Three Men of Wisconsin: Confidential Report von Orson Welles

Aus heutiger Sicht öffnet sich beim Betrachten von Orson Welles Confidential Report (Mr.Arkadin) eine ganze Welt zwischen dem Diskurs des Films und seiner tatsächlichen Wahrwerdung auf der Leinwand. Die abstruse Produktionsgeschichte des Films überschattet in vielerlei Hinsicht das Spiel der Farben und des Lichts und deren Wirkung auf uns. Wie man sich einem solchen Film nähern soll, wenn man darüber schreibt, ist dann die Frage. Es ist klar, dass das, was wir auf der Leinwand sehen in irgendeiner Form ein Ergebnis ist. Aber es ist auch klar, dass es ein lebendiges Ergebnis ist, ein Resultat, das sich in den Augen der Zuseher, mit der Zeit und dem Ort transformieren kann, auf das man immer wieder neu reagieren muss. Nun ist es in zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Kino üblich, sich vom filmischen Text zu entfernen und einen eher medialen Bezug zu wählen, der eben ein besonderes Auge auf Produktionshintergründe und einen gesellschaftlichen, politischen Zusammenhang legt. Bei den besten Autoren geht dabei nichts verloren, denn sie verbinden beide Aspekte in geschickter Manier. In Bezug zu Orson Welles und vor allem seinem Confidential Report existiert jedoch ein derart bemühtes und herausragendes Anrennen gegen die labyrinthische Mauer der Hintergründe, dass es mir wirklich fruchtbar erscheint, mich auf das, was ich da sehen konnte im Österreichischen Filmmuseum, ganz naiv, zu stürzen. Wer an den unterschiedlichen Versionen und Verwirrungen interessiert ist, dem sei daher dieser in diesem Zusammenhang kanonische Text von Jonathan Rosenbaum ans Herz gelegt: http://www.jonathanrosenbaum.net/1992/01/the-seven-arkadins-tk/

Im Filmmuseum war die Confidential Report Euro-Releaseversion mit 97 Minuten Länge zu sehen. Nun, was wir sehen konnten an jenem Abend auf der Leinwand war ein verspielter Irrsinn in schattigen 18,5 mm Weitwinkelgängen, dutch-angle Froschperspektivenorgien und einem atemlosen Tempo, das von einer Hetzjagd quer über den Planeten erzählt, um Geheimnisse zu lüften und zu verschleiern. Im Kern entfaltet sich ein Duell zwischen dem Schmuggler Guy Van Stratten und dem Multimillionär Gregory Arkadin. Van Stratten wird Zeuge des Mordes an einem Mann, der sterbend den Namen „Arkadin“ flüstert. Zusammen mit seiner Partnerin macht sich Van Stratten auf den Weg zu diesem Arkadin. Er will ihn finden, entblößen und erpressen. Er wird sich in die Tochter des Mannes verlieben und von diesem persönlich angestellt werden, das Geheimnis seiner Existenz vor 1927 herauszufinden. Spiele mit doppeltem Boden beginnen in einer verlogenen Welt voller liebenswerter Gestalten. Die Settings, die Welles dafür errichten ließ und fand, sind außergewöhnlich und beeindruckend. Ein Gothic-Goya-Maskenball in Spanien, ein Ramschladen in Kopenhagen und der heiße Wind des Meeres in Mexiko. Auch in München tauchen Geheimnisse auf und ab und so nimmt sich der Film kurz Zeit für einen komödiantischen Auftritt von Gert Fröbe als Polizist.

