Viennale 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

Vai e Vem

Das vom Moos überwucherte Haus von Percy Smith, in dem der britische Dokumentarist und Filmpionier sich mit Pflanzen und Tieren umgab, um Erziehungsfilme zu realisieren, um zu forschen, allein mit seiner Leidenschaft zu arbeiten, ist nicht nur die Grundlage für die musikalischen Abstraktionen des schönen Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith von Stuart A. Staples, sondern auch ein Bild für das Haus von Hans Hurch, die Viennale, die möglicherweise abrissbereit, möglicherweise renovierungsbedürftig, als Denkmal, als pure Gegenwärtigkeit oder als Erinnerung in Wien zur Begehung einer trauernden, ignoranten oder in die Zukunft blickenden Gemeinde aufgesucht wurde. Es war wie erwartet schwer, die Härte und gefährlich weit ins politisch Manipulative sowie unterdrückend Dominante reichende Präsenz des verstorbenen Festivaldirektors mit der Zärtlichkeit, Liebe fürs Kino und Traurigkeit zu verbinden, die sein Fehlen im Kino auslösen muss. Denn diese verschiedene Stränge eines Widerstands im Festivalbetrieb vereinte Herr Hurch wie kein Zweiter.

Die Viennale 2017, ein Haus aus Moos. Manche brachte Geschenke, die sanft von Trennungen erzählten (Vai-e-Vem, The Big Sky), andere zeigten, wo Herr Hurch ihnen die Augen öffnete und andere fragten sich, ob Festivals wirklich einen Geist besitzen, ob in ihnen das Leben eines Kurators fortbesteht oder ob das eine romantische Idee ist, die von den Realitäten der Kinomaschine und der fortschreitenden Zeit hinweggespült wird. Man muss nur auf die Cahiers du Cinéma heute blicken, um nicht an diese Geister zu glauben. Die diesjährige Viennale war wie eine langgezogene Kurve um einen Friedhof herum. Man hat viel Zeit, in andere Richtungen zu blicken, aber man spürt jederzeit eine Gravitation, die auch ein Versprechen sein könnte, aber vor allem eine Frage: Was jetzt? Eine der wichtigsten Prinzipien der filmkuratorischen Arbeit in Wien ist immer schon die persönliche Handschrift des Kurators. Das diesjährige Festival war wie ein Manifest dafür, weil sie sich unrealisiert realisieren musste, weil niemand mehr den Stift halten konnte, mit dem geschrieben wurde. Im Kino jedoch verschwindet alles hinter der Gegenwärtigkeit der Filme. Und diese gilt es zu würdigen, wenn sie es verdient haben. Dann gibt es Geister.

Texte:
Barbara von Mathieu Amalric
La nuit où j'ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel
Western von Valeska Grisebach
On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo
Farpões, Baldios von Marta Mateus
Țara moartă von Radu Jude
A fábrica de nada von Pedro Pinho
Abschied von den Eltern von Astrid Johanna Ofner
Nothingwood von Sonia Kronlund
Becoming Cary Grant von Mark Kidel
Ex Libris: New York Public Library von Frederick Wiseman

Rainer Kienböck

Antigone

Jeweils in alphabetischer Reihenfolge.

Favoriten

von Johann Lurf (Rainers Text)

12 Jours von Raymond Depardon

Antigone von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet

Barbara von Mathieu Amalric

Cosmic Ray von Bruce Conner

Dillinger è morto von Marco Ferreri

Ex Libris von Frederick Wiseman

Urgences von Raymond Depardon

Vai-e-vem von João César Monteiro

Filmliebe

A Movie von Bruce Conner

Beregis‘ avtomobilja von Ėl’dar Rjazanov

Farpões Baldios von Marta Mateus

Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont (Rainers Text)

Karnaval’naja noč‘ von Ėl’dar Rjazanov

L’Amant d’un jour von Philippe Garrel

La nuit où j’ai nagé von Damien Manivel und Kohei Igarashi

Licht von Barbara Albert (Rainers Text)

