Rückbilder
Ein Rückbild in einem Film, das ist, wenn in einem Bild plötzlich etwas offenbar oder zweifelhaft wird, was man schon vorher gesehen hat. Als würden die Bilder in einem Film aus sich hervorgehen wie die Blüten eines wiederkehrenden Echos. Man spürt, dass es etwas in diesen Bildern gibt, das sie bindet an eine Zeitlichkeit, der man selbst zunächst gar nicht gewahr war. Bis sich eben exakt in diesem Bild, diesem Rückbild etwas Unbestimmtes manifestiert, das weder mit Erinnerung noch mit Effekthascherei zu tun hat, sondern schlicht die Dunkelheit mit einem weiteren Schatten durchzieht, sodass man den Eindruck hat jemand würde einem mit einem Finger in die Augen tippen. Dabei sind Rückbilder nie narrativ, sie beleuchten eher den Rand des Bildes, eine kleine Geste, vielleicht gar eine Leere, ein Nichts und aus diesem schält sich in der Folge eine Wiederkehr. Sie ermöglichen einen Rückwurf des Betrachters. Nicht auf sich selbst oder etwas jenseits des Kinos, vielmehr eine Art Flashback, der nicht auf der Leinwand, sondern im Auge des Betrachters stattfindet. Als würde die diegetische Welt einmal ausatmen.
Ein Rückbild, das können mehrere Bilder sein (zum Beispiel bei Apichatpong Weerasethakul und seinem Cemetery of Splendour, als man in einer Montagesequenz plötzlich zu bemerken beginnt, dass man womöglich träumt), das können wiederkehrende Bilder sein (zum Beispiel bei Nicolas Roeg, der Rückbildern eine Zukunftsform geben kann, weil sie vor und nach ihrer narrativen Gegenwart existieren) und das können auch einzelne Bilder sein (etwa bei Tsai Ming-liang und seiner Einschlafszene in What Time is it There?, bei der man förmlich hypnotisiert wird, sich selbst verlässt und wieder zurückkehrt). Nun ist es sehr schwer über diese Phänomene zu schreiben, denn ihnen liegt der einfache Verdacht bei, dass sie Teil einer subjektiven Seherfahrung sind. Das mag in vielen Fällen sicherlich zutreffen, jedoch unterliegt die Positionierung dieser Bilder und auch das Halten ihrer Dauer eine sehr bewussten Entscheidung in den genannten Fällen und so stellt sich sehr wohl die Frage, ob es Kriterien gibt, in denen ein Bild zu einem Rückbild wird, Augenblicke, in denen Bilder rückwärts wirken.
Im Kontext einer Dauer der einzelnen Einstellung vermag sich ein langsames Aufklaren vollziehen. Dieses Aufklaren ist zum Beispiel in Bela Tarrs Sátántangó bezeichnenderweise eine Verunklarung, denn sie wird vorangetrieben durch einen kommenden und gehenden Nebel, der gleichermaßen unwirklich und zufällig wirkt. Aus dem Off hört man die Erzählstimme die Gedanken des jungen Mädchens wiedergeben. Darin geht es um die Verknüpfung verschiedenster Elemente des Lebens und je länger man dieses Bild mit einem Baum im Vordergrund, einer Ruine im Hintergrund und Nebelschwaden, die sich dazwischen bewegen, betrachtet, desto stärker spürt man, dass etwas im Bild davor passiert sein muss, was man womöglich gar nicht so realisiert hatte. Nicht, dass man verpasst hätte, wie sich das Mädchen tödlich vergiftet und auf den Tod wartend hinlegt, aber der Tod selbst, seine nicht darstellbare Existenz und Konsequenz wird einem erst im Rückbild bewusst. Das Musterbild eines Todes in der Kamera findet sich womöglich in Professione: reporter von Michelangelo Antonioni, in der berühmten vorletzten Einstellung des Films, als die Kamera sich durch das vergitterte Fenster nach draußen bewegt, ja schwebt und den Protagonisten aus der Präsenz verliert. Es wurde viel über diese Szene nachgedacht, manche sahen darin die Autonomie der Kamera bei Antonioni, andere eine spirituelle Darstellung der Seele, die den Körper verlässt. Womöglich handelt es sich aber nur um die zeitlich verzögerte Darstellung eines eintretenden oder bereits eingetretenen, eines in jedem Fall unumgänglichen Moments, der eben nach einem solchen Rückbild verlangt. Eben jenes legt Cristi Puiu in seinem Moartea domnului Lăzărescu in das Schwarz nach dem Film. Hier wirkt das Ende des Film rückwirkend wie der Tod der Figur. Der Mann liegt und hört auf zu atmen. Man bleibt bei ihm, dann wird das Bild schwarz. Der Tod möglicherweise. Allgemein bieten sich schwarze Frames oder längeres Aussetzen von repräsentativer Bildlichkeit an, um ein Rückbild zu ermöglichen. Entleerte Bilder, die in sich das Reichtum der Informationen ihrer eigentümlichen Präsenz bergen. Diese Bilder zeichnen sich vor allem bei längerer Einstellungsdauer oft schlicht dadurch aus, dass sie gemacht wurden und an dieser oder jener Stelle im Film platziert wurden beziehungsweise so und so lange gehalten wurden, nicht durch das, was sie zeigen. Ein Beispiel sind wiederkehrende Bilder, wiederholte Handlungen in unterschiedlichen Bildern oder unterschiedliche Bilder zu gleichen Tonspuren.
