Dinge mit Sinnen in den Filmen von Jacques Tati

Ein Fahrrad allein in Jour de fête

von Ivana Miloš

Die Menschen auf ihren Fahrrädern, weshalb erscheinen sie so rätselhaft? Die Fahrräder, was macht sie so faszinierend im Vergleich zu anderen Transportmitteln, die nicht derart geliebt werden? Vielleicht hat es mit ihrer fortlaufenden Bewegung zu tun, dem unbeirrbaren Drehen dieser beiden Räder – schnell genug, um uns weiter und vorwärts zu bringen und doch gerade langsam genug, um gesehen zu werden bei ihrem Drehen, Drehen, Drehen. Oder hängt es mit dem am Rad klebenden Freiheitsgefühl zusammen, einem Gefühl für Bewegung jenseits der Verbote, des Verkehrs, der Straße, jenseits von allem eigentlich. Oder es geht um diese Frage, die manche Objekte ganz besonders aufwerfen: Lebt es ein eigenes Leben, wenn wir nicht hinschauen? Was auch immer stimmen mag, das Fahrrad ist erfüllt von Magie. Deshalb sollte es kaum überraschen, dass es in der Lage ist, ganz von sich alleine zu fliehen wie in Jacques Tatis wundervollem Jour de fête. Zunächst scheint sich das Fahrrad des Briefträgers, also Tatis, mit einem fahrenden Lastwagen zu verkeilen und so in Bewegung versetzt zu werden – aber dann, nach einer scharfen Kurve, haut es ab mit drehenden Pedalen, eine Landstraße hinab, ganz allein. Einige Ziegen werfen diesem rasenden Rahmen auf zwei Rädern einen fragenden Blick zu. Tati versucht es einzuholen, aber es würde ihm nie gelingen, würde das Fahrrad nicht entscheiden anzuhalten, erneut ganz von sich allein. Selbstredend markiert diese Szene nur einen Beginn von Tatis lebenslanger Faszination für Dinge, die den Menschen entwischen. Dinge, die ihre Fesseln lösen, die ihr eigenes, oftmals haarsträubendes und lächerliches Leben führen. Nur ist das Leben der Dinge auf ewig mit dem ihrer Hersteller verbunden und so kann man nicht anders, als sich beim Beobachten dieses elegant fliehenden Fahrrades an Elizabeth Wests berühmten Spruch zu erinnern: „Der Fortschritt hätte haltmachen sollen, als der Mensch das Fahrrad erfunden hatte.

Aus dem Englischen von Patrick Holzapfel

Knautschmaterialien in Playtime

von Patrick Holzapfel

Kein Material ist geeigneter für einen, der sich über die Welt wundert, als das Knautschmaterial. Was soll das sein, werden manche fragen und ich kann hier nicht mit wissenschaftlichen Antworten dienen, werde aber dennoch versuchen, etwas über diese Stoffe zu verstehen , die man zerdrücken, quetschen, eindullen, kneten oder knautschen kann und die sich dann, sobald man von ihnen ablässt, einem für mich schwer nachvollziehbaren inneren Drängen nachgebend, langsam, mit der unbeirrbaren Bestimmtheit physikalischer Bewegungen zurück in ihre ursprüngliche Form begeben.

Ich erinnere beispielsweise die unendliche Faszination, die mich als Kleinkind überfiel, wenn ich diese perfekt runden, so offensichtlich eindrückbaren Membranen in den Lautsprecherboxen meines, seine Boxen über alles liebenden, Vaters erblickte. Nichts sehnlicher wollte ich, als mit meinen kleinen Fingern in diese weichen, glatten Membranen zu drücken, die sich bewegende Luft unter der samtenen Oberfläche zu spüren, geradezu einzudringen, in die mir unbekannte Welt hinter dem matten Schwarz, aus dem die aufregenden Töne kamen, um dann zu beobachten, wie diese Stoffe zurück in ihre perfekt runden Formen ploppen. Leider stellte sich das Ploppen nicht immer ein und so wurde mir, der ich die ein oder andere Membran zu tief eindrückte, verboten, auch nur noch in die Nähe dieses Knautschmaterials zu krabbeln. Gut, dass es für derlei bisweilen vergessene Freuden einen Filmemacher gibt, der sich weiter gewundert hat, dem es gelang, der Welt noch so zu begegnen, als würde er nicht alles begreifen oder begreifen wollen, sondern so, als wäre er ein Fremder oder tatsächlich ein Kind geblieben. Einer, der etwas Knautschendes aufspürt und dessen Bewegungen dann folgt wie die Katze einer Fliege.

