebendigkeit, Strangeness, Schönheit und einem guten Schuss Durchgeknalltheit. Unerreicht eine Szene, in der Léaud mit Lee Kang-sheng vor einem Monitor am Filmset sitzt und mit ihm über die großen Regisseure der Filmgeschichte spricht, indem beide Namen sagen. Ansonsten ist die Kommunikation schwer und man erinnert sich an „Domicile Conjugal“, in dem Léaud ähnliche Kommunikationsschwierigkeiten mit einer japanischen Frau hat, wegen der er seine Frau verlässt. In einer Szene treffen sich Fanny Ardant, Nathalie Baye und Jeanne Moreau an einem Tisch, weil das schon genügen muss. Mathieu Amalric schaut für einen Blowjob am Filmset vorbei, zusammen mit Lee Kang-sheng in einem Gebüsch, warum nicht? Laetitia Casta spielt so etwas wie die Hauptrolle im Film von Hsiao-kang. Sie klebt alle Fenster mit schwarzem Klebeband zu, schleppt sich mit ihrem Kostüm durch die Unterwelt, raucht in einem Framing à la Raoul Coutard. Künstlichkeit und Kunst werden hier zum Thema. Da gibt es einen Schneefall im Sonnenschein, den Traum einer transparenten Haut im Ästhezismus der Gefühle.

Visage2

Es ist ein Traumzustand, der die Motivik des Regisseurs zu einem Museumsobjekt macht. Am Ende kriecht Léaud dann auch aus einem Lüftungsschacht im Louvre. Das Set befindet sich dahinter, die Kunst ist woanders. Ansonsten laufen Hirsche an einem Filmset voller Spiegel von einem dumpfen Ton begleitet gegen die Spiegel, es wird gesungen und getanzt, man reist nach Taipeh zur Beerdigung, man sucht den entlaufenen Hirsch. Dahinter verbergen sich dieselbe Isolation, dasselbe Begehren und dieselbe Zärtlichkeit wie in allen Filmen von Tsai Ming-liang. Aus der toten Zeit gewinnt der Regisseur hier ein manchmal absurdes, manchmal transzendentales Gefühl. Als würde seine eigene Filmographie den epischen Sinn in die Bilder des klaren Nichts hauchen. Am Ende kehrt er zum Brunnen aus „What time is it there?“ zurück, dort ist der Hirsch, dort war der Vater, dort war die Liebe, dort bleibt die Einsamkeit. So könnte ein Selbstportrait nicht der eigenen Person, aber des eigenen Schaffen aussehen. Zum Abschluss der Retrospektive war dieser Film genau richtig für mich. Als Einstieg wäre er fatal.