Man könnte zum Beispiel behaupten, dass manche Filme von Marguerite Duras einzige Rückbilder sind. La Femme du Gange oder Son nom de Venise dans Calcutta désert tragen in sich die Verlorenheit einer möglichen und/oder vergangenen Handlung, diese Filme existieren nur, weil sie schon vorbei sind, wenn die Kamera dort ist. Man sieht Figuren (wenn man sie sieht) und kann sich nicht sicher sein, dass sie von der Handlung wissen, die im Off dialogisch erzählt wird. Dabei filmt Duras mit Vorliebe gegen das Licht. Sie blickt auf Fenster, Kronleuchter und die Sonne hinter dem Meer und in diesem Licht ermöglicht sich ein Rückbild, das kein Bedauern zulassen will, weil es von Beginn an eine Hoffnungslosigkeit, ja eine Sinnlosigkeit etabliert und klar ist, dass das was wir hören schon vorbei ist, während das was wir sehen nur mehr das blasse Echo einer Vergänglichkeit ist, die uns so stark berührt, weil sich in ihr der Ozean dessen öffnet, was hätte sein können, was war, was nie mehr wieder kommt. Das Licht spielt nicht umsonst auch in Cemetery of Splendour eine entscheidende Rolle, der Lichtwechsel, das Surren. Ohne sich zu sehr auf freudianisches Gebiet zu begeben könnte man diese Lichter und ihre Betrachtung durchaus mit der Urszene des tanzenden Feuers und den Blicken, die man als Kind darauf wirft vergleichen. Es ist in diesen Flammen, dass Sehen etwas Pures hat und den Betrachter zugleich auf sich selbst zurückwirft. Ist das Feuer in der Gegenwart? Man kann es schwer sagen, wenn man sich nicht gerade verbrennt. Es ist vielmehr ohne Zeit. Daher ist es auch so gut, wenn sich etwas im Bild sturr bewegt, womöglich in Kreisen wie die Rolltreppen bei Apichatpong Weerasethakul oder eine Wassermühle bei Tsai Ming-liang. Bewegen, die einen davontragen, obwohl man sich in ihnen verliert.
Duras filmt etwas Abwesendes und letztlich geht es genau darum in Rückbildern. Der Unterschied zur Erinnerung ist, dass diese noch darstellbar ist, während das Rückbild von den Dingen handelt, die es nicht sind. Daher spielt auch die Montage so eine essentielle Rolle für das Rückbild, das was zwischen zwei Bildern passiert. Das Rückbild ist eher ein Bild des Vergessens als der Erinnerung.
Ein sehr einfaches Beispiel: In The Illiac Passion von Gregory J. Markopoulos sieht man in einem Bild wie Schauspieler Puder/Sternenstaub aus ihren Händen fallen lassen und pusten. In einem nächsten Bild (es muss nicht das allernächste sein) sieht man wie dieser Staub über die Köpfe anderer Menschen fällt wie eine Botschaft aus dem Himmel. Man versteht die erste Handlung durch das zweite Bild. Das ganze geht über die simple Verkettung aus Ursache und Wirkung hinaus, da die beiden Bilder offensichtlich nicht wirklich räumlich zusammenhängen. Vielmehr verändert das zweite Bild das Potenzial des ersten Bilds, setzt es in ein neues Licht. In narrativeren Filmformen geschieht eine solche verzögerte Erkenntnis oft durch Perspektivwechsel. Man sieht die gleiche Szene aus einer anderen Perspektive. Dabei entsteht dann so etwas wie ein Meta-Rückbild, dem die Suggestivkraft des einfachen Rückbilds abhanden gekommen ist. Denn wie bereits erwähnt, hängt das Rückbild auch immer an einer Unklarheit, nicht an einer Aufklärung. Es hängt daran, dass wir das, was dazwischen passiert, nicht sehen, selbst wenn es keinen Schnitt gibt. Etwa das Einschlafen von Lee Kang-sheng vor dem Fernseher in Tsai Ming-liang. Ein suspendierter Augenblick wie das Einschlafen im normalen Leben. Ein Rückbild ist so etwas wie die Darstellung der Erinnerung an den Moment des Einschlafens. Dass was wir davon wissen ist: Wir sind eingeschlafen.
