Wann sieht ein Filmemacher das Bild?

Hitchcock on set

Die unterschiedlichen Arbeitsschritte einer Regiearbeit ermöglichen auch – wenn man so will – verschiedene Zeitpunkte, zu denen das Bild (und selbstredend ebenso der Ton) dem Filmemacher begegnet, in dem er es sehen kann. Der erste Schritt dabei könnte das sein, was man passend und doch der Prätension vieler, die das Wort gebrauchen folgend, gerne die Vision nennt. Als ich die Ehre hatte auf der Viennale mit Pedro Costa zu sprechen, sagte er mir eindrücklich: You have to see it on the screen…was er damit meinen könnte, sind die Bilder oder Gefühle eines Films, eine Vision eben. So soll es sein und dieses oder jenes muss ich tun, um es zu bekommen. Für Filmemacher wie Costa oder etwa den frühen Philippe Garrel, die sehr reduziert und alleine arbeiten, gestaltet sich dieser Schritt von der Imagination beziehungsweise Beobachtung hin zum tatsächlichen Bild – an dem natürlich nichts (insbesondere in Zeiten der digitalen Lügen) tatsächlich tatsächlich ist – deutlich simpler als für Filmemacher, die ihre sogenannten Visionen in großen Industriekontexten herstellen. Ein erster Freund und Feind der ersten Vision ist immer der Kameramann, denn er wird mit einer eigenen Vision an die eigene Vision treten und je nach Art der Zusammenarbeit (man denke an Christopher Doyle und Wong Kar-Wai oder Agnès Godard und Erick Zonca) durchaus eine bestimmende Kraft für die Bilder sein. Selbiges gilt für die Machenschaften diverser Produzenten und Fernsehredakteure, für die Schauspieler, die Szenenbildner, das Kostüm und die Sonne selbst, die man insbesondere in Zeiten der Low-Budget Befindlichkeiten kaum mehr aus den pixeligen Bildern heraus decken kann und die den Regen der Vision schnell in einen strahlenden Kompromiss verwandelt. Nun gibt es auch Filmemacher wie zum Beispiel den grimmigen Michael Haneke, der von sich sagt, dass er nie in Bildern denkt, der Visionen nicht in Bildern hat. Andere liefern sich ganz bewusst dem Zufall aus, der Nicht-Planung wie der britische König Nicolas Roeg und der heilige König Albert Serra. Irgendwas müssen und werden auch diese Filmemacher spüren, um sich in die schwebenden Strapazen einer Bildmachung zu stürzen, aber wenn es keine Bilder sind, dann kommen diese Bilder wohl später zu ihnen. Zumindest ist davon auszugehen. Manch Filmemacher spricht von einem Bild, das ihn inspiriert habe, man denke an die Dardenne-Brüder und ihren leeren Kinderwagen, der L’enfant initiierte. Wieder andere wie Nuri Bilge Ceylan machen es sich zur Aufgabe, Bilder für die Worte zu finden, die sie gelesen haben. So hat er in Once Upon a Time in Anatolia manch poetische, visuelle Kraft aus der Feder von Tschechow gefiltert (beispielsweise jener Augenblick, der einem Ausatmen entspricht, wenn die junge Tochter den nächtlich Reisenden einen Tee bringt) und in seinem Winter Sleep war seine Vision nicht unbedingt die Übersetzung der literarischen Sprache in Film sondern die filmische Möglichkeit, literarisch zu sein. In diesem Sinn vermag auch die Inspiration eine Vision zu sein und der schmale Grat, der dann zwischen Originalität, Souveränität und Plagiat entsteht, ist eine der großen Versuchungen des Kinos, eines seiner offenen Geheimnisse, die kaum greifbar sind, denn es ist auch klar – und Gus van Sant gehört zu denen, die das bewiesen haben- dass man filmische Bilder nicht wiederherstellen kann, wenn man sie noch so penibel und präzise rekonstruiert. In zwei gleich gedachten Bildern schlagen zwei unterschiedliche Herzen. Da ist etwas Anderes und dieses Andere zu erkennen, es zu ahnen oder zu beobachten, ist das was man wirklich eine Vision nennen könnte und was vielleicht einen großen Filmemacher von anderen Filmemachern unterscheidet.

