Odette Robert ist der Name von Jean Eustache Großmutter. Sein Film Odette Robert ist eine auf die halbe Zeit gekürzte Version des Filmes Numéro Zéro.Diese verknappte Fassung wurde für das französische Fernsehen produziert und war Teil einer Reihe, der auch Chantal Ackermans Dis-moi angehört. Die Reihe hieß Grands-mères, un série proposée par Jean Frapat. Obwohl es sich um eine für das Fernsehen gekürzte Version eines längeren Filmes handelt, sind Intention und Form klar.
In Odette Robert sehen wir vorwiegend wie Odette Robert aus ihrem schwierigen, ereignisreichen und doch gewöhnlichem Leben erzählt. Der Film besteht aus einer Art Interviewsituation, wobei Eustache selbst wenig zu Wort kommt, sondern seine Großmutter erzählen lässt. Nur manchmal unterbricht er, wenn das Filmmaterial in einer der beiden Kameras ausläuft und eine Klappe geschlagen werden muss. Odettes Monolog wird dabei aus zwei Perspektiven eingefangen: Einerseits eine totale Einstellung, in der wir den Rücken von Eustache sehen und Odette uns (und ihm) gegenüber sitzt, andererseits (aus der Perspektive einer Kamera, die etwas weiter rechts steht) eine nähere Einstellung von Odettes Gesicht. In ihr ist der Filmemacher nicht zu sehen. Diese zweite Kamera zoomt manchmal ein bisschen weiter hinaus und zeigt uns Odettes Oberkörper: wie sie bei Tisch sitzt, raucht und den Whiskey trinkt, den Eustache ihr einschenkt.
Nur die Eröffnungsszene, in der wir Odette und Boris Eustache (Jeans Sohn) auf der Straße einkaufen sehen, bricht mit diesem Muster. Ansonsten befinden wir uns durchgehend im Interview. In den meisten Filmen würde ein solches Interview wahrscheinlich nur einen geringeren Teil ausmachen. Es wäre ein Segment, dass man gern auch als “Talking Head” bezeichnet. Oder man würde das Interview regelmäßig mit Archivbildern und Aufnahmen unterbrechen, um visuell abzuwechseln. Doch Eustache interessiert sich nicht für Ablenkungen, und begreift diese Situation auch nicht als ein Talking-Head-Segment, das nur ab und zu ergänzende oder erklärende Statements gibt. Stattdessen bekommen wir hier etwas zu sehen, worum es im Kino nicht allzu oft geht: Die Kunst des Sprechens. Ein Mensch erzählt uns (eine) Geschichte. Wir können in Ruhe und ohne Unterbrechungen dabei zusehen und -hören, wie Odette sich an ihr Leben erinnert. Sie berichtet dabei vor allem von Leid und Schmerz. Sie erzählt von ihrer grausamen und demütigenden Stiefmutter, ihrem Arbeitsleben in einer Fabrik, als sie noch ein Kind war, ihrer Ehe mit einem Schürzenjäger und dem Verlust mehrerer Kinder. Mehrmals hören wir im Detail von furchtbarer Krankheit und Tod. In ihrem Gesicht erkennen wir dabei ihren Schmerz, auch wenn wir ihre Augen nicht gut sehen können durch die abgedunkelte Brille, die sie trägt.
Eustache sucht nicht nach “guten Stellen”, die er dann für seinen Filme nutzen kann. Er versucht nicht, Odette manipulierend Statements oder Emotionen zu entlocken. Es geht nicht darum, das Erzählte seinem Narrativ unterzuordnen. Stattdessen wird das Medium Film verwendet, um etwas festzuhalten, was ansonsten verschwinden könnte: eine Person, die erzählt. Die menschliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und Narrative zu bauen, wird im Kino gerne für verschiedenste Zwecke gebraucht, doch sie wird selten als zentraler Inhalt des Filmischen festgehalten. Wenn jemand erzählt, wie Odette Robert es tut, dann öffnet sich ein Raum. Eine Person wiederholt sich, verspricht sich, verliert sich. Und in diesen Prozessen erkennen wir den Menschen. Durch das Erzählen über eine längere Zeit, zeichnet sich ein Portrait, nicht nur über die Inhalte des Erzählten, sondern durch die Art, in der erzählt wird. So werden nicht nur die erzählende Person, ihre Erinnerungen, ihr Rhythmus festgehalten, sondern eine Welt von Gestern wird aufgezeichnet. Eine Welt, die wir sonst nur aus Geschichtsbüchern kennen. Eine Welt, die oftmals im Alltag ganz anders war (und näher zu unserer), als es diese Bücher erahnen lassen.
Jean Eustache war ein Verehrer des Kinos der Brüder Lumière. Vielleicht ist in diesem Film auch die Nähe zu deren Filmen spürbar. Er glaubt an diesen Apparat namens Kamera. Er filmt, ohne ihr etwas zu unterstellen, ohne von ihr mehr zu verlangen, als Zeugnis von dem abzulegen, was sich vor ihr abgespielt hat.
Gegen Ende des Filmes sagt Odette, dass sie nun 71 Jahre alt sei und nicht mehr wirklich Interesse daran hätte, zu leben.
Sie meint, dass sie das nicht aus einer Drastik heraus sage (ihre Devise lautet: “Ich glaube andere hatten es schlimmer.”).
Fünf oder sechs Jahre wären noch schön, um den 16 Geburtstag von Boris Eustache zu erleben, doch eigentlich sei es ihr egal. Ob Odette Robert den Geburtstag von Boris miterlebt hat oder nicht, weiß ich nicht. Neun Jahre nach der Aufzeichnung des Interviews, schnitt Eustache daraus die Version fürs Fernsehen. Im Jahr darauf beging er Selbstmord.
The silken images of Joris Ivens’ La Seine a rencontré Paris are ephemeral. They only register momentum: the flicker of reflection, the drain of textile, the traces of a turning boat. The compositions are not reminiscent of their interwar predecessors, which were made in harbours and aimed at depicting the city’s relation to the river amidst industrializations. They are not wide enough to show the crowds of Das Lied der Ströme, an East German film co-directed by Ivens that relates the triumph of the working class to the civilizational character of rivers. La Seine a rencontré Paris is not directly about production or the conquest of riverbanks. The montage is clean and effortless; it draws a continuous arc between two ends of the city. Manual labour appears in the film but it is elevated, rounded, dreams of muscles and sweat set to fly in awe of rapids and whirlpools. The poetry of Jacques Prévert determines how Ivens films the Seine and the work, passion or strolls that happen in proximity to it. The poet is concerned with the ever-fleeting channels of water and their involuntary rush from the present. He recognises that the essence of this object is the very impossibility of it being seized. So he just dances around the idea of the Seine, charging its aimless existence with metaphors and personifications.
And Ivens observes the Parisiennes: dogs, children, lovers, people working, posing, running, finding a cigarette. He looks at the surface and tiny agitations of time. As opposed to his other films about the relation between a river and a city, La Seine a rencontré Paris doesn’t focus on the utilisation of the river. This film is also about modernity, but the Seine doesn’t become a device of modernity. Rather it provides a modern problem, namely spare time prescribed and framed by production with a backdrop. It’s an unaware companion to daybreaks, detachments from functionality and progress. The Seine can be a void to loose oneself in, or a body of distinct, personal meanings that all bypassers uncover. The film only gives voice to Prévert’s experience, but it’s the allegory of a collective impression each individual experiences differently. Its banks host a ceaseless social event, filled with the noise of free interaction, but it’s also an agora one can flee by letting the monotonous bluster of the river absorb the ruminations.
For some, the Seine doesn’t mean daybreak. The river, with the words of Prévert, is the factory itself. Even with a slight shift in perspective, Ivens sees workers. His elegant, dignified shots grant them with the strength of the river. In parallel planes, he films parallel movements; in one the workers push debris with a shovel in front of them, in the other a train crosses a bridge a the same speed as the shovels.
Ivens’ images encapsulate the awe felt for the Seine both as a sensual milieu and as an abstraction. Of all his films about urban life, it’s the most concerned with the sentiments – in La Seine a rencontré Paris the formal sublimity of the river is not juxtaposed against the oppressive presence of mechanics, but enriches the spiritual life of the citizens.
Some find it just like any other river, Prévert recalls in his text, struck by the ignorance in the observation. For him, the Seine is sovereign. It floats freely and never ties itself to just one partner, rather it pulls away the memories and imaginations of all those gazing at it, channeling them out of Paris as it streams beyond the city’s gate.
A car is coming from the other side of the reservoir. Young people are watching it, a loud whistle calls a gathering for a partisan action. This artificial lake together with a dilapidated building; the whole lakeside resembles an old factory district. The car arrives, another whistle, and the partisans appear in front of the car, embracing each other in a line stopping the cars. A plain-clothes officer gets out of the car, another one of the partisans in a red shirt appears. In the background, we can see policemen in uniform pointing at the partisans with their machine guns. The man in the civil clothes asks the youngsters if they have gone mad, then orders the policemen to put off their guns. He must be the head of these policemen and surely knows the partisans from before. While he collects the guns, the youngsters arrange in a big circle closing in on the officer. He faces the red-shirted man, and in a friendly way asks him to let the police pass. The partisans lay on the ground and start singing: “On Madrid’s borders, we stand on guards…”. The man in civil clothes lays down with them and sings for a second. He stands up, as if he knew he shouldn’t and couldn’t stay. He signals the policemen to interrupt this performance. At first, the police seems completely powerless, and the police cannot get the people laying on the ground stand up. All of a sudden, the partisans jump up and start to throw the officers into the reservoir. The man in the civil clothes appears in the foreground of the image, retreating with hands raised up. The man in the red shirt goes through his pockets and confiscates his gun. In the background, partisans and policemen are playing together in the water. Finally, it turns out that the gun wasn’t even loaded. This was the first shot of the film.
To comprehend the density of this first shot requires disambiguation, and this can be achieved through the thorough examination of the choreography. The film starts with the youngsters waiting; they know already that the policemen are coming as they have prepared an action to stop them. When they arrive, we believe that their power has a threatening effect on the partisans, which sense is supported by the fact that the stoppage and protest are against them. Their power is represented in the uniforms, in the guns, in their cars. On the other hand, the youngsters’ power is presented in their songs and their collective movement.