Duras ist auch insofern ein gutes Beispiel, weil sich diese Echowirkung oft zwischen Bild und Ton vollzieht. Das Offenlassen einer Verzögerung zwischen dem Text und dem Bild wie etwa bei Gerhard Friedl, Chantal Akermans Je tu il elle oder Straub, Huillets Trop tôt/Trop tard bewirkt genau dieses Gefühl eines Rückbilds. Die Möglichkeit einer rückwirkenden Wirkung tut sich immer dann auf, wenn Ton und Bild beide autonom agieren, nebeneinander, unabhängig voneinander statt übereinander liegen. Ein wenig wie das Liebesspiel von Echo und Narziss, bei dem sich etwas auftut genau weil es diese Verzögerung gibt. Bilder, die zu spät kommen. Darin liegt auch ein großes Drama, eine große Melancholie. Bei Duras kommt noch hinzu, dass sie ihre Rückbilder über verschiedene Filme hinweg etabliert. Wenn Depardieu in La Femme du Gange immer wieder die Melodie aus India Song summt verändert das sämtliche Wirkungen beider Filme und ihrer Bilder. Als würde die eigene Erinnerung an den anderen Film entweichen und durch Depardieus Körper, das Auge von Duras fließen. Natürlich finden sich solche Echos zwischen Filmen ständig und überall, sie sind im besten Fall auch ein wichtiger Bestandteil kuratorischer Arbeit mit Film. Statt sich auf das zu Fokussieren, was zwei Filme gemeinsam haben, funktioniert das Kuratieren oft viel besser, wenn man sich auf die dunklen Flecke zwischen den Filmen konzentriert, das was sie trennt. Der Raum zwischen zwei Filmen ist letztlich das, was sie besonders macht in ihrer Kombination. Vor kurzem wurden beispielsweise neue Filme von James Benning im Österreichischen Filmmuseum gezeigt. Dazu gehörten die beiden Werke Spring Equinox und Fall Equinox. Beide zeigten, wie der Titel verrät, eine bestimmte Jahreszeit an einem bestimmten Tag. Für sich stehend waren es faszinierende Beobachtungen von Licht und Natur. Aber in der Kombination handelten sie auch vom Sommer, von der Jahreszeit dazwischen, der Zeit, die wir nicht gesehen haben, deren Folge wir nur noch erkennen konnten. Derart legte Benning den Fokus auf die unfilmbare Veränderung.
Was ein Rückbild ist, ist damit nur unzureichend erklärt. Vielleicht liegt das daran, dass ein Rückbild gar nicht sein kann, sondern nur sein könnte. Der Konjunktiv des Kinos, der in einer Welt des Zweifels und der Fiktionen wichtiger denn je scheint. Dabei geht es nicht um die pseudo-moderne Multiperspektivität wie etwa bei Bertrand Bonello oder Brian De Palma, sondern genau darum, dass es gar keine Perspektivität mehr gibt oder besser: Eine Unsicherheit der Perspektive. Die Wahrnehmung davon, dass man immer erst zu spät versteht.
Le Horla oder filmen, was man gar nicht sieht
Le Horla von Jean-Daniel Pollet nach einer Erzählung von Guy de Maupassant hat ein altes Verlangen in mir geweckt: Die Idee, etwas zu filmen, was man gar nicht sehen kann, was es womöglich gar nicht gibt. Wie das so ist bei Maupassant. Erstmal ist da Laurent Terzieff von allen Leuten. In ihm entwickelt sich eine Krankheit, der wir folgen können, weil er uns von seiner Wahrnehmung erzählt. Er erzählt sich auch selbst davon. Einem Tagebuch, einem ertrinkenden Audiotape. Schizophrenie, ein unheimlicher Besucher, den es vielleicht gar nicht gibt: Der Horla. Wenn er uns von seiner Krankheit erzählen würde, hätten wir seiner Wahrnehmung nicht besser folgen können. Ein Horla ist etwas, was man filmen muss.
