Die Kunst des Sprechens: Odette Robert von Jean Eustache

Odette Robert ist der Name von Jean Eustache Großmutter. Sein Film Odette Robert ist eine auf die halbe Zeit gekürzte Version des Filmes Numéro Zéro.  Diese verknappte Fassung wurde für das französische Fernsehen produziert und war Teil einer Reihe, der auch Chantal Ackermans Dis-moi angehört. Die Reihe hieß Grands-mères, un série proposée par Jean Frapat. Obwohl es sich um eine für das Fernsehen gekürzte Version eines längeren Filmes handelt, sind Intention und Form klar.

In Odette Robert sehen wir vorwiegend wie Odette Robert aus ihrem schwierigen, ereignisreichen und doch gewöhnlichem Leben erzählt. Der Film besteht aus einer Art Interviewsituation, wobei Eustache selbst wenig zu Wort kommt, sondern seine Großmutter erzählen lässt. Nur manchmal unterbricht er, wenn das Filmmaterial in einer der beiden Kameras ausläuft und eine Klappe geschlagen werden muss. Odettes Monolog wird dabei aus zwei Perspektiven eingefangen: Einerseits eine totale Einstellung, in der wir den Rücken von Eustache sehen und Odette uns (und ihm) gegenüber sitzt, andererseits (aus der Perspektive einer Kamera, die etwas weiter rechts steht) eine nähere Einstellung von Odettes Gesicht. In ihr ist der Filmemacher nicht zu sehen. Diese zweite Kamera zoomt manchmal ein bisschen weiter hinaus und zeigt uns Odettes Oberkörper: wie sie bei Tisch sitzt, raucht und den Whiskey trinkt, den Eustache ihr einschenkt. 

Nur die Eröffnungsszene, in der wir Odette und Boris Eustache (Jeans Sohn) auf der Straße einkaufen sehen, bricht mit diesem Muster. Ansonsten befinden wir uns durchgehend im Interview. In den meisten Filmen würde ein solches Interview wahrscheinlich nur einen geringeren Teil ausmachen. Es wäre ein Segment, dass man gern auch als “Talking Head” bezeichnet. Oder man würde das Interview regelmäßig mit Archivbildern und Aufnahmen unterbrechen, um visuell abzuwechseln. Doch Eustache interessiert sich nicht für Ablenkungen, und begreift diese Situation auch nicht als ein Talking-Head-Segment, das nur ab und zu ergänzende oder erklärende Statements gibt. Stattdessen bekommen wir hier etwas zu sehen, worum es im Kino nicht allzu oft geht: Die Kunst des Sprechens. Ein Mensch erzählt uns (eine) Geschichte. Wir können in Ruhe und ohne Unterbrechungen dabei zusehen und -hören, wie Odette sich an ihr Leben erinnert. Sie berichtet dabei vor allem von Leid und Schmerz. Sie erzählt von ihrer grausamen und demütigenden Stiefmutter, ihrem Arbeitsleben in einer Fabrik, als sie noch ein Kind war, ihrer Ehe mit einem Schürzenjäger und dem Verlust mehrerer Kinder. Mehrmals hören wir im Detail von furchtbarer Krankheit und Tod. In ihrem Gesicht erkennen wir dabei ihren Schmerz, auch wenn wir ihre Augen nicht gut sehen können durch die abgedunkelte Brille, die sie trägt.

Eustache sucht nicht nach “guten Stellen”, die er dann für seinen Filme nutzen kann. Er versucht nicht, Odette manipulierend Statements oder Emotionen zu entlocken. Es geht nicht darum, das Erzählte seinem Narrativ unterzuordnen. Stattdessen wird das Medium Film verwendet, um etwas festzuhalten, was ansonsten verschwinden könnte: eine Person, die erzählt. Die menschliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und Narrative zu bauen, wird im Kino gerne für verschiedenste Zwecke gebraucht, doch sie wird selten als zentraler Inhalt des Filmischen festgehalten. Wenn jemand erzählt, wie Odette Robert es tut, dann öffnet sich ein Raum. Eine Person wiederholt sich, verspricht sich, verliert sich. Und in diesen Prozessen erkennen wir den Menschen. Durch das Erzählen über eine längere Zeit, zeichnet sich ein Portrait, nicht nur über die Inhalte des Erzählten, sondern durch die Art, in der erzählt wird. So werden nicht nur die erzählende Person, ihre Erinnerungen, ihr Rhythmus festgehalten, sondern eine Welt von Gestern wird aufgezeichnet. Eine Welt, die wir sonst nur aus Geschichtsbüchern kennen. Eine Welt, die oftmals im Alltag ganz anders war (und näher zu unserer), als es diese Bücher erahnen lassen. 

Jean Eustache war ein Verehrer des Kinos der Brüder Lumière. Vielleicht ist in diesem Film auch die Nähe zu deren Filmen spürbar. Er glaubt an diesen Apparat namens Kamera. Er filmt, ohne ihr etwas zu unterstellen, ohne von ihr mehr zu verlangen, als Zeugnis von dem abzulegen, was sich vor ihr abgespielt hat.

Gegen Ende des Filmes sagt Odette, dass sie nun 71 Jahre alt sei und nicht mehr wirklich Interesse daran hätte, zu leben. 

Sie meint, dass sie das nicht aus einer Drastik heraus sage (ihre Devise lautet: “Ich glaube andere hatten es schlimmer.”).

Fünf oder sechs Jahre wären noch schön, um den 16 Geburtstag von Boris Eustache zu erleben, doch eigentlich sei es ihr egal. Ob Odette Robert den Geburtstag von Boris miterlebt hat oder nicht, weiß ich nicht. Neun Jahre nach der Aufzeichnung des Interviews, schnitt Eustache daraus die Version fürs Fernsehen. Im Jahr darauf beging er Selbstmord.