Kozma’s figure (the officer in civil clothes) seems to be some kind of mediator in this tense situation and his role raises our uncertainty concerning what is at stake. When he gets out of the car to ask the youngsters what they are doing, his tone is casual, almost kindly, while the guns appear in the background. Then, how is it possible to lay down with the partisans and in the next moment, give orders to stop their protest? Pushing the officers in the water undermines the seriousness of the scene, it seems more like a party than a confrontation, but then in the foreground we see Kozma with hands up, even if he has a gun.
The liminal atmosphere between game and terror, playing and humiliating, joy and defiance crystalizes through Kozma, and sets the stage for the whole film.
Later, it turns out that the youngsters organizing the partisan actions are actually NÉKOSZ (National Association of Popular Colleges/People’s College) members, which was an institution under the Rákosi regime – the Stalinist period after WWII – to educate the children of the lower classes, in order to give them the opportunity to become intellectuals. So, in theory, the NÉKOSZ members and the policemen are representing the same revolution on different levels. These youngsters are not really revolting against state authority, as they support the ideology of the regime. When the self-organizing group later gains power they prove themselves more radical than the police itself.
This first shot is the presentation of NÉKOSZ in these unstable power-relations. From here, the film is about their aim to convince the students of a Catholic seminar of the strength and singular validity of their communist ideas.
Sparkling Motion
The year 1968 was quite significant in both Western and Eastern Europe. Paris and Prague became the two symbolic cities of the revolution, facing fundamentally different issues and problems. Paris became the centre of a social revolution motivated by ideological convictions and a disgust at bourgeois hierarchies and imperialist conduct, while the people of Czechoslovakia were oppressed under the Soviet regime, which necessitated a response, a revolution for liberation and self-government.
In Hungary, 1968 was not so relevant, as only a minority were aware of the revolutionary intentions. Being a part of the Soviet bloc, most of the intellectuals felt attracted to the example of Prague, where the aim was to democratize the regime from the dictatorial state forms. The most visible consequence Hungarian intellectuals had to suffer was a long series of discharges from workplaces (publishing houses, universities and the academia), as well as an infamous prosecution of philosophers for their various expressions of solidarity with the people of Prague. From this perspective the revolution against capitalism, consumerism, and American imperialism seemed distant, like an artificial problem made by and for the West.
In the context of Hungary, Jancsó’s internationally well-known figure was an exceptional one. Fényes szelek was the director’s first colour film, made after the international success of Szegénylegények and Így jöttem. This movie can be seen as part of a trilogy with Jancsó’s later films Sirokkó and Lapacifista.
Jancsó was among the few favoured intellectuals who were free to go abroad – he spent months in China and often travelled between European cities. In the May of 1968 at the Cannes film festival, he actually witnessed the French revolution up close, and it made a deep impression on him. Returning to Hungary later in the summer, he started to shoot Fényes szelek. Despite being embedded in Hungarian culture, the story and the motifs of the film carry the signs of the director’s viewpoint on 1968, influenced by both the Eastern and the Western-European situation. Jancsó’s engaged populist–socialist attitude and his critical approach towards any kind of authority meet in a complex ideological field, resulting in a movie full of enthusiasm for and fear of a given historical situation, analyzing the nature of power and reflecting upon different political contexts at the same time.
“Remaining, of course, always an outsider.”[1] This quotation of his reminiscences of his visit in Paris in 1968 describes exactly his liminal situation.
Before moving on to some reflections on the contemporary atmosphere, it is necessary to take a look at Jancsó’s statement about the narrative’s period; the late forties in Hungary. Socialism was conceived in sin. He exemplifies how easily goodwill and pure faith turn into radicalism by looking at a harmless organization, NÉKOSZ (National Association of Popular Colleges). Jancsó himself had an experience of this institution together with the film’s screenwriter, Hernádi Gyula, as they were both members of the Popular College, participating in collective events and agitative actions. The organization was only active from 1946 to 1949, and before Jancsó’s film, the organization was hardly remembered, while it proved to be an exceptionally effective educational tool, according to reports of the former members.
Fényes szelek was promoted as a commemorative movie to NÉKOSZ – the Hungarian title is Sparkling Winds, recalling the first lines of its march song; “Sparkling winds blowing our flags and subverting the whole world.” After its premier, partly due to heightened and false expectations, it really divided the critics and the Hungarian audience. Indeed, it was very unexpected, as it was the first film by Jancsó that the state-party understood as a critique of their regime.
The experience of 1968 resonates with the behaviour of the Popular College people, especially in the second part, when under Jutka’s leadership, the group radicalizes. The banners and the fliers recall the images that live in the public consciousness about the revolutionary streets of Paris. Moreover, their appearance; the farmer skirts, striped shirts and hairstyles definitely evoke the sixty’s trends.
Another notion that strengthens the relevance of the French connection is the comparison with Jean-Luc Godard’s La chinoise. Both films reflect the climate of the late sixties in France, and both keep distance from the juveniles’ actions, showing borderline attraction and repulsion towards them. However, their tone and criticism touches upon different aspects of their revolutionary way of thinking and radicalization. Godard portrays students with superficial ideas and pretentious theories exaggerated to the point of ridiculousness. By contrast, in Fényes szelek, even if it’s assumed that these people do not have any complex thoughts on their debate topics, like the role of the individual in history or the cognizability of the world, their devotion and ideas are taken seriously. For instance, the contrast between the people of the Popular College and the Catholic seminar is shown in the opposition of their sharply differing convictions, that all seem relevant as they are based on actual personal and historical experiences. Radicalization in both cases comes from a childlike attitude; in La chinoise the students don’t seem to have a relation with the graveness of the actual political and social situation, while in Fényes szelek, the juveniles’ seriousness creates the situation in the narrative, interfering with the actual political situation of the country.
The established parabolic form of Jancsó’s previous films becomes more complicated, as the dramaturgic structure follows two main characters of the same group, embedded into the context of three different ideologies. Jancsó builds up the story by concentrating on the members of the Popular College, whose intention is to make the students of the Catholic seminar share their communist ideology. While there is purity in their thoughts and spirit in their unquenchable thirst for debate, all their actions seem naïve and childish in their brutality, and each of their gestures become unexpectedly aggressive. The first attempt to debate fails because of this attitude, followed by Laci’s disillusionment and later renouncement, and the second time Jutka’s abuses make an end to this process. The storyline is clearly divided in two parts, primarily focusing on the two main characters and their relation to the Popular College and to the Catholic seminar, but it can only be discussed within the context given by the state authority embodied by the policemen.
The two protagonists essentialize the idols of communist youth; their faces tell everything. Balázsovits Lajos as Laci represents an everyday guy, a person who is devoted and enthusiastic in spreading communist ideas, yet resists any kind of aggression and has faith in debate, so he remains harmless. His leadership seems sincerely and naively democratic at the first scene on the riverside, when all the members of the college follow his way of acting, but in the end, they form a dancing circle together. Laci takes off his red shirt, the sign of his distinctiveness and he joins them naked as if he was renouncing authority in favour of the college.
Contrary to all this, in the second part of the film we see Drahota Andrea as Jutka, the close-up shots show her dramatic face and desperate look. Her attitude is much more determined and aggressive than Laci’s. As a leader she feels necessary to rise above the others, so after filling Laci’s former position as main secretary, she literally rises by sitting on the shoulder of two boys while demanding accountability for the assumed perpetrators. Clarifying the consensus and the ideology is essential for her, and to prove to the Others she is ready to make radical decisions.
Offering two possible roles as a leader of a communist group, Jancsó articulates his viewpoint on the dynamics of the oppressors and the oppressed in the Stalinist times of Hungary, slightly referring to the contemporary events, the revolutionary atmosphere of 1968. The detailed structure of the film is based on 31 long takes adjusted to the dynamics of different types of movement. Their inspirational source might be that the director’s first encounter with art was participating in a dancing theatre led by Muharay Elemér, who was a prominent choreographer and researcher. Jancsó shot documentaries about this theatre and, as we can see in films like Fényes szelek, it deeply influenced his later works.
The actors’ motion can be read as the expression of their ideologies, as Szekfű András[2] argues. As described above, the first type of collective movement is well-prepared; it’s an offensive action, when the members of the College flock together in a skirmish-line, phalanx, circle, or they simply cruise around the others. In the first scene they already appear moving as if it was a partisan action against the policemen. Complicating the situation, one of the policemen, Kozma, joins the youth, expressing the close connection between the police and the College, and his personal attachment to it. After dropping the policemen into the water all the members themselves jump in. These collective movements have an ambiguous sense: despite their playfulness, they also invoke the atmosphere of a military action. Stressing this military connotation, their movements are also accompanied by strong whistles, shouts, or ideologically offensive songs. This military atmosphere reaches its highpoint later, during Jutka’s leadership, when the skirmish-line formed by the College members drives the seminar students into a corner. After that, Jutka comes up with the idea of shaving the hair of the guilty, which unmistakably resembles Nazi methods.
Additionally, loose and aimless walking also evokes military-like movements, and these actions are usually followed by different kinds of motion. Walking around always suggests the intention of assessing and weakening the other’s ideological position and, above all, representing the dominance of the group. The first encounter with the students of the seminar happens this way – they are standing side by side in uniforms, and the College members try to break their unity shouting questions to debate. Approaching the students as liberators, their way of moving can be summarized by a symbolic sentence Laci shouted: “We came to introduce ourselves.” Asking questions without expecting answers, only for the sake of persuading people, this is how the attitude of the College people is shown. Regardless of Laci’s honest belief in debate, this scene appears to be more of an invasion than a fruitful dispute.
Another fundamental movement is dance, either organized or spontaneous, always performing an ideological affiliation. Organized dances are demonstrative ones, while a spontaneous dance might express a temporal unity. In the case of the College the dances are usually connected to revolutionary songs or folk songs. However, the most important dancing scene is when Laci invites Hungarian folk dancers and an orchestra to perform, testifying that he understands that the total lack of interest in the seminar students makes the debate impossible, and changes the technique of his approach. As these movements root back to the Hungarian folk tradition, they form a common base for the Popular College and the Catholic seminar.
The last type of movement, appearing in some scenes, concentrate on only one or two characters presenting a certain ideology or standpoint. Without the strong background provided by the group, these people become uncertain and exposed to the others. Despite their uniforms, the students of the Catholic seminar mostly move in an individual way, or react together to the offensive movements of the communist youth. This individual movement dominates in a particularly important situation, in the conversation between András and Laci – this is the first scene when Laci’s ideological confidence gets destabilized.