Es gibt zwei erstaunlich falsche Aussagen über das Kino, die immer wieder getätigt werden und die nur deshalb falsch sind, weil sie gesagt werden. Eine dieser Aussagen hat damit zu tun, dass Figuren etwas tun müssen, um interessant zu sein. Handlung, Handlung, Handlung. Welch ein beengender, bescheuerter Gedanke. Kochrezepte! Béla Tarr dagegen hat einmal gesagt, dass man den Zusehern nicht das Gefühl geben sollte, das etwas passiere, das wäre nämlich gelogen (natürlich ein doppeldeutiger, politischer Verweis). Nun ist es natürlich nicht so schön, eine Aussage gegen eine Aussage zu stellen: Handlung oder nicht. Ich vermag mich nur im Auslassen einer Bewegung, im Verweigern einer Reaktion, in der Stille einer Erregung genauso zu entdecken wie in ihrem Gegenteil. Als praktischer Tipp, also das Schauspieler „natürlicher“ wirken, wenn sie etwas zu tun haben, taugt diese Idee allerdings noch weniger, denn wer sagt, dass das Kino „natürlich“ sein muss? Die andere Aussage hat mit dem Visuellen zu tun. Man müsse Dinge zeigen. Lange war ich selbst ein Verfechter dieser Theorie bis ich für mich beschlossen habe, dass man auch gar nichts zeigen kann. Vielleicht ist in Tagen der visuellen Überflutung derjenige ein herausragender Filmemacher, der einfach keinen Film macht. Was hier klingt wie eine Aussage von Fernando Pessoas Hilfsbuchhalter ist in Wahrheit nur das Ende des ersten Kapitels.
(Man denke nur an Marguerite Duras: Hat sie jemals etwas gefilmt, was da war? Hat sie jemals etwas gefilmt, was nicht da war? Kino bei ihr ist Vergegenwärtigung von Dingen, die keine Gegenwart kennen und auch keine Vergangenheit, wenn Vergangenheit etwas ist, was nicht mit der Gegenwart verwechselt werden könnte. Figuren stehen bei ihr. Sie schlendern durch Flure. Handeln sie? Manche sagen, dass sie keine kinematographischen Filme mache, als wäre nicht alleine die Differenz zwischen Schrift und Bild die Eröffnung eines kinematographischen Universums.)
Le Horla beginnt mit einem Mann und einem Mikrofon. Er spricht, aber wir sehen seinen Mund nicht. Vielmehr liest er und wir lesen mit seiner Stimme. Gedanken von ihm oder von einer Person, die wir nicht sehen? Ja, er verbessert etwas. Er geht auf und ab. Er verbessert. Kein Anfang kann ohne Verbesserung bleiben. Man überlegt noch mal. Wie fängt man an? Ich habe diesen Text mit meinem Verlangen begonnen. Verlangen über einen Film zu schreiben, ist auch eine Arbeit, die man nicht sieht. Sie verschwindet im Bedürfnis. So wie der beschwerliche Weg zu einer Geliebten. Was also könnte stehen, wenn man etwas filmt, was es nicht gibt? Was steht am Ende des Weges? Liebe, Angst, etwas dazwischen. Etwas, was man nicht ausdrücken kann. Es geht darum, dass es durch das Filmen erst entsteht, als wäre Film die Geburtsmaschine der Dazwischenheit, es geht um Greifbarmachen von Flüchtigkeit und Verflüchtigen von Greifbaren. Es geht darum, dass man nicht sicher ist (keine Belehrung, nur Emotion). Gibt es den Horla? Machen wir den Versuch und schließen die Augen im Kino. In Le Horla schläft der Protagonist ein, um am nächsten Morgen festzustellen, dass jemand von seiner Milch getrunken hat. Schließen wir die Augen im Kino. Stellen wir fest, dass sich etwas verändert? Was sehen wir mit geschlossenen Augen? Victor Kossakovsky hat einmal gesagt, dass immer etwas passieren würde, wenn man eine Kamera aufstellt. Als wäre die Kamera ein Magnet (eine berühmte Geschichte von Maupassant: Magnetismus).
Wir stellen die Kamera also in einen Raum. Was wir hören ist vielleicht nur der untergehende Tape-Recorder. Jemand drückt und die Worte wiederholen sich. Pollet, ein Verschollener des französischen Kinos (bezeichnet sich selbst als junger Bruder der Nouvelle Vague), so verschollen, dass man sich fragen könnte, ob es ihn wirklich gibt. Am Ende seines Lebens konnte sich Pollet aufgrund eines schweren Unfalls kaum mehr bewegen. Er drehte weiter Filme. Mit seinem Auge und vor seinem inneren Auge. Sein erster Kurzfilm Pourvu qu’on ait l’ivresse sorgte für großes Aufsehen in Paris. Sogar Jean-Pierre Melville meldete sich bei dem damals 21jährigen und sagte ihm etwas, das vielleicht zum Horla des Kinos passt: „Vielleicht machst du nochmal etwas, was genauso gut ist, aber du wirst nie etwas besseres machen.“ Später arbeitete Pollet unter anderem als Assistent bei Robert Bresson. Wir stellen die Kamera also in einen Raum. Ein Schnitt auf das Meer. Der Stil in Le Horla erzählt beständig vom Innenleben der Figur, er erzählt uns schon von der Krankheit bevor sie beginnt. Die Darstellung des Innenlebens hängt eng an der Darstellung dessen, was wir nicht sehen können, man könnte auch sagen: Die Darstellung von Zweifel. So fragt nicht nur Maupassant in seinen Texten immer wieder, was es denn sei, das uns steuert: Die Vernunft oder etwas, das über uns kommt, dass es vielleicht gar nicht gibt? Nicht nur aus diesem Grund ist Le Horla trotz aller stilistischen Unterschiede ein Seelenverwandter von Michelangelo Antonioni, der mindestens in seinem Il deserto rosso ebenfalls den Horla gefilmt hat. Beide Filmemacher wählen unterschiedliche Strategien für die Besessenheit, die Paranoia, die ebenso die Realität sein könnte. Beide finden sich aber am Meer, am Treiben im Meer, der Ungewissheit. Ansonsten bewegt sich die Kamera bei Antonioni wie vom Horla gesteuert. Sie zersetzt die zitternden Nerven einer Hauptfigur, die sie mehr ist als beobachtet. Dagegen fährt Le Horla das Prinzip: Kamera = Vernunft/Montage=Horla.