 Mr. Arkadin

Wie Welles sich selbst in der Rolle des Arkadin inszeniert, ist bemerkenswert. Da wären seine nachdenklich-bitteren Trinksprüche, seine unbeweglich-übermächtigen Blicke in die Kamera (oder knapp daran vorbei, jedenfalls hat man das Gefühl, dass er uns zuzwinkert) und seine Existenz, die eben nicht nur in den Bildern selbst und im Stil des Films spürbar wird, sondern durch seine körperliche Präsenz. Nun ist es nichts Außergewöhnliches, dass Welles in seinen eigenen Filmen spielt, aber in Confidential Report bekommt man den Eindruck, dass hier nicht nur mit einer persönlichen Handschrift gearbeitet wird, sondern auch gegen diese Handschrift, in dem die Starpersona sich so vor die Seele schiebt, dass man es bemerkt und damit verhalten sich diese Ebenen analog zur Handlung des Films, Gregory Welles/Orson Arkadin, trägt Masken, was hat er getan, um dort zu sein? Aus den Ruinen eines Nachkriegseuropas entspringen die wilden Fratzen einer Parodie, das Gefühl einer durchzechten Nacht, das von den aufstoßenden Lachern meines Sitznachbarn im Kino und seinen gelegentlichen Schlucken aus der Pulle unterstütz wurde. Man fragt sich ständig, wohin man gehen könnte, wo man noch nicht war und wer vor oder hinter einem läuft. Dabei findet sich im glichen Atemzug die Mythologie einer alten Welt (Schlösser, Kunst, Teleskope, Zigarren,…) und ihre eigene Zerstörung, die schließlich das Mystische ins Mysteriöse entführt, das Unvorstellbare, das leere Flugzeug, das wie ein Traum dahinfliegt und doch betrachtet wird wie ein Skandal, die Magie als Teil einer Welt, aber haben wir diese Welt wirklich begreifen können? Was jagen wir da eigentlich? Nicht nur in dieser Hinsicht ist der Film eine Hinterfragung von Citizen Kane, da er eingebettet in die Paranoia einer Identitätskrise zu einem Wettlauf mit dem eigenen Gehirn wird.

Welles als Arkadin erhöht sich selbst, nicht nur durch die Einstellungen, sondern auch durch dieses Verschwinden seiner Figur, nur Schall und Rauch und immer noch die Bedrohung, dass er doch da ist und wir spüren ihn auch, denn selbst wenn Arkadin verschwindet, ist die Tiefenschärfe von Welles noch da. Er begreift das Kino hier als Maskenball außer Rand und Band, verschlungene Montage, Flashbacks werden von Flashbacks gejagt, ein wilder Rhythmus und was dann bleibt, ist Atmosphäre, die einen packt und in herumschleudert. Wie ein tönender Bass, der diesen Rhythmus bedingt und anhalten kann, dringt auch die Stimme von Arkadin durch die Bilder und durch das wilde Ton-Chaos, das sich wie ein hektischer Anfall aus der Vergangenheit und der Gegenwart über den Schnee, den Sand und den Duft des Films legt, nein, es legt sich nicht, es donnert darüber hinweg.

Mr. Arkadin

Die Einflüsse von Welles auf das zeitgenössische amerikanische Kino sind hinlänglich bekannt. Im Fall von Confidential Report stößt man sofort auf Parallelen zu Terry Gilliams Brazil und dem deutlich zeitgenössischeren Inherent Vice von Paul Thomas Anderson. Was diese drei Filme eint, ist dass sie nicht nur die Reise durch Labyrinthe begleiten, sondern die Erfahrung dieses Labyrinths zu einem Prinzip erheben, das weit über eine dramaturgische „Und dann?“-Logik, die sowohl für das Labyrinth, als auch das Kino entscheidend sein kann, dass den Film selbst als Labyrinth erscheinen lässt. Wo man ist und weshalb wird dann sekundär. Viel wichtiger scheint zu sein, wie man ist und man ist verwirrt, überwältigt und kratzt an den Grenzen von Erinnerungen und Zielen. (mein Sitznachbar nimmt einen Schluck aus seiner Pulle). Dieses Labyrinth ist nicht nur in der Welt, es ist im Gehirn. Hier zählt, wie es im Film heißt, nicht die Logik, sondern der „Character“.

Wenn man sich dem Film also durch seine tatsächliche Sprache nähert, kann man erkennen, dass die verwirrende Entstehungsgeschichte sich wunderbar in die tatsächliche Präsenz der Filmkopien einfügt. Natürlich muss es unterschiedliche Versionen von Confidential Report geben, natürlich müssen diese Versionen bezüglich ihrer Geschichte und des Einflusses von Welles im Nebel verharren, denn es gäbe nur einen Filmregisseur, der die Geschichte des Mannes, der der einzigen legitimen Wahrheit hinter dem Film nachspürt, verfilmen könnte: Orson Welles.