In addition to the analysis of the movements, the spatial structure of the scenes is something that might be related to the military-like atmosphere. The whole spatial arrangement resembles a fortress assault, as the story begins and ends in the riverside below the Catholic seminar on a hill, as if the attackers were waiting to conquer the fortress. The assemblies of the College are held on an opposite hill so they have to retreat to elaborate new strategies. In a nutshell, the Popular College and the Catholic seminar can be identified easily, while the third group, the state authority cannot be localized. It seems like they were everywhere. They do not need a specific place, so it is difficult to confront them. They appear in unexpected situations without any kind of hardship, they enter and leave whenever they want. Their modus vivendi expresses their omnipotence and degrades the fight of the College to a fairy tale, an unimportant game of the youth. The tool symbolizing their status is the car, which grants them flexibility, and gives symbolic meaning to the scene when the students overturn the car. This case is a turning point for Laci, as he finally understands the real power relations which becomes the ultimate reason for his renouncement.
The last part, the last scene in particular, with the members of the party clearly shows Jutka as a symbolic figure of the Popular College youngsters. Returning to the starting point, the battle plan seems childish and unserious, but the policeman, Kozma calms the disappointed Jutka down: “You can still be college secretary, even Minister.” However simple this last sentence is, it expresses the officer’s perception about the political regime – no matter how radical you had been, you could still be promoted. Or even worse, the more aggressive you were, the more probable you become a leader.
Even if there are some unmistakable similarities outlined between the 1968 and the NÉKOSZ students, at this point it turns out that there is no total correspondence. Jancsó, when describing Paris in the abovementioned text, uses the term atmosphere several times with a slightly critical overtone. I would suggest this is the key for understanding his viewpoint on 1968 based on this film. He already saw what had happened to the hopes of Popular College youngsters, how certain people got integrated in the regime. The sense of 1968 remains more of an atmosphere, revealing the essence of being young and revolutionary, something which Jancsó lived through being a NÉKOSZ member, in which he became disillusioned. This complexity is articulated through the presentation of the plot in dances, songs and speeches; while to a certain extent he, as a director, remains an outsider, he treats all the groups and individuals with a lot of empathy, even sympathy.
The director’s distant position gets more sentimental, when it comes to folk culture. Laci invites folk musicians and dancers to unify different people, and it really works, even if only for a certain period of time. The potential of pure folk culture is presented as equally accessible for everyone, something that everyone knows and enjoys. However, the emphasis is on its temporary nature, as, after all, folk culture can also be ideologized to a harmful extent, so it can only be a pure and unharmful solution to a certain degree.
In Fényes szelek, a complex universe of experiences and ideas appears; fruitful in its controversies, nuanced in its argument. This film outlines Jancsó’s viewpoint on the general dynamics of power, on particular political situations, reflecting upon the individual driven by the mass and in reverse.
[1] Jancsó Miklós: Párizs ’68. Zsebünkben a bölcsek köve. Filmvilág (2008) pp. 12-13. http://filmvilag.hu/xereses_aktcikk_c.php?&cikk_id=9374&gyors_szo=%7C%7CJancs%F3%7CMikl%F3s%7CJancs%F3+Mikl%F3s&start=0 (date of actual download: 2021. 05. 03.) (translation by Babos Anna)
[2] Szekfű András: Fényes szelek, fújjátok! Jancsó Miklós filmjeiről. Budapest: Magvető Könyvkiadó, 1974. p. 92.
„Paris is instantly recognisable“ wirbt der Backpacker-Reiseführer Lonely Planet auf seiner Webseite. Dazu ein Luftbild von Paris in den rot und grün getünchten Sepiafarben, die spätestens seit Le fabuleux destin d’Amélie Poulain unmissverständlich für die Stadt stehen. Damit wird die Nostalgie nach einem romantischen Paris bedient, in dem man noch verzauberte, von Warenförmigkeit und Globalisierung verschonte Winkel finden kann: eine Vermarktung der Marktlosigkeit. Die Kuppel des Invalidendoms leuchtet im gedämpften Licht der Abendsonne, links steht der Eiffelturm und dahinter erhebt sich, nahtlos integriert in die Innenstadt aus dem 19. Jahrhundert, die Skyline mit Glasfassaden. Unter dem Foto folgt eine Liste der Gebäude, die wie ein Beweis für den Werbeslogan wirken: Eiffelturm, Arc de Triomphe, Louvre, Centre Pompidou, Sacré-Coeur – jeweils mit einem Bild versehen, auf dem man das Gebäude auf den ersten Blick erkennt. „Brand awareness refers to the extent to which customers are able to recall or recognise a brand“, fasst Wikipedia trocken zusammen. Paris ist eine Top-Marke. Bis zu dem Punkt, an dem die Markenstärke zum Hauptargument für eine Reise in die Stadt wird.
Im Anholt-GfK City Brands Index℠ (CBI℠), einem vom amerikanischen Ableger des weltweit fünftgrößten Marktforschungskonzerns Gesellschaft für Konsumforschung erstellten Ranking, belegt Paris für sein positives Markenimage den ersten Platz. Vor allem in den Kategorien „Place“ („its physical outdoors aspect and transport“) und „Pulse“ („interesting things to do“) könne die Stadt überzeugen.
Das Institut schreibt in der Pressemitteilung: „Our survey was conducted before the November attacks in Paris – but, if past experience is anything to go by, such attacks do not change people’s perceptions of the city in any significant or long-lasting way. There may be a temporary change in people’s behavior towards Paris – but the attacks do not affect the reasons why people might admire the city’s beauty, cultural life, opportunities, etc. and this is what CBI measures.“ Tropfen auf den heißen Stein also. Die Marke ist stärker.
Nocturama von Betrand Bonello beginnt mit einer Luftaufnahme von Paris in der Dämmerung. Die Kamera filmt aus dem Seitenfenster eines Helikopters, der in einer fast unmerklichen Kurve über die Stadt fliegt. Kein Horizont ist zu sehen, nur die ikonische Pariser Innenstadt: Ein dichtes Gewebe aus Stein, Häusern und Straßen, dazwischen die Seine mit ihren Brücken. Man kann die Pont Neuf und den Notre Dame ausmachen, irgendwann schieben sich auch das Louvre mit dem Jardin de Tuileries und das Centre Pompidou ins Bild. Doch die Bildkomposition schichtet die einzelnen Gebäude zu einem komprimierten Muster. Die Stadt wirkt nicht luftig, wie in der Aufnahme von Lonely Planet, sondern verdichtet. Und obwohl der Film zuerst die sofort erkennbaren, konsumierbaren Sehenswürdigkeiten zeigt, sieht man sie nicht als klar trennbare Einzelstücke. Paris ist ein komplexes Gemenge aus Schichten, Straßen, Steinen, Schmuck.
Im Bild auf der Webseite von Lonely Planet erstreckt sich die Stadt zu einem hoffnungsvollen Horizont hin. Im Gegensatz dazu bedeutet „Paris“ in Nocturama kein Fernweh-Abenteuer – dafür das Abenteuer sich auszukennen und dieses Ortswissen taktisch nutzen zu können.
Acht Personen – alle irgendwo auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsensein – bewegen sich auf zielgerichteten Pfaden durch die verschlungenen Straßen der Stadt. Still und sicher nutzen sie das Metrosystem, betreten Hotels und Büros, durchqueren Tiefgaragen und Hochhäuser. Ihre Wege kreuzen sich, verlaufen wieder auseinander, manchmal scheinen sie sich zu kennen, manchmal nicht. Die Kamera begleitet ihre präzisen Bewegungen auf Augenhöhe mit schnellen, kontrollierten Fahrten. Wie eine Komplizin ist sie perfekt auf ihre Aktionen abgestimmt, scheint jeden Schritt bereits im Voraus zu kennen. Fließend geht sie von einer Person zur nächsten über, lässt die streng getaktete Choreografie ihrer individuellen Zeitpläne sichtbar werden. Im Schnitt werden die Handlungen wie ein Staffelstab von Person zu Person weitergereicht: Einer geht über die Straße in einen Metroeingang – der nächste sitzt wartend in der U-Bahn – eine dritte betritt an einem anderen Ort wieder die Straße.
Ein gemeinsamer Bewegungsfluss entsteht über die räumlichen Abstände hinweg, klanglich rhythmisiert durch den ständigen Wechsel zwischen eilenden Schritten und regungslosem Warten. Immer wieder dieselben Gesten bei verschiedenen Personen: paranoide Seitenblicke, verunsichertes Innehalten, ein schneller Blick auf die Armbanduhr. Die Zeit tickt unablässig weiter. Bildfüllend eingeblendete Uhrzeiten: 14H07. 15H30. 16H18. 16H50. Irgendetwas schwebt in der Luft. Alle Handlungen sind ausgerichtet auf eine unmittelbare Zukunft, die unaufhaltsam näher rückt. Um 19H15 explodieren an mehreren Orten zugleich die Bomben.
Die minutiöse Orchestrierung der Bewegungen rückt Nocturama in die Nähe des Heist Films. So wie Einbrecher*innen den Grundriss und die Arbeitsabläufe einer Bank auswendig lernen, um gezielt in sie eindringen zu können, nutzen die Jugendlichen ihre Kenntnis der Infrastruktur der Stadt, um sich Zugang zu den Zielen ihrer Anschläge zu verschaffen. In beiden Fällen verwandeln sich alltägliche Orte und Vorgänge in ein engmaschiges Netz raumzeitlicher Strukturen, durch das die Kriminellen in perfekter Choreografie hindurchgleiten. Ganz Paris erscheint in Nocturama wie ein einziges großes Sicherheitssystem.
Doch trotz der Affinität zu Genre-Bildern behalten die Szenen im ersten Teil des Films immer eine Alltäglichkeit bei. Wenn die Jugendlichen in der Bahn sitzen und mit leerem Blick vor sich hin starren, ungeduldig auf dem Gleis auf und ab gehen oder plötzlich ihren Schritt beschleunigen, um das richtige Abteil zu erwischen, dann könnten sie genauso gut auf dem Weg zur Uni, ins Café oder auf eine Party sein. Ihr Verhalten fällt nicht aus dem Alltag heraus, sondern ist nahtlos in ihn integriert. Sie bewegen sich auf offener Straße unter den restlichen Fußgänger*innen, werden wie alle anderen von Überwachungskameras registriert, passieren im selben Tempo die Fahrkartenkontrollen, nutzen öffentliche Verkehrsmittel. Die Durchführung ihres minutiösen Plans basiert auf dem genau getakteten Fahrplan der Pariser Metro, der eine Perfektionierung des Zeitmanagements nicht nur ermöglicht, sondern alltäglich von uns allen abverlangt.