Mongoloid von Bruce Conner

Phantom Ride Phantom von Siegfried A. Fruhauf

Šestaja čast‘ mira von Dziga Vertov

Ta peau si lisse von Denis Côté (Rainers Text)

Țara moartă von Radu Jude

The Big Sky von Howard Hawks

Geu-hu von Hong Sang-soo

Vremja, vpered von Michail Švejcer und Sof’ja Mil’kina

Weitere Texte
L'Atelier von Laurent Cantet
Golden Exits von Alex Ross Perry

Andrey Arnold

1

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3

4

Einige Texte

Zur Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum
Interview mit Barbara Albert
Good Time von Ben und Josh Safdie
Zum Besuch von Christoph Waltz

Ivana Miloš

der

San ClementeUrgences12 Jours (Raymond Depardon)
Watching people light up in hidden places, remembering them though we’ve never met, moving through corridors step by lagging step, seeing the sky in the courtyard, only in the courtyard.

The Big Sky (Howard Hawks)
What a great big sky it in this dancer on the landscape, as the band of not-quite-brigands turned frontiersmen picks their way across branches and logs, over riverbends and fires, strung and tied together like a whiff of true companionship.

The Day After (Hong Sang-soo)
And then they fell apart, companions and lack thereof, with embarrassment worn on their sleeves, all the embarrassment of attempting, not knowing, lacking, sorely lacking the path to an embrace.

L’Amant d’un jour (Philippe Garrel)
Yes, there might have been a touch, but it was pushed against the wall and faded away, unfurled and faint, barely visible in the night walks on Parisian streets. But the lingering aftertaste of violets and freckles chases the screen away.

Ex Libris (Frederick Wiseman)
If we could look behind the scenes, we would surely land on the planet of dream libraries, its stages deployed like paintings of a utopian project, its petals open in the flattering light of the human ambition to know, together.

Quei loro incontri (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet)
Unrooting, uncovering, unveiling, letting speak, finding a voice, finding the voice buried under moss, lychen and the green streams littered on the shores, sitting on a rock with all of sunlight on your face, opening shadows.

La nuit où j’ai nagé (Damien Manivel, Kohei Igarashi)
A wanderer with a face full of the clarity of white, all white, a lost mitten and shoulders deep in snow, a quest to deliver dream messages to those we meet among sea creatures of the deep, a mountain to cross in silence.

Barbara (Mathieu Amalric)
Sea of music carrying away, bringing into existence, awash with life and the currents of grief, all stirred into fireworks, a myriad of colors and a blister of a smile. Oh, how beautiful it is to dive in!

 

Valerie Dirk

Grace Jones

2 Fragen:

Kann man Bruno Dumonts Jeannette auch politisch lesen?

Herausgefordert wurde diese Lesart durch die penetranten Wiederholungen in den Gesängen der französischen Nationalheldin: Frankreich, Glaube, Christentum, Judentum, Kampf. Die Bewegungen dazu bestanden (unter anderen) aus exzessivem Headbangen. Das Peitschen von Frauenhaaren auf Sand. Welch Metapher, gerade jetzt.
Auf meine Frage, ob der Film, abseits der innovativen ästhetischen und formalen Spielereien, auch ein politischer Kommentar sei, reagierte Dumont ausweichend. Alles sei ambivalent: Péguy, la France, Jeanne, la foi.
Und doch, trotz ihrer ungelenken Direktheit, trotz der Gefahr, alles andere unterzuordnen, scheint mir die Frage relevant, auch wenn ich sie immer mit einer gewissen Beschämung stelle.

Is Grace Jones human, and if so, why?

Bloodlight and Bami von Sophie Fiennes arbeitet dualistisch. Zum einen sieht man perfekt inszenierte Bühnenauftritte der Musikerin, während welchen sie aliengleich und dominant das Scheinwerferlicht beherrscht; zum anderen sucht eine verwaschene Digitalkamera-Ästhetik danach, Graces Menschlichkeit zu dokumentieren: auf Jamaika im Kreise der Familie, kehlig lachend, fluchend, sich sorgend, essend (Meeresfrüchte), trinkend (Wein), badend. An einem neuem Album arbeitend. Sich schminkend, sich selbst analysierend: I’m human.