In Playtime verbindet dieser Jacques Tati, von dem hier die Rede ist, die Verwunderung, die manchmal einer Verzauberung, manchmal einem Albtraum gleicht, mit der sogenannten technischen Moderne. Er treibt die Entfremdung des Menschen von den Dingen, die ihn umgeben, auf die Spitze. Da gibt es zum Beispiel einige High-Tech-Sessel in einem Glaszimmer. Tati oder sein Alter Ego traut diesen kleinen Designerobjekten nicht wirklich. Er tastet das, unter Druck nachgebende, Material ab, bevor er sich äußerst zögerlich auf einen der Stühle setzt und sofort bemerkt, dass er tiefer im Sitz einsinkt, als er erwartet hatte. Er steht wieder auf und betrachtet die Spur seines Sitzens, einen runden Abdruck im verformten Sessel, der sich mit einem plötzlichen Ploppen zurück in seine geglättete Form begibt. Tati versucht sich noch an einem anderen Stuhl. Er zerdrückt die Lehne, setzt sich, steht auf und schaut wie das Material zurück in die ursprüngliche Form springt, nur ganz ploppfrei diesmal, ganz still, was der Albernheit dieser Bewegung erst die komische und kosmische Leere überträgt. Die Stille dieses Raumes im Vergleich zur lärmenden Straße, von der aus Tati in Zwischenschnitten in Ton und Bild immer wieder auf diese Interaktion mit den Sesseln blickt, verstärkt diese herrlich sinnlose Bewegung des Knautschmaterials, die letztlich, wenn man für solche Gedanken empfänglich ist, hinterfragt, was wir da eigentlich tun, wenn wir Stühle oder andere Objekte entwerfen, die sich verformen und in Glaszimmern stehen. Man wundert sich und stolpert weiter, immer hoffend, dass irgendwann alles wie von selbst zurück in die ursprüngliche Form springt.

Alles blitze blank in Trafic

von Ronny Günl

Die Autos in Jacques Tatis Trafic müssen glänzen, sonst werden sie übersehen. Ein eifriger Mitarbeiter wedelt beim Aufbau der Karosserienschau jede hartnäckig verbliebene Staubfluse von der Motorhaube. Keine Spur soll verraten, dass dieses Fahrzeug mehr als reines Anschauungsmaterial sein könnte. Den dafür verwendete Wischmopp – man sollte eher Wisch-Mops sagen – will die Kamera für einen Augenblick mit dem zotteligen Havaneser der nervösen PR-Managerin verwechselt haben. Später im Film wiederholt sich die Verwechslung, nur weitaus morbider, als der Pelzmantel der Hippies, die sich einen Streich erlaubten, ebenfalls für das vermeintlich überfahrene Hündchen gehalten wird. Tati streift sich die Hundeattrappe über, eigentlich um den bitteren Scherz aufzulösen, doch die Nerven der Frau liegen nun gänzlich blank. Arme Hunde, man will euch wie Menschen behandeln.

Für einen Moment abgelenkt, nicht nur vom hastigen Vorbeifahren der PR-Dame, sondern vielleicht auch von der polierten Oberfläche ihres Sportwagens, kommt der Wachtmeister auf der Kreuzung ins Taumeln. Unausweichlich folgt der große Crash. Seinen absurden Hergang kann man wohl kaum rekonstruieren. Aber hätte ein bisschen Dreck auf dem Lack schlimmeres verhindert? Schöne Autos schinden Eindruck, lassen sich die Show nicht stehlen. Aber gut geputzt, werden die Boliden letztlich zu Blendern im Sonnenlicht. Der Lack zeigt sich als Reflexionsfläche und die Sicht auf die Fahrbahn wird zum strahlenden Hindernis.

Im Kino sind Autos oft ein wenig zu übermütig unterwegs, knattern gern etwas zu laut. Der Fußgänger und Hundefreund Tati kann seine Abneigung gegenüber dem flotten Verkehr kaum verstecken. Erst als zerdellte und verbeulte Blechteile mit hüpfende Reifen wollen sie ihm gefallen. Eine verspielte Abrechnung, glücklicherweise ohne ernsthaften Schaden.

Unbemerkt fällt beim Ausstellen des Schecks für die Reparatur schließlich ein Tropfen Tinte aufs Brillenglas, der die gestresste Frau nur noch Flecken in der Gegend wahrnehmen lässt. Kein seltenes, aber bedenkliches Symptom unter hoher Belastung. Der Putzwahn ist vorprogrammiert. Zwar wird die Irritation mit einem Schmunzeln weggewischt, aber trotzdem munter weitergewienert was das Zeug, beziehungsweise der Lack aushält. Auch Tati hilft fleißig mit. Anstatt Billigung der Umwelt, gilt so vielleicht die Reinlichkeit der Autos – eher als Drecksschleudern verrufen – viel mehr als Hybris der Menschen, die überall nur noch Verschmutzungen sehen können. Wer eine saubere Haube vorzuweisen hat, provoziert wenigstens keine unangenehmen Fragen. Doch am Ende besitzt wahrscheinlich jeder seine eigene Oberfläche, die tunlichst vor Verunreinigungen beschützt werden soll, sei es ein Auto, eine Brille, oder ein Bildschirm. Was würden die Hunde dazu sagen?