Was man sieht, betrifft den eigenen Alltag: die Blicke aufs Smartphone, nebenbei, in Bewegung – um Zeit zu sparen. Der eigene Körper ist den abrupten Wechsel zwischen beschleunigtem Gehen und nutzlosem Warten gewohnt. Die Bewegungen sind in die städtische Infrastruktur integriert. Die Metro, selbst eine mythisch aufgeladene Pariser Ikone, verbindet nicht nur touristische Wahrzeichen oder fährt Menschen zur Arbeit, sondern kann auch als Werkzeug für politische Organisation genutzt werden. Sie ist gleichzeitig kommunales Gemeingut und wichtige Grundlage für das Funktionieren einer profitorientierten Wirtschaft.
Tourist*innen gelangen effizient zu Sehenswürdigkeiten und Angestellte zu ihren Arbeitsplätzen. Gleichzeitig koordiniert der Taktfahrplan aber auch die Bewegungen der Jugendlichen und ihre Anschläge. Die öffentliche Metro generiert privaten Profit, ermöglicht aber gleichzeitig den Widerstand dagegen. Die erste Hälfte von Nocturama zeigt städtische Infrastruktur als Politik. Das zeigt sich auch an den Drehbedingungen: „So haben wir die Metroszenen in einem fast schon dokumentarischen Stil gedreht. Wir haben keine Location ‚privatisiert’. Wir waren immer mittendrin“, schreibt Bonello im Presseheft.
Ein dunkler Raum. Es ist Nacht. Die Jugendlichen spielen Games, die man nur in den Spiegelungen der Fenster hinter ihnen sieht. Sie hängen zerstreut durch die Wohnung, sprechen miteinander, wechseln den Ort. Alle mit allen und doch alle scheinbar für sich. Später tanzen sie im Gewimmel durcheinander, gehen kurze Bindungen ein und trennen sich wieder. Solidarisch und trotzdem völlig losgelöst sind sie entkoppelt vor sich hintreibende Einzelne: Auf sich gestellt, zusammen, in ekstatischer Trance, sediert.
Wer sind diese Jugendlichen? Sie gehören keiner bestimmten Klasse an, sind nicht Teil einer Minderheit oder Mehrheit. Manche scheinen aus gutsituierten Elternhäusern zu kommen, andere aus den Banlieues, manche aus postmigrantischen Familien, wieder andere aus dem französischen Etablissement. Sowohl Frauen als auch Männer, und auch da sind die Identitäten brüchig. Das einzige, was sie eint, ist ihr Alter. Sie planen politische Anschläge. Ihre Ziele sind das prunkvolle französische Innenministerium, ein goldenes Jeanne-D’Arc-Denkmal – das unter anderem als Ort einer jährlichen Zeremonie der Front National dient – und Institutionen der globalen Finanzwirtschaft wie beispielsweise die britische Großbank HSBC, die auf einer Liste von „globally systemically important banks“ des Finance Stability Board (dem unter anderem die Weltbank, die EZB, die EU-Kommission und Institutionen der G20 angehören) weit oben auftaucht.
Dieses Ideal bleibt offen, ausgestaltet zu werden. Was die Jugendlichen jedoch verbindet, ist eine gemeinsame historische Erfahrung. Sie sind alle in den 90er-Jahren geboren und in den 2000ern groß geworden. Ihre Vorstellungen von Zukunft sind geprägt durch Alternativlosigkeit: Margaret Thatchers Motto „there is no alternative“ hat sich europaweit durchgesetzt und ließ keine Möglichkeiten mehr für ein anderes Zusammenleben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die mächtigste Gegenspielerin des kapitalistischen Westens definitiv gescheitert. Die sozialdemokratischen Regierungsparteien haben sich von ihrer Nähe zu den Gewerkschaften verabschiedet und die staatlichen Infrastrukturen und Schlüsselindustrien privatisiert, in Frankreich vor allem unter der Regierung von Lionel Jospin (1997–2002). Arbeit wurde zunehmend flexibel, sowohl zeitlich durch befristete Stellen, als auch räumlich durch global agierende Konzerne.
Der Soziologe Pierre Bourdieu schreibt 1997: „Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“ Oder anders gesagt: Wenn die Arbeitsstelle immer kurz davor ist auszulaufen, kann man keine langfristige Zukunft planen. Und ohne eine Vorstellung von Zukunft ist es schwierig, gegen eine schlechte Gegenwart und für eine bessere Zukunft zu kämpfen.
Die Folge ist eine Perspektivlosigkeit, die ein Gefühl des dumpfen konsequenzlosen Genusses hervorbringt, das der Kulturtheoretiker Mark Fisher als „depressive Hedonie“ bezeichnet: Privatisierte Emotionen, die wissen, dass die Lage schlecht ist, aber nicht wissen wohin damit und sich ohne Ziel in eine betäubte Party stürzen. „Diese Schwermut des Hedonisten“ findet Fisher in Alben wie Kanye Wests 808s & Heartbreak und „in der tieftraurigen Art, wie Drake in Marvin’s Room die Zeilen ‚We threw a party / Yeah, we threw a party’ singt“ wieder. Der Sound dieser Alben klinge wie die gespenstische Wiederkehr einer Party, die vor sich hintreibend die Leere der Oberfläche auskostet – eine Stimmung, die auch in der oben beschriebenen Partyszene widerhallt. Die Party der Jugendlichen ermöglicht zwar eine gemeinsame Solidarisierung, wirkt aber paradoxerweise gleichzeitig wie eine Verlängerung ihrer prekären Lage.
Die Partyszene steht komplementär zur Jobsuche der Jugendlichen: Eine Rückblende zeigt drei Mitglieder der Gruppe im Wartesaal eines Bürogebäudes sitzen. Zwei warten auf ein Bewerbungsgespräch, der Dritte arbeitet bereits in einem Café. Es geht um einen Job als Wachpersonal in einem Parkhaus – eine Branche, die in flexiblen Zeitplänen und oft über befristete Arbeitsverträge organisiert ist.
„Wie viele nehmen die?“ – „Keine Ahnung.“
„Suchst du schon lange?“ – „Fast ein Jahr. – „Ein Jahr? Krass… Suchst du richtig?“ – „Jeden Tag, aber nichts zu machen. Und du? Schon lange?“ – „Noch nicht so lange.“
„Stellen die einen sofort ein?“ – „Glaub ich nicht. Aber sie rufen sicher bald an. Hast du so was schon mal gemacht?“ – „Nein, ist mein erstes Mal. Und du?“ – „Nein.“
Ob einer der beiden den Job kriegen wird, ist ungewiss. Und auch wenn jemand die Stelle erhält, bietet sie keine Absicherung: Die meisten Stellen sind auf Zeit und können flexibel gestrichen werden. Jede*r könnte jederzeit den Job verlieren. Die Konkurrenz um die Stelle wird damit in die Arbeit selber hineinverlegt: Durch die „permanente Drohung des Arbeitsplatzverlusts“ werde die Konkurrenz um die Arbeit ausgeweitet zu „einer Konkurrenz bei der Arbeit, die jedoch im Grunde auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist“ schreibt Bourdieu. Und niemand will der oder die sein, deren Stelle gekürzt wird. Alle anderen werden zu Feinden, mit denen man um Ressourcen kämpft. Wer sich widersetzt kann schnell ausgetauscht werden. Wie will man sich da gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren?
Bourdieu schlägt vor, dass die Betroffenen trotz der Vereinzelung gemeinsam gegen die Prekarität kämpfen, um so die Konkurrenz untereinander „zu neutralisieren“. In Nocturama verwirklicht sich diese Forderung in der Aktion der Jugendlichen. Ihre zunächst scheinbar individuellen und voneinander getrennten Tagesabläufe verbinden sich in der Montage des Films zu einem koordinierten und kooperativen Handeln, das ein gemeinsames Ziel verfolgt. Von den beiden Bewerbern arbeitet einer später tatsächlich als Wachmann, aber anstatt seinen Konkurrenten bloß einen Arbeitsplatz wegzunehmen, ermöglicht er den Mitgliedern der Gruppe Zutritt zu versperrten Liefereingängen. Ein anderer nutzt das Privileg eines offiziellen Termins beim Innenministerium, um den Weg ins Gebäude durch die Hintertür zu öffnen. Die Zusammenarbeit über alle Unterschiede in sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Stellung hinweg erscheint wie ein radikaler Gegenentwurf zu den Konkurrenzbeziehungen in prekären Arbeitsverhältnissen. Unabhängig von den konkreten Zielen ihres Handelns setzen sie allein durch ihre Kooperation ein politisches Ideal in die Tat um.
Auch die heterogene Zusammensetzung und spezialisierte Arbeitsteilung der Gruppe erinnert an Einbruchsteams aus Heist Filmen. In seiner Studie zum Genre weist Daryl Lee darauf hin, dass in der detaillierten Darstellung der Arbeitsvorgänge beim Heist immer auch eine Kritik an den herrschenden Arbeitsbedingungen formuliert wird, der die Kriminellen eine andere Form der Zusammenarbeit entgegensetzen: „Doomed or not, embedded in the desire to form a new social reality is a critique of society and its system of values, be they political, economic, aesthetic or other. At its most abstract, this represents a utopian impulse […] to form an unconventional collective on the margins of society.“ Nocturama greift das politische Potenzial des Genres in der Inszenierung der Anschläge auf. Am deutlichsten wird der Bezug zum Heist Film, wenn man zum ersten Mal alle Mitglieder der Gruppe zusammen in einem Bild sieht.
Sie sitzen an einem Tisch und besprechen, welchen Sprengstoff sie für die Anschläge verwenden werden. Dieser Moment entspricht der im Heist Film archetypischen Planungsszene. Als Wortführer erweist sich Greg, einer der Bewerber aus dem Wartesaal. Er ist als einziger deutlich älter als die Jugendlichen und übernimmt die genretypische Rolle des Mentors: Die Gruppe trifft sich in seiner Wohnung, er hat den Sprengstoff organisiert, besitzt offenbar kriminelle Erfahrung und gibt sein Wissen an die anderen weiter. Doch während der Anschläge fällt seine Aktion völlig aus dem choreografierten Plan heraus. Anstatt wie die anderen Bomben zu legen, erschießt er einen unbekannten Mann in dessen Wohnung. Auch Gregs Schicksal nach dem Mord bleibt ungewiss, er verschwindet einfach am helllichten Tag in einer Straße und damit aus dem Film.