Zumindest könnte man auf diesen Gedanken kommen. Im Wald aber dreht sich das Spiel. In einer bemerkenswerten Bewegung umfährt die Kamera Laurent Terzieff nicht ganz. Sie bleibt hinter ihm und folgt ihm gleich einer Videospielkamera oder doch eines Schattens. Wenn wir filmen, was es nur vielleicht gibt, müssen wir den Film selbst spüren, sein Innenleben, seine Seele. In einem Licht oder Schatten verbirgt sich eine Emotion, die sich nur dadurch manifestieren kann. Dasselbe gilt für einen Schnitt, eine Bewegung der Kamera oder sämtliche Details von Bild und vor allem Ton. In diesen Mitteln – das ist natürlich keine neue Erkenntnis – steckt das, was man nur filmen kann, was es anders gar nicht gibt. Nicht in Worten. Oft fühle ich im Kino Dinge, die ich nur dort fühle. Wenn ich sie später in der Realität fühle, dann nur, weil ich es aus dem Kino kenne. (Das geht auch andersherum tatsächlich, aber diese Art des Zusehens zielt auf Identifikation und Identifikation kann es nicht geben in einem Kino, bei dem man sich nicht sicher ist, wer man ist oder ob man ist.) Hier geht es nicht um ein beschränktes Mindfuck-Kino im Stil von Fight Club. Hier geht es um die Schizophrenie des Kinos per se. Wir stellen die Kamera also in einen Raum und sehen hindurch. In Antonionis Blow-Up geht es um Dinge, die man dann sieht, die es nur vielleicht gibt. Hier sind wir bei der Evidenz des Filmischen oder der bazinesquen Ontologie der Kinematographie. Film als Beweis. So werden Bewegtbilder nach wie vor verwendet. Wir glauben, was wir sehen. Warum also etwas filmen, was es gar nicht gibt? Vielleicht weil die Evidenz des Films nicht gleich Film als Evidenz sein kann.Die Evidenz des Films (so auch ein Titel eines Buches von Jean-Luc Nancy über Kiarostamis Close-Up) liegt vielleicht genau (auch das sagt Nancy) in dieser Unsicherheit. Der Moment, in dem das Licht diese Unsicherheit küsst. Ein kurzer Augenblick und etwas kann manifest werden, was sich nur im Filmischen erkennen lässt. Damit meine ich nicht unbedingt die Zeit, die uns ermöglicht etwas zu sehen, was uns sonst entgangen wäre. Damit meine ich auch nicht die Nähe oder Distanz der Perspektive, die dasselbe vermag. Nein, ich meine damit tatsächlich, das was man gar nicht sehen kann. Photogenie oder auch: Etwas dazwischen, etwas zwischen (Nancy) dem Licht und seiner Abkunft. Konsequent lässt Pollet den Schriftzug des Titels „Le Horla“ auf einem Spiegel erscheinen. Das Kino: Ein Fenster, in dem wir uns selbst sehen können, ein Spiegel in die Welt.
Auf dem schwankenden Boot fällt der Tape-Recorder und wie durch einen Zufall, etwas, das man nicht beeinflussen kann, beginnt das Tagebuch. Ein schöner Tag, der 8. Mai. Später, als die Angst beginnt, kommen wir zurück in den Wald. Dieses Mal erzählt uns eine Stimme vom Innenleben der Figur. Fühlen wir jetzt anders als zuvor? Sind die durch die Bäume dringenden Lichtfetzen auf dem Pullover oder die Worte hier entscheidend? Vielleicht ist es auch etwas anderes, dieses Unbehagen des Kinos. Eine Verbindung zu einem selbst. So wie dieser Magnetismus bei Maupassant, also: Ich habe etwas im Kino gesehen und seitdem glaube ich, dass es mir selbst passieren wird. Klar, man denkt dabei an das Duschen nach Psycho, der Strandurlaub nach Jaws und so weiter. Das geht auch ohne Angst und mit Liebe, Sexualität und Gewalt. Aber was wäre, wenn ich im Kino etwas sehen würde, von dem ich weiß, dass es das nicht gibt und plötzlich würde es in mir sein? Auch das gibt es, wir kennen es. Das Kino ist infiziert und hochansteckend. Nicht nur wegen der Begeisterung, auch wegen der Nebenwirkungen. Aber wie kann man den Horla filmen?