Viktor Sommerfeld

La Telenovela Errante

La Telenovela Errante von Raul Ruiz – Die Soap als Bildgefängnis

Ein Film bleibt noch lange nach meiner kurzen Viennale. Neben vielem erwartbar Guten war La Telenovela Errante von Raúl Ruiz der unerwartete Fund meiner vier vollen Tage. Zurück in Berlin, als ich Freunden Bericht erstatte, erwische ich mich immer wieder bei dem Versuch diese fremdartigen Fragmente eines unfertig gebliebenen Filmes zu beschreiben. Erst hier lese ich Wikipedia über Ruiz und werde direkt belohnt mit Ruiz über Ruiz: „Der Barock … ist eine Art zu sparen und keine Ausgabe. Man darf Barock und Rokoko nicht vermengen, sondern muss Ersteren mit einem Restaurant zur Mittagszeit vergleichen: es gibt sehr wenig Platz, man versucht so viele Leute wie möglich unterzubringen, um die größtmögliche Anzahl an Kunden zu haben.“ Diese eigenwillige und gewiss enigmatische Definition seines Barocks erhellt sich in La Telenovela Errante, welcher den Kitsch der südamerikanischen Soapbilder in mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden schonungslos auswalzt und zeigt, wie die Bilder des zwischenmenschlichen Pathos, der schmalzigen Romanze und der raunenden Dramatik selbst aktiv werden, um die Menschen noch in den alltäglichsten Situationen zu überwältigen. Die Telenovela, das ist das Bildgefängnis, aus dem es für die sozialen Formen kein Entrinnen gibt. Bei der Suche nach einer Straße namens ‚La Concepción‘ in der gleichnamigen Episode treffen drei Männer an einer Kreuzung aufeinander. Während eines endlos kreisenden Dialog verlieren sie sich immer tiefer in den symbolischen Abgründen des Wortes ‚Concepción‘. Ausgehend von der Freundin des einen Mannes, die zufälligerweise wie die Straße heißt, tun sich immer neue Bedeutungen auf. Es gibt keinen Ausweg aus dem Netz der Verweise, in schleichender Hysterie steigert man sich immer weiter hinein in dieses wichtigste aller Gespräche, schon bald scheint Alles in diesem einen Wort bedeutet. Ruiz‘ muss keinen Widerspruch von außen einführen um die Absurdität dieser Szene zu zeigen. Er lädt einfach immer weiter generös Bedeutungen ein, gibt allen Möglichkeiten einen Tisch, bis der Laden implodiert und als leere Hülle vor uns steht. Der Barock wird hier zu klarsten Form, die sehr präzise auf die Strukturen zeigt, in denen Bilder unsere Lebenswelt gestalten. Und dafür muss man nie eine chilenische Telenovela gesehen haben.

Weiterer Text
I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Viennale 2017: Barbara von Mathieu Amalric

Für alle, die sich mit Mathieu Amalrics neuestem Film auf die Suche nach der französischen Sängerin Barbara machen, sei bemerkt: Man findet weniger ihre Geschichte, weniger ihre körperliche Präsenz als die Vibrationen zwischen Erleichterung und tiefer Traurigkeit, die ihre Musik im Herzen auslösen. Es scheint, dass das heutige Kino vor allem bei Musikern einen freieren Zugang zu Biopics erlaubt. Das zeigten bereits Todd Haynes in seinem I’m Not There und Joann Sfar in seinem unterschätzen Gainsbourg (Vie héroïque). Sfar ist mit Sicherheit ein Referenzpunkt für Amalric, der diesen 2010 für eine Kurzdokumentation (Joann Sfar (dessins)) beim Zeichnen beobachtete. In mancher Hinsicht beobachtet er auch Barbara, das heißt die Darstellerin Brigitte, das heißt Jeanne Balibar beim Zeichnen. Es sind die Sketche einer Annäherung, die ein feuriges Bild ergeben, eines, in dem man tauchen kann. Dabei bleibt nach dem Film vor allem die Wirkung der Musik.

