Weder zu Land noch zu Wasser: Human Flowers of Flesh von Helena Wittmann

Eine sechsköpfige Schiffsbesatzung auf dem Mittelmeer. Sie ziehen von Hafen zu Hafen. Es ist eine Reise ohne Anfang, ohne Ziel. Die Bilder der Reise zeigen poröse Grenzen und fließende Übergänge, zwischen Land und Wasser, Traum und Wirklichkeit, Geschichten und Gerüchten.


Die Hitze der Sonne konserviert die Menschen und ihre Umgebung, alles gibt sich ihrer warmen Ruhe hin. Zeit kondensiert zu einzelnen Momenten. Es sind Einstellungen der höchsten Konzentration, fragmentarisch zusammengeführt. Wie die Schiffsbesatzung – aus allen Himmelsrichtungen angereist, in ihren eigenen Zungen sich behutsam ausdrückend – fahren sie gemeinsam aufs Meer.


Körper und Hände bei der Arbeit auf dem Schiff. Ruhig atmend sieht man einen Mann in den Schlaf gleiten, irgendwo zwischen hier und dort. Das Einschlafen, eine kleine Reise. Irgendwo zwischen den Sprachen, mit denen sie sich verständigen, zwischen den Übersetzungen, den Fragmenten der Geschichten, die sie sich vorlesen, findet die Bewegung der Reise ihren Fortgang. Es sind Bewegungen, die einen Ort verlassen, um woanders anzukommen, aber die Überfahrt hat keine Richtung. Nur die kaum merklichen Schwellen zwischen hier und dort bleiben uns. So wie die Wellen den Felsen zu Sand abtragen, so vermischen sich die Worte und Klänge der Besatzung.


Das Wiegen des Schiffes wird zu einem Spiel von Licht und Schatten, ein Hin und Her. Und doch gehen die Menschen in diesem Dazwischen, auf diesem Schiff, in einer unmöglichen Intensität ihrem Leben nach. Das Schiff scheint ein unwirklicher Ort, weder zu Land noch zu Wasser, weder geträumt noch wachend. Ida (Angeliki Papoulia), die den Weg der Schiffsbesatzung vorgibt, geht sicheren Schrittes voran, ihre entschlossene Miene aber verweilt nur für einen Moment, die Richtung bleibt immer ungewiss. Ist es eine Irrfahrt oder eine Reise? So wie Ida immer eine neue Richtung wählt, sich gleichsam durch eine Leere zu bewegen scheint, so schwebt der Film. Ein Gefühl der Verlorenheit durchzieht die Bilder. Es ist eine Verlorenheit, die unvermeidbar ist, und daher umso gewollter. Ein Schauen ins offene Meer hinaus, ein sich öffnender Blick, ein verschwommener Blick, um sich nicht fokussieren zu können. In den kleinen Momenten reisen sie und Ida schaut hinaus auf Meer.

Fluss des Glücks – Tara von Volker Sattel und Francesca Bertin

Links und rechts der SS106, nahe der apulischen Stadt Taranto liegt ein Ort, der, würde man ihn auf einer Karte suchen, wahrscheinlich nicht zu finden wäre. Unwissend, als Fremder, nimmt man im Vorbeifahren von seiner Existenz wohl kaum Notiz. Volker Sattels und Francesca Bertins Film Tara handelt von diesem Ort. Es ist der gleichnamige Fluss, der unter dem Schilf hinter Olivenbäumen entspringt und wenig später ins Mittelmeer mündet. Aber wie bei einem mäandernden Flussdelta lässt sich nur schwer sagen, wo hier etwas anfängt und wieder aufhört. Sich topografisch an diesen Ort anzunähern, kann nur scheitern, denn seine Ausdehnung geht weit darüber hinaus. Das weiß auch die Kamera. Das Bild heftet sich an jene Menschen, die den Ort beleben. Der Film schwimmt mit ihnen, taucht hinab und zieht immer größere Kreise.

Was zunächst als idyllisches Kleinod entdeckt wird, zeigt sich zunehmend fragil. In Sichtweite befindet sich das ILVA-Stahlwerk, das im Verdacht steht, die umliegende Natur zu belasten. Umwelttechniker nehmen Proben am Gewässer. Der Film lässt sich von den Menschen und ihren Erzählungen mittragen. In dieser Weise ist er dem Verlauf des Flusses nicht unähnlich. Je mehr man sich allmählich von der mythischen Quelle entfernt, umso klarer, aber auch komplexer wird die Umgebung: Einerseits ist das Stahlwerk wichtigster Arbeitgeber der Region, andererseits ergreift es an der Umwelt durch aufgeschüttete Halden immer mehr Besitz. Der Film interessiert sich weniger an der veränderten Landschaft, als an den Menschen, die mit ihr leben. So folgt die Kamera keinem klaren Ziel oder Anliegen, sondern bewegt sich mit jeder Begegnung ein Stück weiter und passt sich der Umgebung an.

Am Ende kehrt der Film wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Der Mythos des Flusses Tara, den die Menschen dort hüten, als handele es sich um eine heilige Stätte, wo offenkundig Wunder geschehen sind, hat etwas von seinem schillernden Reiz eingebüßt. Stattdessen könnte man nun glauben, das beharrlich Mythische soll hier der Veränderung der Natur entgegengestellt werden, auch wenn es letztlich vergeblich bleibt. Tara, landläufig auch »Fluss des Glücks« genannt, ist das kleine Paradies einer Handvoll Glückseliger – mehr nicht. Aber wie viele wird es wohl davon geben? Zwangsläufig kommt man in Verlegenheit, etwas von dem, was hier sichtbar wird, auch im Kino zu suchen. Immer da, wo der Film sich realistisch wähnt, verwandelt er wenig später ins Poetische: Seetang im gebrochenen Sonnenlicht. Heranwachsende, die nicht ganz wissen, wohin mit sich. Ein Esel.

Den Dingen einen Namen zu geben, wie diesem unscheinbaren Fluss, lässt vielleicht verstehen, dass die Mythen nicht nur von den Menschen ersonnen werden, sondern auch zu ihnen gehören. Manchmal wird das im Kino vergessen. Weder Moderne noch Deindustrialisierung können darüber hinwegtäuschen.