Three Men of Wisconsin: On Dangerous Ground und The Prowler

In diesen Tagen ist im Österreichischen Filmmuseum, eine umfassende Schau zu den parallel laufenden Werken von Joseph Losey, Nicholas Ray und Orson Welles zu sehen. Die Verbindungen zwischen den drei Filmemachern sind zahlreich, hervorstechend ist jedoch ihre gemeinsame Herkunft aus dem Dachsstaat Wisconsin. Zwar war ich noch nie in diesem Staat, aber die filmischen Bilder, die mich von dort etwa durch Werner Herzogs Stroszek, Craig Gillespies Lars and the Real Girl oder Michael Manns Public Enemies erreicht haben, deuteten nicht gerade auf eine kulturelle Hochburg hin, in der die Kreativität aus jedem Grashalm sprießt. In den kommenden Tagen und Wochen will ich mich also in das Werk der drei Männer aus Wisconsin stürzen, die ich bis heute völlig unterschiedlich wahrgenommen habe, um die Magie dieser Grashalme in Wisconsin, besser zu verstehen. So schwankt Welles in meiner Wahrnehmung zwischen völliger Ablehnung und manch magischem Moment, den ich nie vergessen werde, Nicholas Ray war für mich immer mystisch erhöht durch das Werk von Jean-Luc Godard oder Wim Wenders und ich habe bis heute tatsächlich Berührungsängste, weil ich dieses mystische Gefühl nicht ruinieren möchte, während Losey für mich ein Versprechen ist, das sich durch seinen famosen Mr. Klein vermittelt hat.

Die Programmierung von On Dangerous Ground von Nicholas Ray mit The Prowler von Joseph Losey könnte auch unter der Überschrift: Officers in Love laufen. Es ist dieses merkwürdige Gefühl eines Ausgeliefertseins der Frau im Angesicht des Polizisten, der sie in ihrem Heim beschützt, obwohl er sie und ihre Familie auch bedrohen könnte. Und die Sehnsucht des Polizisten, der ständig mit einem anderen Leben konfrontiert wird, der in seinem Beruf immerzu das sieht, was er selbst nicht hat, nicht wahrhaben will. Bis er es nicht mehr aushält. Ohne hier in die unnötige Praxis einer Handlungsbeschreibung verfallen zu wollen, sei also bemerkt: In beiden Fällen lernen Polizisten Frauen kennen. In On Dangerous Ground leidet die Form mit dem Protagonisten Jim (gespielt von einem sehr ernsten Robert Ryan), einem Polizisten, der seinen Glauben an die Menschheit und sich selbst schon lange begraben hat und der plötzlich mit einer Wärme konfrontiert wird, die ihn noch mehr zerreißt. Zerrissen ist auch Webb (ein faszinierender Van Heflin), aber bei ihm führt diese Zerrissenheit in eine lange Zeit ambivalente Haltung zu Liebe, Besitz und einer Identitätskrise, die ihn schließlich in fatale und brutale Handlungen führt. Es sind Filme über den Schmerz des Polizistendaseins und die gesunden oder krankhaften Wünsche, die man sich aufbaut, um seiner Welt zu entfliehen.

The Prowler

The Prowler

Nicholas Ray Robert Ryan

On Dangerous Ground

Ray treibt einen wilden Gegensatz zwischen Stadt und Land in seinen Film, als aus dem vor bitteren Tränen seufzenden Asphalt der Großstadt ein stiller Schneefall in einem Phantom Ride alles verändert. Dieses Paradies jenseits der Stadt ist allerdings von einer genauso erbarmungslosen Brutalität beseelt. Jedoch kann der „City Cop“ Jim in dieser Welt anders sehen, genau wie die Kamera, die aus ihren unübersichtlichen Winkeln kriecht, um plötzlich in feierlichen Totalen, eine Menschenjagd durch die Natur einzufangen, eine Natur, die letztlich zum Verhängnis wird genau wie die Stadt vor ihr. Das mit dem „anders sehen“ wird auch durch die Blindheit der weiblichen Hauptfigur verstärkt, Mary (Ida Lupino), die ihren Bruder vor den Blicken versteckt, die von Ray bei ihrem Auftritt lange versteckt wird, als dürften wir nicht sehen, was nicht sehen kann. Die Darstellung der Blindheit selbst ist eine mittlere Katastrophe, aber in den Augenhighlights des amerikanischen Kinos kann man nicht wirklich nicht sehen. In dieser Hilflosigkeit entdeckt Jim dann seine eigene Hilflosigkeit und die des Films, der von einem grandiosen bisweilen gar poetischen Moment in eine Ermüdung erschlafft, um wieder zu erwachen beim Aufleuchten eines Lichts, um sich wieder zu verstecken, kein Rhythmus, keine Chance auf Rhythmus, sondern eine nicht-kanalisierte Wildheit, die Ray nahe an seine großen Kinoexplosionen bringt.