Unter den Mitgliedern der Gruppe behält niemand als Mastermind den Überblick über das gesamte Geschehen. Niemand entwickelt aus der geteilten Unzufriedenheit ein gemeinsames politisches Programm. Alle bleiben verstrickt, niemand kennt den einen Ausweg. Aber die Jugendlichen sind keine Nihilist*innen. Die utopische Dimension ihrer Aktion erklärt sich nicht dadurch, wofür sie handeln, sondern zeigt sich darin, dass sie es tun. In der Weigerung, einfach immer so weiterzumachen wie bisher – egal wie flüchtig und instabil ihre Allianz ist und selbst wenn sie mit der Zündung der Bomben genauso schnell wieder zersplittert.
Es ist 19H15. Zum ersten Mal ist die Zeiteinblendung im Bild nicht an eine Handlung gekoppelt. Alles steht still. Nach den Bewegungen durch das Gewirr des Verkehrsnetzes zeigt Nocturama erneut ein Panorama über die Stadt und hält inne. Einzelne Häuser sind im Dunkel der Dämmerung kaum noch zu erkennen, aber die Silhouette des Eiffelturms markiert wie ein Markenlogo die Stadt. Wie für das Foto auf der Webseite von Lonely Planet stand die Kamera auf der Aussichtsplattform des Tour Montparnasse, gebaut im Rahmen der umstrittenen Stadterneuerungsmaßnahme Maine-Montparnasse, für die ab 1957 große Teile des von Armut geprägten Montparnasse-Viertels abgerissen wurden; heute ist das Bürohochhaus vor allem für seine Aussichtsplattform mit „Blick über Paris, auf den Eiffelturm und alle historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt“ bekannt.
Als würde man den Blick schweifen lassen, nimmt die Kamera nun einzelne Sehenswürdigkeiten in den Blick: Auf das Panorama folgt ein Blick vom Tour Montparnasse über den Jardin du Luxembourg auf den Notre Dame, danach ein Riesenrad, das Centre Pompidou, und schließlich das französische Innenministerium, nun wieder von der Straße aus aufgenommen. Eine Bewegung runter vom Tour Montparnasse zurück in die Stadt. Einen kurzen Moment hält die Kamera vor dem Innenministerium inne, dann explodiert die erste Bombe. Die zweite lässt auf sich warten: Eine der Jugendlichen steht im Niemandsland zwischen Bürogebäuden und blickt auf einen Glasbaukomplex. Die Zeit verrinnt; die Kamera nimmt ihre aneinanderreihende Aufzählung wieder auf und schneidet kurz zur Statue von Jeanne D’Arc und vor den Palace Brongniart (der von Napoléon Bonaparte als Sitz der Pariser Börse in Auftrag gegeben wurde und heute den französischen Sitz der internationalen Börse Euronext beherbergt). An beiden Orten brennt es jetzt.
19H16: Die junge Frau blickt ungeduldig auf die Uhr. Wie im Showdown eines Westerns steht sie dem Glas-Tower gegenüber. Die drei Türme stehen stoisch da und erwidern ihren Blick, dann explodieren sie.
Mit der zweiten Explosion beginnt die Zeit zu zersplittern. Unterbrochen durch die Evakuierung des Luxuskaufhauses, in dem sich die Jugendlichen verstecken werden, wiederholt sich die Aufzählung in veränderter Reihenfolge erneut: Der Blick auf die Uhr, gefolgt vom Panorama über Paris, dem Riesenrad und dem Centre Pompidou. Zum Schluss mündet die zersplitterte Aufzählung in einen Splitscreen, der alle vier Explosionen gleichzeitig im räumlichen Nebeneinander auf der Bildfläche zeigt und sich in den viergeteilten Überwachungsaufnahmen aus dem Luxuskaufhaus fortsetzt. Ereignisse werden wiederholt gezeigt, Reihenfolgen verkehren sich oder breiten sich über die Bildfläche aus, als wäre eine Flüssigkeit ausgekippt. Die Zeit ist aus den Fugen. Sie zersplittert in kleine Stücke, in kleine Handlungen, in hedonistisches Feiern, eingekesselt in einem Luxuskaufhaus, in dem Ungewissheit und Angst steckt. Sprünge und Wiederholungen, vor und zurück, wie eine verbogene Schallplatte oder eine leicht zerkratzte CD.
Nach den Anschlägen treffen die Jugendlichen im Kaufhaus zusammen. Mit der Evakuation des Gebäudes verstummt das rege Durcheinander, der Ort bleibt wie ausgestorben zurück; die Rolltreppen halten an, das Licht geht aus. In der Dunkelheit findet die Kamera die Jugendlichen in ihren Verstecken wieder. Regungslos warten sie, bis eine Stimme die Stille durchbricht und Entwarnung gibt. Ein Mitglied der Gruppe hat das Sicherheitssystem unter seine Kontrolle gebracht. Für diese Nacht gehört das Luxuskaufhaus den Jugendlichen.
Der Plan scheint sich nahtlos fortzusetzen – erst der Heist, dann die Flucht ins Versteck. Trotzdem kommt es mit dem Wechsel in das Kaufhaus in der zweiten Hälfte des Films zu einem Bruch der Inszenierung. Während die Jugendlichen auf den Straßen von Paris trotz getrennter Wege durch eine gemeinsame Bewegung verbunden waren, verlieren sie sich nun in den weitläufigen Gängen des Kaufhauses. Bereits während der ersten Lagebesprechung sind alle Mitglieder in Großaufnahmen vereinzelt und auch danach finden sie nie wieder in einer gemeinsamen Einstellung zusammen. Auf die Zersplitterung der Zeit folgt eine zersplitterte Räumlichkeit.
Die räumliche Struktur des Kaufhauses erinnert an Fredric Jamesons Analyse postmoderner Architektur, die er 1984 exemplarisch anhand des Bonaventure Hotels in Los Angeles entwickelt hat. Wie dieses Gebäude zeichnet sich auch das Luxuskaufhaus durch eine rigorose Hermetik aus. Es hat keine Fenster und ist schalldicht gegen die Außenwelt abgesichert. Ein perfektes Versteck und eine sichere Falle. Schnell verbreitet sich ein Gefühl des Gefangenseins unter den Jugendlichen, treibt sie auseinander, auf Ausflüge durch die verworrenen Etagen. In seiner Abgeschlossenheit ist das Gebäude „darauf angelegt, als totaler Raum zu gelten, als eine in sich vollständige Welt, eine Art Miniaturstadt“.
Hier gibt es tatsächlich alles: einen Supermarkt mit Kaffee, Toastbrot, Wein oder Butterkeksen, eine voll ausgestattete Küche, Mode von Badeanzügen bis Hochzeitskleider, Armbanduhren, Ketten, Eyeliner, Lippenstift, Badewannen, Bademäntel, Betten, Fernseher, Soundanlagen, Spielkonsolen, Barbiepuppen, Strom und fließendes Wasser, Spielzeugwaffen, Feuerlöscher, ein Go-Kart. Alles wird ausprobiert, konsumiert, umfunktioniert. Doch bereits eine der ersten Erkundungstouren endet abrupt in einer Sackgasse, wenn einer der Jugendlichen, Yacine, nach wenigen Metern einer identisch gekleideten Schaufensterpuppe gegenübersteht. Die Verheißungen der grenzenlosen Einkaufswelten kollabieren schlagartig in endlose Wiederholungen. Selbst die Konfrontation mit dem künstlichen Doppelgänger wiederholt sich später im Film.
Für Jameson ist die vermeintliche Selbstgenügsamkeit dieser Architektur in zweifacher Hinsicht trügerisch. Erstens verdoppelt sie in ihren Innenräumen einfach die Strukturen der Außenwelt, anstatt eine echte Alternative zu entwerfen. Zweitens kappt sie alle Verbindungen zu ihrer Umgebung und lässt keine Aussicht auf Veränderung mehr zu. Die Jugendlichen befinden sich „Im Herzen von Paris“, wie es in den späteren Fernsehberichten heißen wird, und haben dennoch jeglichen Bezug zur Stadt und sogar ihren eigenen Taten verloren. Wie hypnotisiert starren sie auf die Videoübertragung der brennenden Anschlagsorte, ohne erkennbare Reaktionen.
Der totale Raum verhindert, sich in ihm zu verorten zu können. Die Kamera springt zwischen den Etagen von Person zu Person oder verliert sich mit ihnen in labyrinthisch verzweigten Gängen. Abteilungen scheinen zusammenhangslos aneinandergereiht. Produkte sind säuberlich sortiert, Farben und Formen heben sich klar voneinander ab und doch sieht im sterilen Licht der LED-Lampen alles gleich aus. Bis zum Schluss bleiben die räumlichen Verhältnisse im Ungewissen.
Die Unmöglichkeit, einen klaren Standpunkt einzunehmen, wird von Jameson auf „ein noch größeres Dilemma“ übertragen: „die Unfähigkeit unseres Bewußtseins (zur Zeit jedenfalls), das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind.“ Mehr als dreißig Jahre später scheint sich daran kaum etwas geändert zu haben. Die Gruppe in Nocturama zerfällt im zweiten Teil so schnell, wie sie sich im ersten formiert hatte. Die taktische Aneignung des Stadtraums schlägt um in orientierungsloses Herumirren, aus Anschlagszielen werden Zufluchtsorte, politische Aktion verkehrt sich in hedonistischen Konsum.
Und doch entzieht sich der Film dieser schematischen Gegenüberstellung. Denn die zersplitterten Räume eröffnen gerade in ihrer Zusammenhangslosigkeit unzählige Möglichkeiten, miteinander kombiniert zu werden. Im losen Nebeneinander abstrakter Formen, einfarbiger Wände und Spiegelflächen werden die Bilder selbst zu Splitscreens, kollagenartigen Oberflächen, auf denen sich immer neue Beziehungen herstellen lassen.
So beschreibt Bonello im Presseheft das Kaufhaus in ähnlichen Worten wie Jameson das Bonaventure Hotel, gelangt jedoch zu einer ambivalenteren Einschätzung des Ortes: „Ein Kaufhaus ist eine eigene Welt in der Welt. Eine Welt des Konsums, sicherlich, aber eine komplett autonome. Eine Welt der unendlichen Möglichkeiten, der Grenzüberschreitung und sei es nur für ein paar Stunden.“ Die Waren des Kaufhauses lösen sich für die Nacht aus ihrer materiellen Verwertungslogik, erlauben Spielräume für kreative Imagination. Wenn die Jugendlichen versuchen diese Freiheiten ausnutzen, dann schwanken ihre Handlungen zwischen banal und subversiv, erscheinen mal idealistisch, hedonistisch, verspielt oder ernsthaft.