Barbara Amalric

Erzählt wird eigentlich von der Komplexität eines Lebens und den außergewöhnlichen Blüten wie dem tristen Versagen von Liebe. Liebe nicht als romantische Geschichte zwischen zwei Menschen, sondern als Einstellung zur Musik, zum Leben. Es geht um einen Film über Barbara, der in Barbara gedreht wird. Amalric spielt selbst den Filmemacher, eine Rolle, in der wir ihn nur zu gerne sehen, auch wenn er sie dieses Mal auf den verliebt Staunenden reduziert, einen Mann im Bann einer Sängerin, einer Schauspielerin. Immer wieder starrt er mit offenem Mund auf diese Frau und schließlich drängt es ihn selbst vor die Kamera. Stürmend hetzt er los: „Filmt mich! Filmt mich!“, schreit er. Als er gefragt wird, ob er einen Film über Barbara mache oder über sich selbst, entgegnet er: „Das ist dasselbe.“ Die Schauspielerin ist zugleich Brigitte, ein etwas exzentrischer Star mit vielen Assistenten als auch Balibar, die nach Ne Change Rien wieder einmal vor der Kamera an ihrer Perfomance arbeitet. Der Film gibt hier und da vor, von der Arbeit zu handeln, letztlich aber hat er dafür keine Zeit. Er zeigt vielmehr unterschiedliche Möglichkeiten einer Annäherung an Barbara, jene vor allem in Frankreich berühmte Sängerin, die mit bürgerlichen Namen Monique Andrée Serf hieß und die Geschichte von Fragilität in der französischen Populärluktur fortschrieb. Sie treibt durchs Bild wie der Wind, manchmal kurz vor dem Zusammenbruch, manchmal mit ungeheurer Kraft im hektischen oder hypnotischen Rederausch, immer exzentrisch, fordernd und mit voller Leidenschaft für ihre Musik oder im Fall von Brigitte für das Schauspiel. Amalric lädt dazu ein, sich nicht über die Hintergründe eines Lebens zu informieren, sondern in der Musik zu bleiben oder wie er selbst sagt: Im Mythos. Derart virtuos wechselt Amalric zwischen den Ebenen des Film-im-Films, der Arbeit an diesem Film-im-Film und dokumentarischen Material, das man manchmal weder weiß, wen man gerade sieht noch wer gerade singt. So taucht zum Beispiel immer wieder Barbara-Biograf Jacques Tournier im Bild auf. Seine Präsenz wird jedoch einfach in die Fiktion verwoben. Es ist ein Verkleidungsspektakel nicht nur im Kostüm, sondern vor allem auch der Kamera und des Blicks auf eine Frau. Eine Einstellung, in der Amalric vor einer Fotowand sitzt, zeigt bereits, dass dieses Vorgehen als ein überfordertes Schwimmen in einer Bilderflut zu verstehen ist. Es gibt viele Barbaras, viele Wege, sie zu sehen.

Balibar, die selbst als Sängerin arbeitet und zwei herausragende Alben („Paramour“ und „Slalom Dame“) veröffentlichte, ist schlicht und immer ergreifend eine der großen Schauspielerinnen unserer Zeit. Von Zeit zu Zeit scheint sie förmlich in Barbara oder Brigitte oder was auch immer zu verschwinden. Der Film zeigt ihre Verwandlung, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Hier gibt es keine Zeitsprünge, keine Schnitte, die à la Méliès Zaubertricks ermöglichen, sondern eine körperliche Transformationen, die einem Wunder gleicht. Nur hat man gar keine Zeit, diese zu verarbeiten und sie als solche zu sehen. Einmal beobachten wir Balibar/Brigitte wie sie Gesten von Barbara studiert. Sekunden später ist sie diese Geste. Wenn plötzlich die echte Barbara zu sehen ist, glaubt man für eine Sekunde: Das ist doch Balibar. Wie Amalric hängt ihre Karriere eng an den Filmen von Arnaud Desplechin, mehr noch waren die beiden ein Paar und insbesondere in Frankreich wurde der Film auch als dieses Wiedersehen betrachtet. Diese zusätzliche Ebene erinnert etwas an Opening Night von John Cassavetes. Man hat einen Film, einen Film-im-Film und das Leben hinter dem Film. Die Nähe zu Cassavetes, der ja ebenfalls als Schauspieler und Regisseur arbeitete, war auch schon in Amalrics Tournée sichtbar, ein Film, der an The Killing of a Chinese Bookie erinnert. Bei beiden Filmemachern. geht es immer wieder um die Versuche einer Lust am Leben, eines Überlebens für die Freude.