In einer Szene liegt der Protagonist im Bett. Es knarzt überall, er hat Angst. Die Kamera ist über ihm wie eine Bedrohung. Es gibt einen minimalen Achsensprung und eine dieser subtilen Stummfilmgesten, die nur große Filmemacher weitertragen (Die Finger greifen an die Unterlippe, man denkt an die Abwehrhaltung der Nacht in Tabu von Murnau und Flaherty). Die Bedrohung in der Nacht wird gefilmt. Sie ist kein plötzlicher Schock, keine konkrete Gefahr, sie ist etwas, das es gar nicht gibt, ein beständiges Versinken, ein Flüstern, das Bewusstsein eines Schattenreichs. Wenn ich höre, dass das Kino mit Licht zu tun hat, vermisse ich genau diesen Schatten. Das Kino soll verunklaren statt aufzuklären, verschleiern (dieses Wort sollte für Hou hsiao-hsien reserviert bleiben) statt beleuchten.
Der Horror in Le Horla liegt im Verschwinden. Der Protagonist erwacht und sein Wasser ist verschwunden. Der Film zeigt das, was es gar nicht gibt, also durch eine Folge. Wenn dies eingetreten ist, muss es etwas gegeben haben. Jedoch gibt es eine zweite Ebene, denn das was die Folge ist, ist womöglich nur eine Wahrnehmung. Die Wahrnehmung des Verschwindens. Blickt man ins interessantere moderne Kino spielt das Verschwinden eine Hauptrolle. Wenn man sich Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul, From What is Before von Lav Diaz, Cavalo Dinheiro von Pedro Costa oder Kaili Blues von Gan Bi ansieht, dann finden sich überall Ideen zum Verschwinden und damit auch zur Zeit, die dieses Verschwinden verschuldet. Die genannten Filme wehren sich alle gegen diese Zeitlichkeit, wenden sie, drehen sie um. Es ist ein Kino zwischen Ruinen und Erinnerungen, Melancholie und Zerfall. Es ist dies der Horror, den das Kino am meisten spürt, weil dann etwas gezeigt wird, was nicht (mehr) existiert: Die Vergangenheit. Im Widerspruch zwischen dem, was wir sehen können und dem was wir erleben können, findet sich der Horla des Kinos. Es gibt auch die Idee des „kurz zuvor“ und „kurz danach“ wie bei Velazquez und seinem Porträt von Petrus. Das Kino verführt uns wie Echo Narziss. Nicht aus dem Hier, sondern aus dem Gewesen: Too Early, Too Late. Das Kino ist eine Revolution, die es nie gab. Solche post-cinephilen Godard-Gedanken hängen eng an diesem modernen Kino. Doch die Filme wehren sich dagegen und filmen das, was sie noch filmen können, wobei die Betonung auf dem „noch“ liegt. Die Dämonen in ihren Filmen kommen aus der Konfrontation des Verschwindens oder des Erinnerns. Olivier Assayas hat einmal gesagt, dass das ganze Kino von Marcel Proust inspiriert sei. Man kann zumindest feststellen, dass man das ganze Kino mit Proust denken kann. Das Verschwinden und das Erinnern schlagen sich in diesen Filmen nieder auf die Körper. Oft wird in entscheidenden Augenblicken auf Schnitte verzichtet. So können wir die Folgen sehen, wir können sie an den Körpern, Blicken, Gesten und ja, Taten sehen. Aber auch am Ausbleiben der Taten. So sehen wir, was es vielleicht nur in den Figuren gibt. Es gibt aber auch Dinge, die es nicht mal in den Figuren gibt, die einfach nicht existieren. Die muss man auch filmen können.