Eine romantische Hochzeit wird genauso inszeniert wie Sexfantasien mit einer Schaufensterpuppe. Individueller Genuss trifft auf Solidarität, wenn ein Mitglied der Gruppe ein obdachloses Ehepaar in das Gebäude einlädt. In jedem Fall zeigt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Begehren, Wünsche, Ängste und Fantasien, die nicht einfach auf einen gemeinsamen Begriff gebracht werden können. Seinen Höhepunkt erreicht das Verkleidungsspiel in einer Karaoke-Performance von My Way: Frank Sinatras Hymne auf männliche Selbstbehauptung wird in der Version von Shirley Bassey gespielt, die von einer Frau statt einem Mann singt, und szenisch interpretiert von Yacine, mit Lippenstift und einer Perücke, die er sich im finalen Aufschwung der Musik mit großer Geste vom Kopf reißt. Abblende.
3H30. Die letzte Zeiteinblendung des Films. Es ist tiefste Nacht. Eine Katze schleicht in der Stille durch einen leeren Gang des Kaufhauses. Wenige Minuten später wird ein Sondereinsatzkommando auf demselben Weg lautlos in das Gebäude eindringen. Noch schlafen die Jugendlichen, oder streifen vereinzelt durch die Einkaufsläden. Nur Sabrina scheint den nahenden Tod zu ahnen. Ihr leerer Blick wird plötzlich vom brennenden Antlitz der Jeanne d’Arc-Statue erwidert. „On va tous mourir“ – „Wir werden alle sterben“ sagt sie wieder und wieder, das Gesicht in Schrecken erstarrt.
Ihre Erinnerung an die berühmte Märtyrerin erweist sich als Vision, wenn die nächste Einstellung das genauso fassungslose Gesicht eines anderen Jugendlichen zeigt. Er steht vor einer Wand aus Monitoren, deren Bilder alle die Außenseite des Kaufhauses zeigen. Noch beobachten die Fernsehkameras das Versteck aus sicherer Distanz, aber eine Folge langsamer Zooms auf die Jugendlichen nimmt den bevorstehenden Angriff bereits vorweg.
In der Außenperspektive erscheint das Kaufhaus nur als dunkle Fassade, eine Black Box, die von Medien und Regierung zum absoluten Feind erklärt wird. Anzahl und Identität der Terroristen seien unbekannt, heißt es in den Nachrichten, aber es handle sich um Staatsfeinde, daher sei eine Verhandlung nicht mehr notwendig. Die Vereinheitlichung der Gruppe ist hier sprichwörtlich Gewaltakt, sie legitimiert die unterschiedslose Tötung aller Personen im Gebäude. Sogar die beiden Obdachlosen werden später auf dieselbe kontrollierte Art mit einzelnen Schüssen exekutiert. Als sich die Neuigkeit allmählich unter den Jugendlichen verbreitet, zeigt eine Parallelmontage noch einmal ihre Heterogenität. David sucht mit Sarah nach einem Fluchtweg, André legt Sprengstoff in den Zugängen, Mika hat einen Alptraum, Omar tanzt zur apokalyptischen Ghetto-Paranoia von Chief Keef’s I Don’t Like und Yacine lässt sich ein Bad ein. Für die eindringende Spezialeinheit spielen diese Differenzen und Widersprüche keine Rolle mehr.
Als letztes Lied vor dem Angriff spielen die Jugendlichen Call Me von Blondie und Giorgio Moroder. Es ist der Titelsong von Paul Schraders American Gigolo, der wie kein anderer Film die Oberflächenästhetik der 80er-Jahre einleitete, in denen sich auch in den USA und Europa eine neoliberale Politik durchzusetzen begann. Unterbrochen von Aufnahmen der herannahenden Spezialeinheit drücken die Jugendlichen über die Dauer des Liedes das ambivalente Erbe dieser Zeit aus. In einem finalen Totentanz taumeln sie zwischen lustvollem Rollenspiel und Ekstase, Erschöpfung und Verzweiflung ihrem eigenen Untergang entgegen.
Andrey Arnold: Eine spannende Programmschiene des diesjährigen Festivals droht hier fast unterzugehen zwischen alle den großen (Wieder-)Entdeckungen, Retrospektiven und Meisterwerken: Jene zu den Filmen von Cécile Decugis. Carolin, du hast den ersten Teil der Werkschau entdeckt und Sebastian und mich darauf aufmerksam gemacht. Nun haben wir alle gemeinsam den zweiten gesehen. Könntest du kurz erzählen, wer Cécile Decugis ist und warum dich ihre Filme angesprochen haben?
Carolin Weidner: Ich kann nur ahnen, wer Cécile Decugis war, die, wie Sebastian eben herausgefunden hat, vergangenen Sommer verstorben ist. Die zwei Programme, insgesamt acht Filme, umfassen – zumindest habe ich das so verstanden – Decugis‘ komplettes filmisches Werk als Regisseurin. Man kennt sie für diese Filme nicht. Man kennt aber die Filme, die sie geschnitten hat. Viele für Éric Rohmer, aber auch für andere Protagonisten der Nouvelle Vague. Rohmer spürt man auch in ihren Kurzfilmen, vor allem denen aus den 80ern. Ich liebe diesen Ton ja. Könnte ich mir stundenlang ansehen. Andrey und Sebastian, ihr habt nun nur einen dieser „Repräsentanten“ geschaut: Edwige et l’amour. Habt ihr eine Idee, was mir so sehr an dieser Art Film gefallen könnte? Ich weiß es nämlich selbst nicht recht…
Sebastian Bobik: Von den Filmen, die wir im heutigen Programm gesehen haben, hat mir dieser am meisten gefallen. Er ist definitiv und erkennbar von Rohmer beeinflusst. Was ist daran so schön? Gute Frage… Ich kann nur sagen, was mich daran so erfreut hat. Einerseits war das natürlich die schnelle und sehr einfühlsame Art, Figuren zu zeichnen. Wir bekommen doch recht schnell eine Ahnung, wer diese Menschen im Film sind, obwohl wir ihnen nur bei einem Gespräch während des Abendessens zuhören. Ganz kurz gesagt fängt dieser Film mit einer Frau an, die einen Mann zum Abendessen in einem Restaurant trifft. Sie erzählt etwas von ihrem Leben, während er sie immer wieder mit Balzac-Zitaten bombardiert (ein Versuch sie zu beeindrucken). Auf jeden Fall gibt es diesen wunderbaren Moment, wo der Film das Gespräch verlässt und sich plötzlich kleinen Gesprächsfetzen an anderen Tischen widmet, oder einige Kellner bei ihrer Tätigkeit verfolgt, bevor er sich wieder der Protagonistin widmet und weitermacht. Diese leichtfüßige Freiheit – einfach mal andere Menschen beim Existieren einzufangen – hat etwas unglaublich Schönes und war definitiv ein Aspekt, der mich total begeistert hat.
AA: Ich habe noch zu wenige Filme von Rohmer gesehen, um den Vergleich kommentieren zu können. Und das ist vielleicht auch gut so, weil ich die Freude, die mir dieser kurze, unscheinbare, aber enorm reichhaltige Film bereitet hat, so nicht unter irgendwelche Scheffel stellen muss. Etwas, was Cécile Decugis selbst recht oft getan hat, wenn man dem Katalogtext und der Einführung unseres Screenings von Jackie Raynal und Bernard Eisenschitz glauben darf. Was ich an Edwige et l’amour mochte, ist die Mischung aus Leichtigkeit und Genauigkeit, Härte und Zärtlichkeit, mit der sie in sehr kurzer Zeit sehr viel erzählt, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Ein Telefonat. Ein Besuch in einem Restaurant. Ein Gespräch der Hauptfigur mit ihrem Freund. Das war’s – und trotzdem erfahre ich sehr viel daraus. Beispielsweise, das hat Sebastian schon angesprochen, wie Bildung als Imponierinstrument genutzt wird. Wobei sich das nicht nur in den Balzac-Referenzen von Edwiges Date erschöpft, sondern ausgeweitet wird auf andere Gäste des Lokals – etwa einen Mann, der eine Frau, die an einem anderen Tisch sitzt, mit einem Renoir-Gemälde vergleicht. Der Film führt ihn dadurch aber nicht bloß vor, weil wir die Frau auch zu sehen bekommen – und er irgendwie auch Recht hat. Und die Frauen scheinen dieses Imponiergehabe zu durchschauen, freuen sich aber auch irgendwie dran, was der Film nicht verurteilt. Nebenher ist auch noch Zeit, sich zu erfreuen an der irgendwie ulkigen, eifrig-eilfertigen Art, mit der die Kellner des Restaurants die Treppe auf- und ablaufen oder zeremoniös den Wein einschenken (erst dem Mann zum Vorkosten, versteht sich!), der in einem kleinen, preziösen Körbchen liegt. Das und noch mehr packt der Film, der sehr präzise geschnitten ist, mühe- und zwanglos in ein paar Minuten. Konnten wir dir als Männer jetzt zureichend erklären, warum dir der Film gefallen hat, Carolin?
CW: Den Beobachtungen kann ich mich zumindest anschließen und sie haben mich ebenso erfreut. Ich bedanke mich für eure Mühen!
SB: Ich glaube, wir könnten noch längere Zeit darüber reden, was für wunderbar subtile Kleinigkeiten in den Film verpackt sind und wie er (denke ich) die Perspektive einer Frau erfrischend treffend einfängt, eben, weil er von einer gemacht wurde. Trotzdem fände ich, wir würden den anderen Filmen im Programm unrecht tun, wenn wir sie hier ausklammern. Die restlichen Filme im zweiten Programm waren nicht fiktional, sondern bewegten sich zwischen Zeitdokument, Essayfilm und Dokumentarfilm. Ich würde recht gerne über Paris hiver 1986-1987 und La Grève de la battellerie, Paris, été 1985 reden. Beides sind Filme unter zehn Minuten, in denen Decugis ganz bestimmte Momente in Paris einfängt. Einerseits einen Winter, andererseits einen Streik. Es sind zwei recht unscheinbare Filme, im Programm wurden sie von weitaus längeren eingeklammert. Dennoch war ich überrascht, wie kurzweilig sie waren – und ich meine das auf eine gute Art und Weise. Schließlich könnte man doch meinen, dass Winteraufnahmen aus Paris, die nicht wirklich etwas erzählen und acht Minuten lang laufen, etwas langweilig sein könnten. Ich denke, in diesen Filmen beweist Decugis auch, wie wahnsinnig gut sie mit Montage umgehen kann. Es war auch faszinierend zu sehen, wie sie zum Beispiel Ton und Musik einsetzt. Beides sind Elemente, die sie in diesen Filmen sehr gezielt einsetzt. Im Film über den Pariser Winter setzt etwa erst nach einigen Minuten Musik ein. Sie dauert nicht sehr lange, untermalt aber einige Momente und macht sie dadurch besonders. Ebenso fängt sie in den letzten Szenen plötzlich einen kleinen Dialog ein. Ich fand solche Kleinigkeiten faszinierend…
AA: Konntest du mit dem zweiten Teil unseres Programms etwas anfangen, Carolin? Du wurdest ja quasi angefixt von Decugis‘ Alltags- und Beziehungsminiaturen, und mit denen hatten die Essayfilme nur sehr wenig zu tun. Oder doch?