Bruno Dumont Set

Bruno Dumon am Set

Eine nächste Möglichkeit für den Filmemacher seine Bilder zu sehen, ist jene des Storyboards. Da ich selbst einmal mit einem Storyboard gearbeitet habe und ich es damals als sehr fruchtbar wahrgenommen habe im Arbeitsprozess, aber als sehr schädlich im fertigen Film bin ich inzwischen der Meinung, dass ein solches Storyboard nicht dem Filmemacher bei seiner Arbeit hilft sondern dem Produzenten beziehungsweise der Kommunikation zwischen den Departments und der Angst im Filmemacher. Denn was man auf einem Storyboard sieht, ist ein Ideal ohne Leben. Nun sind perfektionistische Filmemacher wie David Fincher oder Stanley Kubrick mit einer solchen Energie hinter der exakten Umsetzung ihrer Storyboards (und nur dann machen diese übrigens Sinn) her, dass man in ihren Filmen durchaus einen Mehrwert erkennen kann. Die Bedingung sich erlauben zu können, seine Bilder als Filmemacher in Storyboards zu machen, ist jedoch Geld. Denn nur wer Geld hat, kann die Sonne im Schritt vom Storyboard zum Filmbild heraus decken. Nichts spricht gegen die Erstellung eines Storyboards, aber vieles spricht dagegen, dass ein Filmemacher dort sein Bild sieht. Unterschiedliche Faktoren können die Relevanz eines Storyboards verändern. Es ist zum Beispiel eine absolute – aber sehr selten umgesetzte – Notwendigkeit, dass Storyboards am Drehort entstehen und nicht in einer fernen Imagination, die so tut als könne sie jedes Bild vorausdenken. Deutlich näher am Bild selbst könnten die sogenannten Moodboards sein. Vor kurzem habe ich über das Caderno von Pedro Costa geschrieben, aber die sogenannten Moods sind eigentlich eine gängige Möglichkeit Felder zwischen den Emotionen, den Bildern und der Kommunikation zu eröffnen, die alle Beteiligten von einer gemeinsamen Seele bezüglich des Films sprechen lässt. Allerdings werden sie kaum ernst genommen, denn insbesondere in heutiger Zeit haben alle Beteiligten eines Films oft ein individuelles Bild von Film (weil es einfach derart viele Filme gibt). Daher ist es so wichtig für den Filmemacher, ein Bild von Film zu haben, denn nur so können am Ende (oder Anfang) alle mit dem gleichen Bild von Film einen Film machen. Die Schritte um allen dieses Bild zu zeigen, sind die Krux und die Freude des Vorgangs. Ein Storyboard ist in diesem Sinn eine Hilfe, aber es kaschiert nur die fehlende Kontrolle und kommuniziert lediglich auf einer handwerklichen Ebene die Bilder, aber nicht auf einer gefühlsbezogenen oder filmischen Ebene. Moods sind ein deutlich organischerer Schritt. Allerdings können sie alleine stehend niemals ausreichen, da jedes Augenpaar eine andere Inspiration aus den Bildern oder Texten filtern wird. Womöglich entstehen Bilder im Gespräch oder dessen Verweigerung.