Barbara ist ein äußerst verspielter Film. Immer wieder bemerken wir erst am Ende einer Szene, das es sich eigentlich um eine gefilmte Szene handelt, das Décors fällt wiederholt vor unseren Augen zusammen oder entblößt sich als solches. Amalric findet auf den ersten Blick wenig Neues in diesen Überlappungen, was er jedoch findet, ist eine immense Lust daran. Barbara erinnert daran, dass das Kino lebendig sein kann. Übrigens basiert der Film auf einer Idee von Pierre Léon, der auch öfter mit Balibar arbeitete. Allgemein hat sich dort um Filmemacher wie Desplechin, Bertrand Bonello, Amalric, Léon oder Antoine Barraud eine interessante Formation etabliert. Ihr Jean-Pierre Léaud heißt Jeanne Balibar. Barbara ist ein weiterer Schritt für Amalric, der ihn trotz oder gerade wegen seines relativen Stardaseins als äußerst freien Filmemacher etabliert.

Viennale 2017: La Nuit où j’ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel

Jacques Rivette stellte einmal die Behauptung auf, dass viele gute Filme mit einer Abwesenheit beginnen. Kohei Igarashi und Damien Manivels La Nuit où j’ai nagé ist ein solcher Film. Der Abwesende ist ein Vater. Er kommt spät in der Nacht nach Hause, nachdenklich rauchend im Halbdunkel, in einer der vielen an Ozu erinnernden Einstellungen des Films, und früh am nächsten Morgen bricht er wieder auf zu seiner Arbeit an einem Fischmarkt. Es ist eine stille Abwesenheit, weil sie wie alles im Film ohne die Kraft von Worten auskommt. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn (weniger gespielt als gewesen von Takara Kogawa) sehen ihn (zumindest scheint es so) kaum. Das und die damit verbundenen Gefühle wie die Einsamkeit und Freiheit des Kindseins ist der erste Ausgangspunkt des Films. Der zweite ist die Landschaft der Aomori Präfektur im Norden der südlichen Insel Japans. Eine Region, die für ihre lang anhaltenden Schneefallperioden bekannt ist. Aus diesen beiden Voraussetzungen schaffen die beiden Filmemacher, die sich über die Liebe zum Kino und den Respekt ihrer jeweiligen Arbeit fanden, das Bild einer Reise, die traumwandlerisch und ernüchternd zugleich wirkt.

La nuit ou j'ai nagé
Igarashi und Manivel folgen dem Jungen nach einer schlaflosen Nacht in einen Tag, an dem er auf dem schneebedeckten Weg zur Schule einen anderen Weg einschlägt und sich auf die Suche nach dem Fischmarkt seines Vaters macht, um ihm eine Zeichnung zu bringen, die er in der Nacht angefertigt hat. Dabei folgt La Nuit où j’ai nagé dem Kindsein in Gefühlen und Bewegungen. Wenn Takara eine Orange isst, ist das ein kleines Ereignis und wenn er über die Straße laufen will, dann ist das eine große Sache. Er scheint alles machen zu können, aber für nichts wirklich bereit zu sein. Die Kamera ist nah an der unbedarften und doch etwas verlorenen Verspieltheit des jungen Darstellers, begleitet ihn in seiner körperlichen Überforderung genauso wie in den Momenten staunender Begeisterung. Wie Abbas Kiarostamis Where Is the Friend’s Home? oder Hou Hsiao-hsiens A Summer at Grandpa’s gibt es im Film ein interessantes Wechselverhältnis zwischen dem Blick des Kindes und dem, der Erwachsenen, die einen Film über ihn machen. Man achte beispielsweise auf die Art und Weise, in der Igarashi und Manivel den Vater filmen. Zwar sieht ihn der Sohn nicht, aber dennoch könnten die etwas unwirklichen Silhouettenbilder auch den Augen oder der Fantasie des Jungen entsprechen. Der Film lässt ein Sehen zu, das durchgehend von dem eines Kindes inspiriert ist. Entfernungen wirken weiter, die Welt wirkt größer, aber auch näher, Begegnungen wirken relevanter und alltägliche Handlungen spektakulärer. Die Stille des dialoglosen Films ist nie erdrückend, sondern immer wie das leere Blatt Papier einer entstehenden Neugier oder aufgelösten Sehnsucht auf der Suche nach dem Vater. Es ist eine gleichzeitig zielgerichtete und verlorene Liebe des Jungen, dessen Ausdruck von Zärtlichkeit, wie ein zu leiser Schrei in den Bergen, vom Schnee verschluckt werden könnte. Dabei läuft der Film bei aller Simplizität hier und da Gefahr etwas zu sehr in seine Strategie der kleinen Wunder verliebt zu sein. Einen wirklichen Kleinkunstcharakter bekommt das ganze jedoch niemals, weil es dazu um zu viel geht, zu viel, was unter der Oberfläche schlummert, zu viel, was abwesend ist.