Deutlich kalkulierter geht da Jims Kollege Webb in The Prowler vor, der die einsame Susan (Evelyn Keyes) in den großen Plan seines Lebens einbezieht ohne sie einzuweihen, für den die Liebe nichts anderes ist, als der Kauf eines Motels. Auch Losey geht dabei viel kalkulierter vor in seinen Szenen, die meist in Halbtotalen mit korrigierenden Schwenks dem Geschehen folgen und sich völlig den Bewegungen der Hauptfigur unterwerfen. Dort wo Ray jederzeit alles über den Haufen wirft, folgt Losey einer unbestechlichen Logik, die sich bis weit in den Film hineinzieht. Der Film wurde von Blacklist-Autor Dalton Trumbo geschrieben und dieser spielt virtuos mit Rückbezügen, in denen jedes Detail aus der ersten Hälfte des Films in der zweiten Hälfte seine Bestimmung findet. Avanciert wird da mit Motiven wie dem Geisterhaften (die Stimme von Susans Mann, Sirenen aus der Dunkelheit, eine Geisterstadt) oder den versperrten Wegen (weggesperrte Zigaretten, blockierte Straßen) gespielt. The Prowler ist ein seltener Film, indem die narrative Geschlossenheit perfekt mit dem manischen und klaustrophobischen Inhalt harmoniert. Dabei passieren die interessanten Dinge auf dem Gesicht von Van Heflin zu dem man irgendwie keine Stellung beziehen kann. In seinen Augen spiegelt sich das Verlangen einer sexuellen Unterdrückung, eines falschen Lebens und zugleich die kindliche Sehnsucht nach einer friedlichen Existenz. Die Träume einer Mittelklasse, die ins Nichts führen. Die Nüchternheit mit der Losey seine Verbrechen und seine Schwäche einfängt, vermittelt fast so etwas wie Identifikation. Und auch Losey wechselt von der Stadt in die Natur, bei ihm ist es die staubige Wüste statt des ewigen Schnees. Mit unfassbar einfallslosen Soundeffekten und verstreuten Gimmicks versucht er diese Welt spürbar zu machen, letztlich bleibt The Prowler aber vor allem ein narrativ ansprechender Film, dessen Körperlichkeit nicht wie bei Ray in der Natur liegt, sondern im Gesicht seines Protagonisten.

On Dangerous Ground2

On Dangerous Ground

In beiden Fällen ist es eine Flucht auf einen Berg, die das Ende bringt. Ein gefährlicher Untergrund als ultimatives Bild einer Einsamkeit, die beide Filme durchtränkt. Die völlige Verlorenheit, in der man sich in Rays ersten Sequenzen in der Stadt befindet, spiegelt die innere Nacht von Jim und Webb, deren Träume wohl nur im Kino eine Chance haben, obwohl sie auch dort nicht in Erfüllung gehen müssen. Nur, wenn ein Verlangen so sehr in die Flucht treibt, die Flucht vor sich selbst, die Flucht vor der Stadt, vor dem eigenen Leben und Beruf, dann ist das Kino nicht weit. Beide Filme geben der männlichen Resignation im Noir Film eine hysterische Note, in der die Anti-Helden nicht trinken, um zu vergessen, sondern rennen, um zu fühlen.