Die Kamera zögert in Le Horla mit dem Protagonisten in einer Parallelfahrt. Als er fragt, ob er er selbst sei, verschwindet die Figur (oder die Kamera) kurz hinter einem Baum. Wer auf der anderen Seite erscheint, wissen wir nicht. Womöglich ist dem so, weil er es selbst nicht mehr weiß. Er verschwindet. Nun hängt das Verschwinden und die Abwesenheit im Kino oft am Off-Screen. Der Off-Screen existiert, ohne dass man ihn sieht. Aber was dem Off-Screen fehlt ist Verlorenheit. Wenn man sich einen Bresson-Film ansieht, also einen Film des Meisters des Off-Screens, wird man eine Bestimmtheit merken, eine wundervolle Poesie dessen, was man nicht sieht, sodass man sich eigentlich beständig sicher ist, dass es das, was man nicht sieht, gibt. Es unterliegt nur der Auswahl des Filmemachers, es nicht zu zeigen.Verweigerung, ein Blick in eine andere Richtung, der Striptease der Möglichkeiten des Kinos, sodass eine Sinnlichkeit nicht aus sinnloser Überfüllung entsteht, sondern aus der absoluten Notwendigkeit dessen, was wir (gerade noch) sehen. Wie ein Film, den es nur noch auf einer leidenden, zerbrechlichen Kopie gibt. Wir sehen die Dinge gerade noch, dann wenn sie laut Bertrand Bonello am schönsten sind: Kurz bevor sie sterben. Dieses „gerade noch Sehen“ schiebt das Sehen und zum Teil auch das Handeln auf ein Minimum und macht es dadurch auf eine neue Art zum Zentrum des Kinos. Denn jetzt sind wir wirklich abhängig von dem, was wir noch sehen. Es ermöglicht uns auch die Schwärze, den Off-Screen, das Verschwinden, die Abwesenheit mit unseren Gedanken und Fantasien anzureichern.
Die Kamera lauert. Der Protagonist sitzt in seinem Zimmer auf einem Stuhl. Aus leichter Übersicht umkreist die Kamera ihn, aber nie ganz, die Kamera umkreist ihn immer nur im Ansatz und so wird unser Sehen erstickt. Die Kunst der angedeuteten Bewegung. Ich denke an Serene Velocity von Ernie Gehr. Dazu J. Hoberman: “Serene Velocity is a literal „Shock Corridor“ wherein Gehr creates a stunning head-on motion by systematically shifting focal lengths on a static zoom lens as it stares down the center of an empty, modernistic hallway–also plays off the contradictions generated by the frame’s heightened flatness and severe Renaissance perspective. Without ever having to move the camera, Gehr turns the fluorescent geometry of his institutional corridor into a sort of piston-powered mandala. If Giotto had made action films, they would have been these.“ Man bewegt sich und man bewegt sich nicht. Ein Raum verändert sich dadurch, Dinge entstehen, die es nicht gibt. Keine Spezialeffekte oder Einbildung, einfach nur Bewegung und das Licht. Das Kino als Zustandsbeschreibung, das sich so verhält wie es sich fühlt, wie die Figuren es fühlen. Es gibt Ekstase oder Puritanismus. Bei Dreyer gibt es beides zugleich. Wenn Grandrieux seine Figuren berühren lässt, dann berührt er sie auch. Sinnlichkeit ist keine Frage von oberflächlichen Holzhammermethoden, die beständig sagen: Schaut her wie sinnlich ich bin. Nein, Sinnlichkeit entsteht dort, wo Sinne gefilmt werden. Man denke an die berühmte Busszene in Mauvais sang von Leos Carax. Denis Lavant entdeckt in ihr Juliette Binoche. Die oberflächliche Sinnlichkeit, also Einstellungen auf den Nacken und die Gesichter funktioniert nur deshalb, weil der ganze filmische Raum in den Zustand des Verliebens fällt. Das Licht verwandelt die Situation in einen Tanz der Silhouetten, die Schnitte streichen nur mehr über das Begehren, man erahnt die Dinge für Sekunden, dann verschwinden sie, ersticken und atmen mit dem nächsten Bild, das sich nicht nur hier bei Carax wie eine Metapher für das Kino an sich zusammenfügt. Kann man Liebe sehen? Sinnlichkeit ist auch Grausamkeit.
Noch etwas in Le Horla. Ein Lauf durch den Wald begleitet von walshesquen fernen Trommeln, dann ein fließender Übergang mit der gleichen Bewegung in das Zimmer. Die kontinuierliche Bewegung über den Schnitt hinweg oder auch einfach nur: Das Fließen. Darin verbirgt sich etwas, worüber man nie spricht, wenn man über das Kino diskutiert. Die Gefühle, die man im Moment des Sehens hat, die sich aber danach nicht ausdrücken lassen. Eine Beobachtung, die in ihrer Gegenwart schon wieder verschwindet. Ein Gedanke, der uns entgleitet. Man hilft sich mit Adjektiven, die Hilflosigkeit sind. Das Stocken des Atems, der Übergang, die kurze Assoziation. In der Flüchtigkeit dieses Fließens kann man nicht festhalten, was man gefühlt hat. Vielleicht verlässt Abbas Kiarostami deshalb regelmäßig Kinos bevor der Film endet. Er hat etwas gesehen, womöglich etwas, das es gar nicht gibt. Ich stelle die Kamera also in einen Raum. Dann stelle ich sie an einen Strand. Ich filme eine Bewegung, die beide Bilder verbindet. Ich habe Schnitte bei Robert Beavers gesehen, die von Dingen handeln, die es ganz sicher nicht gibt. Etwas ist dazwischen. Ich stelle die Kamera in einen Raum und bin mir nicht sicher, dass ich in diesem Raum bin. Szene am Strand: Was in die Filme drückt ist die Welt. Sie kann nicht nicht in die Filme drücken. Es gibt sie. Aber so wie es bei Duras Text und Bild gibt, so gibt es bei jedem Film Konstruktion und Realität. Irgendwo dazwischen oder wenn sich beide küssen gibt es das, was es nicht gibt.