Für Manivel ist der Film ein konsequenter Schritt. Nach seinen großartigen Un jeune poète und Le parc scheinen seine Protagonisten rückwärts zu altern. Immer geht es um das Begehren eines jeweiligen Alters. Der junge Möchtegern-Poet, die verliebte Teenagerin und nun der Junge, der seinem Vater eine Zeichnung bringen will. Es wäre leicht, darauf herabzublicken, aber Manivel evoziert stattdessen den Geist vergessener Gefühle. In allen Fällen lässt er seinen jungen Protagonisten Freiheiten, die diesen Blick auf Jugendliche oder Kinder nie konstruiert wirken lässt. Stattdessen scheint viele im Augenblick zu geschehen und manche Idee aus der Fantasie von Takara zu stammen. Dadurch ergibt sich in den stärksten Augenblicken ein Bild absurder Unschuld, etwa als der Junge beim Orangenessen einen Handschuh verliert oder in der Art und Weise, in der er seinen Schulranzen schließt und trägt. Letztere Handlung ist so gelungen, dass man getrost behaupten kann, dass Michael Ceras bis dato unerreichte Technik des Schulranzentragens in Superbad schauspielerische Konkurrenz bekommen hat. Inwiefern sich der Film in Igarashis Filmografie eingliedern lässt, kann ich nicht beurteilen, da ich seinen Hold Your Breath Like a Lover nicht sehen konnte. Es ist jedenfalls eine gleichberechtigte Zusammenarbeit, wenn man den Aussagen der Filmemacher folgt.

Vieles im Film dreht sich auch um die schneebedeckte Landschaft. Sie drückt sich beständig in die Bilder, ist eine eigenständige Präsenz, die immer auf die Handlungen Einfluss nimmt. Die Landschaft erzählt auch von einer anderen Abwesenheit, nämlich jener des Frühlings, der nur im wiederkehrenden Vivaldi-Motiv im Film steckt. Aomori heißt übersetzt der blaue oder grüne Wald. Diese Farben finden wir nur auf der bunten Jacke des durch den Schnee stapfenden Jungen. Der Film beginnt mit einem stillen Bild durch das Schwarz gleitender Schneeflocken, es wirkt friedlich, aber bei genauerer Betrachtung bringt der Schnee nicht viele Vorteile mit sich. Es geht den beiden Filmemachern aber niemals um irgendeine Form von Bewertung. Vielmehr sind sie an einem Ist-Zustand interessiert. Dafür spricht, dass sie auch mit den tatsächlichen Eltern des Jungen arbeiteten. Nicht, was es bedeutet so oder so zu leben ist interessant, sondern wie es aussieht, wenn man so lebt und im Fall von Takara eben träumt. In diesem Ist-Zustand dringt das Kino dann in die Abwesenheiten und macht sie in einer berührenden Stille greifbar.