Die Tiefenschärfe in Snowpiercer

In „Snowpiercer“ machen Regisseur Bong Joon-Ho und sein Kameramann Hong Kyung-Pyo auffallend häufig Gebrauch von der Tiefenschärfe. Immer wieder verlagert er in den engen Gängen des Zuges die Schärfe, sei es zwischen Personen, zwischen einer Person und dem Raum, zwei Gruppen oder dem Innen des Zuges und dem Außen der kalten Schneewüste. Nun sind seit den Tagen von Gregg Toland und Orson Welles schon einige Jährchen vergangen und man kann sich durchaus fragen, inwiefern die filmische Sprache, die von der Möglichkeit einer inneren Montage mit neuen technischen Möglichkeiten zu Beginn der 1940er Jahre maßgeblich geprägt wurde, sich immer noch dieses Stilmittels bedient. Ich schaue mir das vor allem deshalb an einem Unterhaltungsfilm wie „Snowpiercer“ an, weil dort viele Wahrheiten über die Tiefenschärfe verborgen liegen, die sie als Notwendigkeit auslegen und nicht als künstlerische Souveränität. Dennoch findet sich in „Snowpiercer“ gerade, wenn man den Einsatz der Tiefenschärfe betrachtet ein Versäumnis des Films: Die Verwendung des Stilmittels als Ausdruck einer inneren Welt, als wahrhaftig filmische Sprache, die einen POV des Filmemachers jenseits der nach Identifikation lechzenden Klassendynamik erst ermöglichen würde. In diesem Sinn kann man die Tiefenschärfe in „Snowpiercer“ auch als Hau-Drauf-Stilmittel verstehen, dass völlig gefühlslos das poetische Potenzial dieser Technik ignoriert. Ich werde die Aspekte der Tiefenschärfe in „Snowpiercer“ anhand folgender Begriffe untersuchen:

1. Die Tiefenschärfe als Effekt

2. Die Tiefenschärfe als Kompensation für fehlenden Raum

3. Die Tiefenschärfe als Zeichen für Gegensätze

4. Die Tiefenschärfe als Entfremdung

Snowpiercer

Die Tiefenschärfe als Effekt

Snowpiercer

Von im Vordergrund fokussierten Schneeflöckchen, bis zu den betont coolen Einstellungen in Actionsequenzen kann Bong Joon-Ho seine Vorliebe für die Tiefenschärfe kaum zurückhalten. Gedreht auf 35mm scheint er dieses Mittel auch deshalb besonders zu lieben, weil es eines der wenigen Merkmale seines Films ist, das nicht nach einem Videospiel aussieht. Doch der Effekt geht darüber hinaus, ist er doch auch eine Bastion des räumlichen Sehens gegen die 3D-Dominanz im Blockbuster-Genre. Die Tiefenschärfe ermöglicht ein ganz ähnliches, wenn nicht gar überlegenes Gefühl, weil sie-wie im Fall von „Snowpiercer“-ebenfalls blicklenkend und räumlich betonend funktioniert, aber nicht 2/3 des Bildes für unwichtig erklärt. Wer braucht 3D, wenn es Tiefenschärfe gibt, mag man sich fragen. Nun zeigt die Tiefenschärfe bei Bong Joon-Ho zumeist an, dass etwas besonders scharf ist. Nur selten wird auch darauf verwiesen, dass etwas unscharf ist. Dabei liegt genau darin die Chance der Tiefenschärfe. Denn scharf sein, kann heute jeder bei sich zuhause, im Kino kann es auch den Mut zur Unschärfe geben. Zwar spielt der Film an vielen Stellen elaboriert mit den Gegensätzen von Licht und Dunkelheit, Schatten und Sonne oder Vorne und Hinten, aber trotz seiner inhaltlichen Bevorzugung der Schattenwelten gewinnt die Unschärfe nur aus ihrer Relation mit der Schärfe an Bedeutung. Damit will ich sagen, dass alles glänzen muss in einem Film der Klassenkampf zur heuchlerischen Angelegenheit eines kommerziellen Interesses macht, das nicht nur seine Individuen vergisst, sondern auch vor lauter soziologischer Weltanalyse vergisst, dass es Momente außerhalb der Schärfe geben muss, damit eine Welt zum Leben erwacht. Die filmische Welt, die mit der Schärfe den Blick einnimmt, ihn gefangen hält, ihn am Streifen über das Bild hindert, ist nichts anderes als billigeres 3D und wird immer nur in einen Zug gequetscht, der keine Wahrheit, sondern nur aufgesetzte Spannung transportiert. Das wird insbesondere dann frappierend, wenn Bong Joon-Ho es für richtig erachtet, die Blicke der oberen Schicht auf die untere Schicht mit Tiefenschärfe anzuzeigen und die Blicke der unteren Schicht auf die obere Schicht auch. Es entsteht die Frage, warum uns ein streifender Blick verneint wird, wenn der Regisseur selbst formal schon keinen dezidierten Blick hat. Es scheint mir dafür nur zwei Antworten zu geben: 1. Die Tiefenschärfe soll uns hier etwas über den Raum sagen, nicht über die Figuren und ihre soziale Gefühlswelt. 2. Bong Joon-Ho mag die Tiefenschärfe und verwendet sie gern. Für den zweiten Punkt sprechen die zahlreichen verspielten Schärfenverlagerungen, die ein wenig an beginnende Kameramänner erinnern, die zum ersten Mal diese Möglichkeit an einem Gerät entdecken.