Die Vogelperspektive verändert die Objekte, abstrahiert sie. Die Kamera dreht sich in der Luft über einem gelben Ei in Le Horla. Man glaubt, dass sich das Ei von alleine dreht. Es bewegt sich genau wie Laurent Terzieff, dessen Augen im Film ab und an komisch zum Himmel blicken, sodass man das Weiß der Augen kurz spürt, gar nicht richtig sieht, vielleicht sogar erahnt, was sich dahinter verbirgt, der Wahnsinn, aber, um zurück zu Maupassant zu gleiten, kann man so einfach sagen, dass es Wahnsinn ist? Der Ton setzt sich immer mehr aus merkwürdigen, irritierenden und bisweilen störenden Geräuschen zusammen: Knarzen, Zirpen, Krachen. Etwas wankt. Was wir sehen und was wir hören ist nicht das Bild, ist nicht der Ton. Es ist der Horla. Ich ahne, dass das Kino jetzt in dieser Sekunde, in der ich diesen Text bei schwachen Licht in meinem dunklen Zimmer schreibe, hier ist. Es beobachtet mich, es lebt. Es geht hier nicht um die Kamera als Waffe à la Kittler, es geht um das Kino als Wahrnehmungsgefängnis. Wenn Carax sagt, dass er alles so sehen wolle wie das Kino (durch die Augen des Kinos), dann klingt das schön, ist aber grausam. Vor kurzem haben ich einen Baum gesehen. Ich war erschrocken, weil er größer war, als meine Augen ihn sich auf einer Leinwand vorstellen konnten. Es passierte zu viel in und an diesem Baum. Dort waren Dinge, die man gar nicht sehen konnte. So wie das Licht oder dieser eine Moment, der nie wiederkehren wird und der Filmemacher deshalb in Verzweiflungen stürzt. Nein, man muss schon filmen, was man gar nicht sehen kann. Wenn Laurent Terzieff von einem riesigen Schmetterling (einer fliegenden Blume) schwärmt, wendet sich sein Kopf langsam uns zu. Er blickt durch uns hindurch und spricht von einer Ekstase der Freuden. Wie in einem Spiegel in die Welt, durch ein Fenster, in dem er sich selbst sucht in dieser Ekstase, die er kaum mehr zu sein vermag.
Es folgt der Versuch den Horla zu töten. Etwas zu töten, was man nicht sehen kann. Man sperrt es ein und lässt eine Granate explodieren. Der Blick zurück von Laurent Terzieff erinnert an jenen in Kiss Me Deadly. Dort passieren ebenfalls Dinge, die es nicht gibt. Wie in jedem großen Stück Kino. Aber kann man sie bewusst filmen? Es liegt in der Andeutung, nur der kurze Lichtschweif der Zerstörung auf dem erschrockenen Gesicht, man bekommt keine Zeit – ja, das ist ganz entscheidend – zu verarbeiten oder aber man bekommt zu viel Zeit, man kann nicht verarbeiten, weil es zu viel ist oder zu wenig, zu genau, genau alles, alles, was es braucht. Das Kino muss in sich dieses Geheimnis tragen. Deshalb ist man gekommen: Der dunkle Raum, das, was man nicht kennt, nur ahnt. Wo man sich fragt wie es weitergeht. Die Hand von Laurent Terzieff wischt ganz nah an der Linse vorbei, es gibt einige Blicke in den Spiegel, es ist der gleiche Mann, es ist ein anderer Mann, der Horla zersetzt ihn, das Kino zerstückelt ihn. Was er gesehen hat, haben wir auch gesehen, obwohl wir es nicht gesehen haben. Pollet hat es geschafft, er hat gefilmt, was es nicht gibt, weil es alles, was es nicht gibt doch gibt und doch geben kann.
Ich stelle die Kamera in einen Raum und sehe das Meer. Es lügt mich an mit seinen Schreien. Ich schneide nicht mehr, ich lüge nicht mehr, die Wahrheit kommt 24 Mal in einer Sekunde, das ist öfter, als ich zählen kann.