CW: Erstmal noch zur Winterminiatur: Ich kann gar nicht fassen, dass der Film acht Minuten lang ist, er kam mir viel kürzer vor! Da bin ich durchgeflogen wie eine Schneeflocke. Details, die mir gefielen: wie die Statuen auf die verhüllten Pariser blicken. Was für schöne Frisuren einige tragen. Und welch massive Pelze! In dem Film habe ich gemerkt, wie viel Reichtum doch in dieser Stadt stecken muss. Ein guter Kontrast zum „Streikfilm“, der mir entwischt ist. Und in Sachen Länge: da erstaunt es mich genauso, dass die beiden letzten – zwei ziemliche Brocken, wenn ich da so sagen darf – jeweils nur zwanzig Minuten länger waren als der Schneefilm. Vielleicht war ich von den Abendessen im Restaurant davor aber auch noch gut gekräftigt. Die monatelange Abrissarbeit (Renault-Seguin la fin) und der sterbende Vater zum Schluss (René ou le roman de mon père), puh. Toll, doch. Aber jetzt muss ich doch wieder zurück an die Orte der Speise. Kommt ihr mit?
SB: Liebend gerne!
AA: Ich war gerade kurz davor, zuzustimmen, aber jetzt will ich doch noch ein paar Worte zum Abrissarbeitsfilm anmerken. Der war schon auch für mich anstrengend nach der relativen Leichtigkeit des ersten Films, aber schön fand ich ihn trotzdem. Was mir an ihm eingegangen ist: Dass Decugis hier die Demontage einer Renault-Fabrik dokumentiert, in deren Mauern sehr viel Arbeits- und Streik-Geschichte steckt, die mit ihr verschwinden wird, und diese Geschichte ist nur auf dem großteils sehr prosaischen Informationsfließband der Tonspur zu greifen, während das Bild in seiner Abstraktheit immer trauriger wird, je länger der Film geht: Die Abrisskräne und Bagger wirken, aus der Distanz betrachtet – und der Film blickt nur aus der Distanz, wie ein zufälliger Beobachter oder Anrainer (die Fabrik steht auf einer Insel, die nie betreten wird) – zunehmend wie mechanische Hirschkäfer oder Metallosaurier, die termitenartig ein organisches Gebäude aushöhlen und niederfressen. Es ist ein ganz spezifisches, eindringliches Bild, das hier in kurzer Zeit entsteht, die mir aber zugegebenermaßen auch etwas lang vorkam. Unabhängig davon tut es mir doch sehr leid, dass ich das erste Programm versäumt habe.
CW: Als die Metallosaurier ins Spiel kamen, konnte sich die Energie kurz auf mich übertragen. Wie sich diese fiesen, kleinen und gierigen Köpfe in diese nunmehr Schrottskelette verbeißen, da steh ich drauf. Könnte ich mir genauso als Loop anschauen. Mir fällt auf, dass ich immer wieder auf diese Kategorie stoße: ob ich mir etwas lange ansehen könnte. Weiß ich auch nicht, was ich davon halten soll. Im ersten Programm gab es derartige Situationen aber auch: in Italie aller retour beobachtet man zwei Menschen im Urlaub, wobei sich der Mann als ziemlich betrüblicher Klotz entpuppt. Das ist so eine schreckliche Situation zwischen den beiden, vielleicht erleichtert mich es, das auf der Leinwand zu sehen. Die misslichen, langweiligen, blöden Sachen, die dann letztlich doch alle gleichermaßen erfahren müssen. Zumindest hoffe ich das. Ein bisschen gemein von mir. Cécile Decugis jedenfalls ist eine interessante Person, ich finde es schade, dass sie doch so unbekannt scheint. Hier in Bologna waren auch kaum Leute im Kino, um sich ihre Sachen anzusehen. Ich habe auch von namhaften Anwesenden gehört, die das nicht ausgehalten haben, was ihnen da Wunderbares dargeboten wurde. So ist das. Ich verspreche jedenfalls, den zarten, aber auch spröden, politischen Ton von Decugis aus Bologna zu tragen, wohin, weiß ich aber noch nicht genau.
Als ich vor ungefähr zwei Jahren in Paris ankam, schien mir die Stadt wie ein riesiger Raum der Zufälle, der Gefahren und der komischen Begegnungen. Ich fühlte mich winzig klein zwischen den Hausmann‘schen Gebäuden, auf den schwingenden Straßen in den weniger üppigen Bezirken oder in den alten, staubbedeckten Gängen der Sorbonne. Die Bequemlichkeit, mit der die anderen sich die Stadt zu eigen machten, war mir ein Rätsel – und ist es noch immer. Wie der Mann des Mobs im Gedicht von Charles Baudelaire habe ich in Paris nichts als die unangenehme und zugleich lehrreiche Erfahrung der Durchsichtigkeit gemacht. Man wandert durch die Straßen und ist zugleich von der Stimmung der Straßen durchwandert. Hie und da ein rascher Blickaustausch, gleichgültig, verwundert, unheimlich. Auf den Straßen bin ich nie glücklich gewesen, auch nicht sonderlich verspannt, ich war einfach ein Gespenst. Ein Obdach hat dieses Gespenst in der Dunkelheit der Kinos gefunden.
Man hört oft, besonders in cinephilen Kreisen im Ausland, Paris sei die Stadt der Kinosäle, ja, wenn nicht sogar die Hauptstadt des Kinos schlechthin. Auf einer sachlichen Ebene lässt sich das heute noch bestätigen. Schon im berühmten „Quartier Latin“ stehen dem anspruchsvollen Filmsüchtigen unglaublich viele Säle zur Verfügung, von denen manche über die Jahre hinweg zu echten Institutionen geworden sind, wie zum Beispiel das Champollion oder die Filmothèque. Zudem besucht das Publikum diese Vorführungen auch eifrig. Angesichts dieser Faktenlage stellt sich mir aber ein neues Rätsel: Woran könnte diese Begeisterung für die Filmgeschichte liegen? Sind die Pariser, wie ein alter Spruch lautet, ein angeboren filmbegeistertes Volk? Mit einer solchen Ansicht kann ich, oder will ich mich nicht zufriedengeben. Es scheint mir da eine schlichtere, wenn auch vielleicht etwas plumpere Antwort zu geben.
Zunächst aber, eine Anekdote: In (fast) allen Vorführungen historischer Filme im Christine 21 – einem Kino, welches früher als „Action 21“ bekannt war, das kürzlich aber von Isabelle Huppert übernommen, und zu diesem Anlass umgetauft worden ist – in denen ich gewesen bin, war im Publikum eine Frau anwesend. Sie war etwa Mitte vierzig, dünn, blond, immer mit einem schüchternen Lächeln im Gesicht. Eher schlicht und alterslos bekleidet – ein Wollpulli, ein schwarzer Rock. Jedes Mal, ob an der Kasse oder gleich im Kinosaal, vor dem Beginn der Vorführung, würde sie sich fallen lassen, als wären ihr ihre Beine von einem bösen Geist weggezogen worden. Jedes Mal aber, wenn der Film begann, würde sie sich wieder zurechtfinden und sich von der Handlung bezaubern lassen, als wäre gar nichts geschehen. Aus meiner Sicht bietet diese Figur eine überzeugende Erklärung dessen, was die Liebe der Pariser fürs Kino ausmacht: Es ist ein Raum, der auf sie wie ein Schutzort wirkt. Ein Raum, der ihnen ermöglicht, die Wirklichkeit der Stadt für ein paar Stunden zu vergessen. Nicht das Elend der Welt an sich, sondern das Elend von Paris hört auf, seinen perversen Klang in die Ohren der Menschen zu treiben. Man stirbt auf dem Fußweg und erwacht nur ein paar Schritte weiter, um sich vor der Leinwand zu vergessen. In Paris war es eigentlich schon immer dieser Zustand des erwachten Einschlafens, welcher mich ins Kino getrieben hat. Ja, ab einem gewissen Punkt wurden mir die Filme zur Droge, weniger aufgrund ihres Wesens als Kunstwerk, sondern weil sie mir die erholsame Gelegenheit boten, mein gespenstisches Schicksal in Ruhe zu vervollkommnen.
Nach einem Jahr in der Stadt, nach Unterrichtsende und wenn die Sonne die kleine Wohnung zur Sauna macht, fällt es einem aus irgendeinem Grund schwieriger, den Kinosaal zu erreichen. Wegen der unerträglichen Hitze kriegt man nicht genügend Schlaf, und wenn man erwacht, ist die Stadt schon seit mehreren Minuten in Bewegung, brüllend, unhöflich, ärgerlich. Es wirkt sicherer, mit den verstreuten Büchern und den zerknüllten Kleidern in der Wohnung zu verbleiben, als die Wucht der Straßen ins Gesicht zu bekommen. Dann will man aber doch ins Kino, weil man feststellt, dass man dem einen Buch, das man gerade lesen wollte, nicht ausreichend Aufmerksamkeit schenken kann. Kaum hat man einen Fuß auf die Straße gesetzt, schon fängt das Hemd an, an der Haut zu kleben. Als man die Schritte beschleunigt, aus Angst, man würde sonst den Anfang des Filmes verpassen, merkt man, dass man vergessen hat, die Ärmel hochzukrempeln. Ein großer Fehler, denn spätestens wenn man aus der U-Bahn aussteigt, sind sie mit uneleganten Schweißspuren bedeckt. Und genau darauf legt man viel Wert, die wenigen Male, an denen man sich das belastende Vergnügen gönnt, in die Öffentlichkeit des Pariser Dschungels zu treten: man will – selbst für eine fünf Minuten lange Fahrt – elegant sein. Nicht bloß, um aus der Menge herauszustechen, sondern vielmehr weil das unduldsame Gesetz der französischen Hauptstadt einem keine andere Wahl lässt: Nur von den Selbstbewussten (oder den selbstbewusst Erscheinenden) lässt sich die Stadt ein wenig beherrschen.