Die Tiefenschärfe als Kompensation für fehlenden Raum

Snowpiercer

Eigentlich ist es doch ganz logisch. Wenn man sich als Filmschaffender die Frage stellt, wie man ein aufregendes visuelles Design erstellen kann, in einem Film, der fast durchgehend in einem fahrenden Zug spielt, dann wird man früher oder später mit dem Einsatz der Tiefenschärfe konfrontiert werden. Diese ermöglicht einfach ein räumliches Gefühl, eine-wie der Name sagt-Tiefe im Raum, die der drohenden Monotonie eine scheinbar unendliche Palette an möglichen Einstellungen und Blickwinkeln gegenüberstellt. Auf diese Art gelingt es „Snowpiercer“ insbesondere zu Beginn ein Gefühl für die Enge (oder besser: den Dreck), in der die Unterschicht leben muss, zu vermitteln. In einem langen Gespräch zwischen Curtis und Edgar wird zudem nicht nur auf deren Verhältnis geschlossen, sondern retrospektiv auch auf die innere Schuld, die Curtis in Verbindung mit dem jungen Mann plagt, der wie ein Schatten im Bett unter ihm liegt. Der räumliche Effekt der Tiefenschärfe deutet auch auf die Motivation der Protagonisten hin, denn deren Ziel ist das Erreichen der Spitze des Zuges ist. Diese verbirgt sich in der Tiefe des Ganges, hinter zahlreichen Türen, die sich wie in eine unbekannte Unendlichkeit erstrecken. Auf narrativer Ebene setzt Bong Joon-Ho der Unsicherheit, die durch die Tiefe und Unbekanntheit des Raumes evoziert wird, ein aufklärendes Element entgegen und verrät dadurch nicht nur seine Bilder, sondern auch einen essentiellen Spannungspunkt seines Film. Die Figur Yona ist nämlich in der Lage, durch Türen hindurch zu sehen. Damit werden die vom Set-Design wunderbar installierten Möglichkeiten zur Unsichtbarkeit, zur Unschärfe weiter eliminiert. Es beginnt ein merkwürdiges Wechselspiel zwischen Transparenz und Ungewissheit und man mag mir Recht geben, wenn ich sage, dass man sich ob der Spannung und auch ob der Frage nach dem Blick des Autors wünschen würde, dass ein wenig mehr Ungewissheit herrschen würde. Aus ähnlichen Gründen der räumlichen Eingeschränktheit hat dies in letzter Zeit beispielsweise „Locke“ von Steven Knight deutlich besser gemacht (auch wenn er zu oft schneidet). Es scheint doch so: Die Transparenz im Zug geht von vorne nach hinten und die Unschärfe von hinten nach vorne. (Transparenz im Film, das sind zum Beispiel die Telefone, die Kontrolle über Licht, die Fenster, die Größe der Räume, die Helligkeit etc) Der Film folgt Protagonisten von hinten nach vorne. Er tut dies mit einem offensichtlichen Blick aus Sicht der Protagonisten, den er aber nicht formal, nur narrativ bedient. Und deshalb herrscht eine Klarheit gegenüber dem Raum, wo eigentlich Unsicherheit ist. Man merkt, ich ende immer am selben Punkt. Noch aber bin ich nicht bei jenem Aspekt angelangt, den ich als das größte Versäumnis von „Snowpiercer“ im Verhältnis zur Tiefenschärfe ansehe.