Ein weiteres Tool, das das Bild vor dem Bild zum Filmemacher bringt, ist der Viewfinder. Man denke an den energischen Roman Polanski, der seine weiblichen Darstellerinnen mit dem Viewfinder vor seinen feuchten Augen umkreist(e), sich animalisch wandelnd während der Schauspielproben die Kamerapositionen überlegt. Hier stellt sich natürlich auch die Frage, wessen Aufgabe die exakte Positionierung der Kamera ist. Denn wenn der Kameramann mit demselben Bild von Film beziehungsweise des Films am Set steht, dann wird er auch die richtigen Positionen und Objektive wählen. In diesem Fall kann ein Filmemacher über die Gefühle und Essenzen einer Szene kommunizieren (er kann natürlich auch nach wie vor selbst die Kameraarbeit erledigen oder sich dem Zufall unterschiedlicher Visionen hingeben), was vermutlich deutlich fruchtbarer für alle Beteiligten ist. Durch den Viewfinder hindurch sieht die Welt wie ein Film aus. Leos Cara X hat einmal gesagt, dass er die Welt mit den Augen des Kinos sieht. Die Wahrnehmung von Bildern im Alltag bestimmt wahrscheinlich die Blicke des eigenen Kinos. Ein Viewfinder ist sehr zielgerichtet, in diesem Sinn wirklich ein effektives Instrument. Aber das Bild muss schon vorher im Filmemacher sein sonst wird er durch den Viewfinder nur dieselben Dinge sehen wie mit seinen eigenen Augen. Wann entdeckt man beispielsweise eine Tiefenschärfe oder Schärfenverlagerung? Wann versteht man wirklich einen Raum als filmischen Raum so wie Lisandro Alonso, der monatelang durch Patagonien fährt, um Bilder zu schaffen, die aus der Logik des Raums (beziehungsweise der Leere) hervorgehen? Ein Weg im Bildhintergrund wird von ihm nicht geschaffen, sondern die Kamera kann nur dort stehen, wo dieser Weg sich bereits aufgetan hat. Vielleicht benutzt er ähnlich wie sein neuester Protagonist aus Jauja, Kapitän Dinesen einen Viewfinder oder ein Fernrohr (dessen Verwendung vermutlich nicht umsonst auch in den Filmen von Polanski eine große Rolle spielt), um den Blick zu einem filmischen Blick zu wandeln. Der Viewfinder ist ein Übersetzer, der einen kinematographischen Filter auf die Bilderrealität der Welt legt. Die Antwort auf die titelgebende Frage dieses Artikels wäre in diesem Fall, dass der Filmemacher in jeder Sekunde seines Lebens das Bild sieht und dass die Frage viel eher wäre: Welches Bild wählt der Filmemacher aus?

Polanski und Nicholson

Roman Polanski

Am Set selbst, gibt es dann gemeinhin drei Möglichkeiten das Bild zu sehen. Die erste ist die Kamera. Entweder kann man direkt durch den Sucher der Kamera blicken oder in unserem digitalen Zeitalter durch die kleinen Monitore, die sich an der Kamera befinden. Man wird dort allerdings nichts sehen außer dem On des Bildes (und damit gewissermaßen automatisch, wenn man nicht blind ist das Off). Es ist dies nur eine Kadrierungshilfe, nicht aber eine Möglichkeit ein Bild zu sehen. Dennoch ist sie absolut essentiell für jede Arbeit eines Filmemachers. Die Konzeption des Bildes am Set geschieht im Tanz mit der Kamera. Der große Feind meiner Auffassung ist dann die zweite Möglichkeit: der externe Monitor, jenes zeit- und platzstehlendes Instrument, mit dem Filmemacher über Filmsets stolpern während Kameraassistenten und Videooperator Kabel quer durch die Sets legen, damit sich alle darum versammeln können. Ein auf den ersten Blick absolut sinnvolles Mittel, um das Bild zu sehen und so auch Fehler zu vermeiden, eine Vorstellung zu bekommen und allen Departments einen Einblick zu gewährleisten. Immer professioneller werden diese Monitore an das anvisierte Endbild angeglichen…Kalibrierungen und Farbkorrekturen im Telenovela-Live-Style inklusive. Es darf niemand ein falsches Bild des Bilds haben. Was keiner bedenkt ist, dass der Monitor schon einen Schritt zu weit geht, denn er macht den Filmemacher zum Zuseher, der nicht mehr versucht zu sehen, sondern der schon wirklich sieht. Das Bild, das eigentlich noch entsteht, wird damit fixiert und nur im Bezug zum Bild selbst justiert, nicht aber im Bezug zur Realität. Außerdem gewinnen ziemlich simple Schönheitsideale der Bildmachung dadurch an Bedeutung und lassen die Möglichkeiten eines filmischen Bildes hinter dem Klischee seiner Lichtwerdung im Anbetracht eines Instinkts verschwinden. Was ich damit sagen will ist, dass die meisten Filmemacher Auge in Auge mit dem Monitor nicht mehr auf die tatsächlichen Umstände reagieren, die von einer solchen Wichtigkeit für die filmische Sprache sind, sondern nur auf ihr eigenes Ideal. Das bedeutet in den schlechteren Fällen beispielsweise eine Angst vor Entleerung (denn diese sieht auf dem Monitor immer schlimmer aus als in der Realität), eine Angst vor Dekadrierung, eine Angst vor dem Imperfekten, das so lebendig gegen unsere Wahrnehmung pochen könnte. Es gibt selbstverständlich Filmemacher, die sich gegen diese Instinkte des Sehens erwehren können oder sie schlicht nicht haben. Sie werden den Monitor vielleicht anders benutzen als ich selbst es könnte. Der mächtige Olivier Père hat Philippe Garrel an dessen Filmset besucht und dort keinen Monitor gefunden. Immer wieder hört man von Filmemachern (insbesondere dann, wenn sie aus dem Theaterbereich kommen), die sich nur auf die Schauspieler konzentrieren und erst auf die dritte, bereits vergangene Art des Bildersehens zurückgreifen, nämlich das Replay. Die Wahrheit ist natürlich, dass jede Arbeitsweise ihre Berechtigung hat. Einen Monitor halte ich dennoch für ein gefährliches Instrument. Seine Bedrohung liegt in seiner Bequemlichkeit, seiner Abgeschlossenheit. Im Augenblick des Drehens vibriert ein Raum (selbst im digitalen Zeitalter). Wenn man dann ein Bild sieht, wird man nichts sehen. Sich das Bild im Rückspiel auf dem Monitor anzusehen, ist etwas anderes. Dann liegt die Gegenwart auf der Vergangenheit (während beim Monitor während des Drehens die Vergangenheit auf der Gegenwart liegt), die das Kino so sehr bestimmt. Nur wenn man zumindest ein wenig an die performative Kraft von Film glaubt, dann kann man sich nicht davon distanzieren. Das bedeutet nicht, dass man den Zufall regieren lassen sollte, aber man sollte ihn zumindest erkennen.