Als ich die Treppe der U-Bahnstation Cardinal Lemoine zur Rue Monge hochgehe, fühle ich mich wie in einen ungewissen Zeitraum versetzt. Ich bin mir unsicher, ob ich mir wie ein Mann der Vergangenheit vorkomme, oder ob gerade umgekehrt die Stadt in ihrer Vergangenheit gefangen zu sein scheint. Es war der Schriftsteller Ulrich Peltzer, der mir vor ein paar Monaten nach einem Gespräch mit dem Soziologen Didier Eribon am Goethe Institut gesagt hatte, er empfinde Paris wie eine Art Dorf, welches sich nie wirklich modernisiert habe. Knapp zwanzig Jahre nach seinem ersten langen Aufenthalt in Paris, habe sich die Stadt wenig verändert. Aus meiner Erfahrung als Pariser Wanderer schließe ich mich diesem Gedanken an – ich würde aber sogar weiter gehen: Paris ist weniger die Hauptstadt Frankreichs als eine Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Eine solche Behauptung zu rechtfertigen ist nicht so einfach. Man muss es erleben. Es nimmt die Form eines unfassbaren Gefühls an, welches in der Luft schwebt, und unseren Weg in eine Richtung lenkt, die sich schnell als bedrohlich erweisen kann – der Spleen ist in dieser Hinsicht keine Erfindung von Baudelaire, sondern er hüllt die Physiognomie der Stadt von Grund auf ein, dringt ins Leben eines jeden Menschen ein, sei es der betrunkene Obdachlose, der seit Jahrzehnten neben der Treppe der Station Odéon übernachtet, die kühle Geschäftsfrau, die mit verschlossenem Gesicht in den Wagen einsteigt oder die junge Studentin, die mit 23 Jahren, wie eine 30-Jährige aussieht.
Glücklich mit Simone
Das „Grand Action“ befindet sich im fünften Arrondissement, genauer gesagt in der Rue des Ecoles, unweit vom Institut du Monde Arabe. Es ist ein vernünftig großes Kino mit zwei Sälen, das Neuigkeiten ebenso wie Klassiker zeigt. Heute, am Mittwoch, dem 20. Juni, um 14 Uhr, ist da unter anderem ein rarer Film zu sehen, nämlich Simone Barbès ou la Vertu (wörtlich übersetzt: „Simone Barbès oder die Tugend“) von der Regisseurin Marie-Claude Treilhou. Als ich den Saal betrete, drei Minuten vor 14 Uhr, ist er leer. Ein auf die hintere Wand gemalter Henri Langlois wirft einen bizarren Blick auf mich, ich erschrecke leicht. Langsam kommen weitere Zuschauer. Zuerst zwei alte Männer, dann eine alte Frau, die mich fragt, ob sie in den richtigen Saal gekommen ist, und letztlich ein anderer Mann, der in seinen Zwanzigern zu sein scheint. Besonders wenn man müde ist, stellt sich einem manchmal die Frage des Motivs: Warum hat man gerade dieses Filmes wegen sein Zuhause verlassen, wo man sich mit etwas vielleicht Befriedigenderem hätte beschäftigen können? Was Simone Barbès betrifft, hatte ich mich zwar zuvor erkundigt, worum es in diesem Film gehen sollte, welche Figuren vorkommen. Aber auf diese dummen Fragen gibt es keine Antworten. Es wird sie nie geben. Im Vorhinein zu versuchen die mögliche Botschaft des Werkes herauszufinden ist Blödsinn. Inzwischen habe ich alles vergessen, was ich gelesen habe, und warte jetzt voller Ungeduld darauf, dass der Film endlich anfängt, um zu wissen, warum ich ihn überhaupt habe sehen wollen.
Es beginnt mit elektronischer Musik, die irgendwie nach „Noir“ klingt. Die ersten Bilder sind statische Einstellungen der Stadt. Paris, Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger, schwer zu bestimmen. Dunkle, schmutzige Fassaden, Neon-Schriftzüge („Sex shop“) und Reklameschilder. Schwarze Wolken am Himmel. Morgengrauen oder einige Minuten vor Einbruch der Nacht. Es folgt eine leicht verwackelte Aufnahme: Das Leuchtschild eines Kinos, von unten gefilmt – aus wessen Standpunkt? Gleich darauf schwenkt die Kamera nach unten, einem Kunden folgend. Durch eine erste Glastür, durch eine zweite hindurch, und schon ist man am Handlungsort des ersten – des besten – Teils des Filmes angelangt: einem Porno-Kino, das von einer geschwätzigen, resoluten, aber auch lustigen kleinen Frau – etwa dreißig Jahre alt – geleitet wird. Sie vergewissert sich, dass die Kunden ihre Karten gekauft haben und führt sie in den richtigen Saal. Wie man im Lauf eines Dialogs erfährt, ist es schon spät in der Nacht. Die Hauptfigur – sie heißt Simone und wird von Ingrid Bourgoin gespielt – und ihre Kollegin Martine (Martine Simonet) verbringen ihre letzten Stunden Arbeit mit banalen Diskussionen, Würfelspielen und Langeweile, welche sie sich aber offensichtlich nicht anstrengen zu vertreiben. Dann verlässt Simone kurz das Kino, um zwei Gläser Rotwein aus einer Bar zu holen. Als sie zurückkommt, erzählt sie ihrer Freundin, sie habe dort eine an der Theke stehende Verrückte gesehen, die laut schreiend Unsinn von sich gegeben hat. „Was für eine Straße…“, erwidert Martine sanft lachend. Sie meint damit leicht abwertend „Was für eine durchgeknallte Straße“. Mit diesem Satz fesselt mich Simone Barbès, denn es ist das erste Mal, dass ich in einem Film so deutlich einen Gedanken ausgedrückt sehe, der mich selbst seit langem beschäftigt. Paris ist mir schon immer wie eine einzige Riesenstraße erschienen. Eine Straße, die einem den Atem raubt, eine Strecke, welcher man nur schwer folgen kann – kurz, eine verrückte Straße. Eine Straße, die mich verrückt macht. Das wird gegen Ende dieses ersten Teils des Films noch beeindruckender illustriert, in einer Szene, in der die Glastüren des Kinos zur Leinwand werden, und durch welche der Teil der Straße, die man sieht, zu einem Film wird. Plötzlich wird die Wirklichkeit der Straße zu einer melodramatischen Fiktion. Die Verrückte, von der vorhin die Rede war, rennt einem besoffenen Mann hinterher. Ruft ihm nach, dass sie ihn liebt. Schließlich fällt sie auf den nassen Fußweg, außer Atem. Gleich danach ist Simone zurück zum Geschäft. Die Verrückte hat ihr zwar eine unterhaltsame Pause geboten, nun muss sie aber weiterarbeiten. Ob sich gerade eine Ansteckung des Wahnsinns durch die gläserne Leinwand ereignet hat, bleibt offen. Das Interessante an dieser kleinen Szene ist eigentlich, dass sie paradoxerweise den einzigen Moment des Filmes darstellt, an dem etwas wie eine visuelle Idee des Kinos – hier also durch eine schlichte Leinwand – gestaltet wird. Denn an keiner anderen Stelle, trotz des ständigen Hin- und Hergehens der Kunden zwischen den Sälen, deren Ein- und Austretens, bekommt man außer ein paar Geräuschen der Soundtracks etwas von dem mit, womit sich die Zuschauer befassen. Vielleicht möchte Treilhou einfach den Schluss ziehen, dass die Einstellung der Stadt jeden möglichen Übergang von der rohen Wirklichkeit zur fiktiven Welt – und umgekehrt – verbietet, ja, dass eine Verschmelzung dieser beiden Universen, wie sie im Kino so oft vorkommt, eine Lüge wäre.
Die Filmemacherin inszeniert gleichwohl eine gewisse Durchdringung der Räume und der Zeiten, vor allem durch die Geräusche, die vom Saal oder von der Straße in die Kinohalle gelangen, nur bietet diese Durchdringung keinen Zugang zur versteckten Dimension des Realen, wie es in manchen Pariser Filmen von Jacques Rivette der Fall ist (vor allem in Céline et Julie vont en bateau und in Le Pont du Nord). Marie-Claude Treilhou zeigt vielmehr eine unangenehme, penetrante Überdeckung zwischen diesen Räumen. Und wie schwer diese Überdeckung die Privatsphäre der Figuren beschränkt. Wenn die Türe der verschiedenen Säle von den Kunden oder von Simone geöffnet werden, hört man laut den Ton der pornographischen Filme, manchmal auch noch nachdem die Türe wieder geschlossen worden sind – ohne, dass die Lautstärke abnimmt. Diese etwas unrealistische Entscheidung – in einem Film der ansonsten realistisch wirkt – ist wahrscheinlich erdacht, um darauf hinzuweisen, dass Simone stets wie auf einem schwankenden Boden steht, immer dazwischen und nie wirklich „in der Mitte“. Sie ist, so lebendig sie aussehen mag, auch ein Gespenst, welches von den Erwartungen, den Sorgen, den Siegen und den Niederlagen der anderen durchdrungen ist. Wie oben erläutert gönnt sich Simone in diesem ersten Teil des Filmes nur einen echten Moment der Einsamkeit, nämlich als sie durch die Glastüre hindurch die Verrückte beobachtet, und nur in diesem Moment deutet Treilhou darauf hin, dass Paris womöglich die einzige Stadt in der Welt ist, dessen Schicksal ist es, sich auf der Leinwand besser anzufühlen als in der Wirklichkeit. Dieser Rivette-Moment ist aber schon längst vorbei, als wir einen tieferen Blick ins Leben Simones bekommen – in den weniger überzeugenden letzten zwei Dritteln der Erzählung, von denen ich noch nicht weiß, was ich von ihnen halten soll. Simone Barbès ou la Vertu ist ein Film, der ausschließlich diejenigen zu trösten vermag, die sich schon bewusst sind, dass Paris auf der Leinwand keineswegs schöner – aber auch nicht hässlicher – ist, als in der Wirklichkeit. Ein Film, der also vielleicht in erster Linie denjenigen gewidmet ist, die die Stadt durch die Augen des Gespenstes ihrer selbst erleben.