Die Tiefenschärfe als Zeichen für Gegensätze

Snowpiercer

This Way

Snowpiercer

Or That Way

Pier Paolo Pasolini hat zu seinem „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ geschrieben, dass die Bedeutung in der Form liege. Er hat sich in seinem Leben viele Gedanken zum poetischen Potenzial der filmischen Sprache gemacht und zudem hat er als polemischer Marxist immer wieder aus der Sicht Unterdrückter Filme gemacht. Doch man kann mit großer Sicherheit sagen, dass er niemals die Regierenden und die Unterdrückten mit einer Orgie aus Schärfe und Unschärfe gegenübergestellt hätte, die mit dem Holzhammer in „Snowpiercer“ deren Relation anzeigt. Am auffälligsten ist die Verwendung der Tiefenschärfe als Indikator für Klassengegensätze, wenn Mason vor die Unterdrückten tritt und ihnen erklärt, dass sie an ihrem angestammten Platz leben. Bei Pasolini dagegen zeigt die Form immer ein inneres Leben an. Deshalb wirkt alles klinisch und symmetrisch in „Salò“, deshalb wird die Tiefenschärfe in „Edipo Re“ immer extremer. Dabei geht es Pasolini weniger um eine Identifikation, sondern um die Möglichkeit der Neutralität in der subjektiven Darstellung. Er verglich sein Vorgehen mit jenem einer indirekten Rede in der Literatur. Man sieht es etwas, in der Art, in der es die Figur und/oder der Autor sehen (bestenfalls teilen Protagonist und Autor ihre Sicht auf die Welt) und folgt dem ganzen distanziert. Was Bong Joon-Ho macht, erinnert dagegen mehr an agitatorische Identifikationsrhetorik aus dem frühen sowjetischen Film. Das ist für sich genommen gerechtfertigt, allerdings wechselt er (ich komme wieder zu meinem Punkt) dabei ständig die Perspektive, als wolle er anzeigen: Eine Vereinigung ist nicht möglich, weil alle auf unterschiedlichen Planeten leben. (der Planet der Schärfe und der Planet der Unschärfe) Er verpasst es mit seiner Tiefenschärfe von der Wechselwirkung zwischen Oben und Unten zu erzählen. Trotz Schärfenverlagerungen wird mit ihr nur die Starrheit eines Systems angezeigt, denn die Menschen stehen hier für eine größere politische Idee und diese Parabelhaftigkeit wird mit dem ständigen Spiel zwischen Scharf/Unscharf und der räumlichen Gegenüberstellung bis zur Schmerzgrenze betont. Diese formelle Kleinigkeit wirkt auf schmerzliche Weise konträr zur eigentlichen Haltung des Films, der Veränderung und Aufbruch propagiert und ein humanistisches Weltbild fordert. So sehen wir in der Tiefenschärfe weder die Sicht der Unterdrückten, noch jene deutlich klinischere der Unterdrücker. In der Form liegt immer auch ein politisches Potenzial, womöglich sogar das einzige politische Potenzial. Nun mag man mir vorhalten, dass ich viel zu viel hineinlege in einen Actionfilm. Aber gerade dieses Genre eignet sich hervorragend, um politische Haltungen subtil zu vermitteln, wie die amerikanische Filmgeschichte vom Anti-Nazi bis zum Anti-Russland Kino immer wieder gezeigt hat. „Snowpiercer“ ist-ganz ein Produkt seiner Zeit-übermäßig um politische Korrektheit bemüht (man achte auf die Ausgeglichenheit von Geschlecht und ethnischer Herkunft) und stets werden die Ungerechtigkeiten von Oben nach Unten thematisiert. Nun hatte Bong Joon-Ho die Möglichkeit diese Haltung mit einer klar positionierenden Form zu unterstützen oder er hatte die Möglichkeit sie gewissermaßen zu entfremden, sie zur freien indirekten Rede zu machen. Aber der überschätzte koreanische Regisseur vermag lediglich mit seiner Form zu sagen: Da sind Gegensätze! Er findet keine Möglichkeit uns filmisch zu vermitteln welcher Art diese Gegensätze sind, welche Position er dazu hat und ob diese Gegensätze stabil oder fragil sind. Am Ende des Tages ist die Schärfenverlagerung von einer Waffe auf ein zitterndes Gesicht, dann nicht der Schlag in den Magen, der es sein sollte, sondern lediglich ein Ausdruck technischer Fähigkeiten zur Herstellung konventioneller Bildsprachen. Es wäre aufregend gewesen, wenn die Unterdrückten immer nur als unscharfer Schatten fungieren würden in diesen Szenen genauso wie es spannend gewesen wäre, die Unterdrücker als unscharfe Bedrohung, als Untouchable am anderen Ende des Zuges zu inszenieren. Dadurch wäre auch eine Haltung des Filmemachers erwachsen.