Tsai Ming-liang

Tsai mag seinen Monitor

Es folgen die Sichtung der Muster und der Schnitt. Hier sehen die meisten Filmemacher das, was von ihren Bildern übrig geblieben ist oder das was ihre Bilder geworden sind oder sie sehen dort zum ersten Mal ihre Bilder und finden wie beispielsweise John Cassavetes ihre Filme im Schnitt. Im Gegensatz zum Monitor ist die Mustersichtung kein passiver Vorgang, denn sie präsentiert einen Anfang und kein anvisiertes Ende. Plötzlich beginnt ein ganz neues Bild, man kann – wenn man es für nötig erachtet- gar neu beginnen mit dem Film. Jetzt liegt das Bild nicht mehr im konkreten Bild sondern zwischen den Bildern. Es geht wieder um das Andere, das Unaussprechbare, das man erkennen oder finden kann zwischen und hinter den Bildern. Hier zeigt sich ganz eindeutig wie mysteriös das Kino ist. Ein Filmemacher kann zwei Bilder sehen. Er sieht sie genau vor sich, er zeichnet sie, er findet sie an der Location durch seinen Viewfinder, kontrolliert sie durch die Kamera, den Monitor und das Replay und er sieht die beiden Bilder genau seiner Vorstellung entsprechend in den Mustern und dann montiert er sie hintereinander und alles was zählt ist, was zwischen diesen Bildern passiert, das dritte Bild sozusagen. Kann man dieses dritte Bild sehen? Vermutlich nicht, es ist aber davon auszugehen, dass man es erahnen kann, dass man es antizipieren kann und die Arbeit an dieser Antizipation, an dieser Vorstellungskraft ist die große Suche für jeden ernsthaften Filmemacher, denn sie hat mit einer Wahrnehmung zweier Dinge zu tun: Zum einen der Welt, die die Bilder selbst speist und zum anderen des Kinos, das dieses dritte Bild erst ermöglicht.

Eines ist sicher: Auf der Premiere wird kein Filmemacher mehr seine Bilder sehen, denn zu sehr hat er sie schon konstruiert und dekonstruiert, gelebt und gelitten, zu weit weg und zu nahe ist die Erfahrung des Bildes, um wirklich sehen zu können. Jeder Filmemacher (egal was er behauptet) ist blind gegenüber seiner eigenen Arbeit und jedes Filmemachen ist eine Erblindung dessen, der die Bilder macht. Wann auch immer.