Die Tiefenschärfe als Entfremdung

Snowpiercer6

„Snowpiercer“ verzichtet fast gänzlich darauf zu vermitteln wie es sich anfühlt 17 Jahre unter solchen Bedingungen zu leben. Erstaunlich ist, dass die Menschen zwar davon erzählen und zum Beispiel kurze Schocks bekommen, wenn sie vom Licht geblendet werden, aber ihre Wahrnehmung der Welt nicht darunter gelitten zu haben scheint. Dabei würde gerade die Tiefenschärfe die Möglichkeit beinhalten, anzuzeigen, inwiefern man sich-gerade im Hinblick auf die abstruse Backgroundstory von Curtis-von sich selbst entfremdet. Wo ist der Schutzwall, den die Überlebenden in ihrer Wahrnehmung aufgebaut haben müssen? Wo ist ihre Leere? Wo ist ihre Dauer? An dieser Stelle mag man nun wirklich einwenden, dass es niemals das Ziel von „Snowpiercer“ sein kann, ein menschliches Drama zu erzählen. Darum geht es auch nicht, sondern lediglich darum wie einfach und subtil der Film ein Gefühl für diese Figuren mit der Tiefenschärfe hätte erreichen können und wie er trotz seiner häufigen Verwendung dieses Stilmittels nicht ein einziges Mal in die Verlegenheit kommt es zu tun. Lediglich ganz am Ende, wenn Curtis für einige Momente alleine im Herz des Motors steht und alles um ihn herum unscharf wird, erfährt man einen solchen Moment. Der Gedanke von Bong Joon-Ho ist, dass man in einer solchen Umgebung niemals alleine sein kann, dass also so etwas wie inneres Leben, wie Nachdenken kaum stattfindet. Aber gerade das Fehlen dieser Rückzugsmöglichkeiten etabliert doch eine solche Entfremdung. Man merkt der Bildsprache nicht an, dass dieser Zug ein Gefängnis ist. Wenn ein Film eine ganze Welt in einen Zug verlegt, dann wird er sich solchen existentialistischen Themen stellen müssen. Insbesondere, wenn er am Ausgang damit wartet, dass alles Teil eines größeren Plans ist. „Snowpiercer“ bedient diese Gefühlslage inhaltlich, indem er von gescheiterten Fluchtversuchen und von Gefängniskonstellationen erzählt, nicht aber formell. Man denke beispielsweise an die klaustrophobischen Gänge in „Das Boot“ von Wolfang Petersen oder an die verunsichernden Weitwinkel-Unschärfen in Denis Villeneuves „Incendies“. (Ich nenne hier bewusst Filme, die wie „Snowpiercer“ einen Unterhaltungsanspruch haben; wenn man mit der Tiefenschärfe bei Michelangelo Antonioni beginnen würde, wäre das unfair) Dort wird der Raum als eine Beschreibung des Lebens spürbar. Dies geschieht nicht in „Snowpiercer“ und das ist ein großes Versäumnis des Films. Ich fühle nicht, was diese Menschen erleben und deshalb erscheint mir ihr Begehren, ihre Revolution als abstrakte, intellektuelle Idee statt als Notwendigkeit. Einzig eine auch technisch interessante Schärfenverlagerung von der zerstörten Eislandschaft draußen auf das Fenster, das vor dieser Welt zugleich schützt und sie verhindert, zeugen von einer Sehnsucht, die auch in den Bildern greifbar wird.