Viennale 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

Vai e Vem

Das vom Moos überwucherte Haus von Percy Smith, in dem der britische Dokumentarist und Filmpionier sich mit Pflanzen und Tieren umgab, um Erziehungsfilme zu realisieren, um zu forschen, allein mit seiner Leidenschaft zu arbeiten, ist nicht nur die Grundlage für die musikalischen Abstraktionen des schönen Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith von Stuart A. Staples, sondern auch ein Bild für das Haus von Hans Hurch, die Viennale, die möglicherweise abrissbereit, möglicherweise renovierungsbedürftig, als Denkmal, als pure Gegenwärtigkeit oder als Erinnerung in Wien zur Begehung einer trauernden, ignoranten oder in die Zukunft blickenden Gemeinde aufgesucht wurde. Es war wie erwartet schwer, die Härte und gefährlich weit ins politisch Manipulative sowie unterdrückend Dominante reichende Präsenz des verstorbenen Festivaldirektors mit der Zärtlichkeit, Liebe fürs Kino und Traurigkeit zu verbinden, die sein Fehlen im Kino auslösen muss. Denn diese verschiedene Stränge eines Widerstands im Festivalbetrieb vereinte Herr Hurch wie kein Zweiter.

Die Viennale 2017, ein Haus aus Moos. Manche brachte Geschenke, die sanft von Trennungen erzählten (Vai-e-Vem, The Big Sky), andere zeigten, wo Herr Hurch ihnen die Augen öffnete und andere fragten sich, ob Festivals wirklich einen Geist besitzen, ob in ihnen das Leben eines Kurators fortbesteht oder ob das eine romantische Idee ist, die von den Realitäten der Kinomaschine und der fortschreitenden Zeit hinweggespült wird. Man muss nur auf die Cahiers du Cinéma heute blicken, um nicht an diese Geister zu glauben. Die diesjährige Viennale war wie eine langgezogene Kurve um einen Friedhof herum. Man hat viel Zeit, in andere Richtungen zu blicken, aber man spürt jederzeit eine Gravitation, die auch ein Versprechen sein könnte, aber vor allem eine Frage: Was jetzt? Eine der wichtigsten Prinzipien der filmkuratorischen Arbeit in Wien ist immer schon die persönliche Handschrift des Kurators. Das diesjährige Festival war wie ein Manifest dafür, weil sie sich unrealisiert realisieren musste, weil niemand mehr den Stift halten konnte, mit dem geschrieben wurde. Im Kino jedoch verschwindet alles hinter der Gegenwärtigkeit der Filme. Und diese gilt es zu würdigen, wenn sie es verdient haben. Dann gibt es Geister.

Texte:
Barbara von Mathieu Amalric
La nuit où j'ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel
Western von Valeska Grisebach
On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo
Farpões, Baldios von Marta Mateus
Țara moartă von Radu Jude
A fábrica de nada von Pedro Pinho
Abschied von den Eltern von Astrid Johanna Ofner
Nothingwood von Sonia Kronlund
Becoming Cary Grant von Mark Kidel
Ex Libris: New York Public Library von Frederick Wiseman

Rainer Kienböck

Antigone

Jeweils in alphabetischer Reihenfolge.

Favoriten

von Johann Lurf (Rainers Text)

12 Jours von Raymond Depardon

Antigone von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet

Barbara von Mathieu Amalric

Cosmic Ray von Bruce Conner

Dillinger è morto von Marco Ferreri

Ex Libris von Frederick Wiseman

Urgences von Raymond Depardon

Vai-e-vem von João César Monteiro

Filmliebe

A Movie von Bruce Conner

Beregis‘ avtomobilja von Ėl’dar Rjazanov

Farpões Baldios von Marta Mateus

Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont (Rainers Text)

Karnaval’naja noč‘ von Ėl’dar Rjazanov

L’Amant d’un jour von Philippe Garrel

La nuit où j’ai nagé von Damien Manivel und Kohei Igarashi

Licht von Barbara Albert (Rainers Text)

Mongoloid von Bruce Conner

Phantom Ride Phantom von Siegfried A. Fruhauf

Šestaja čast‘ mira von Dziga Vertov

Ta peau si lisse von Denis Côté (Rainers Text)

Țara moartă von Radu Jude

The Big Sky von Howard Hawks

Geu-hu von Hong Sang-soo

Vremja, vpered von Michail Švejcer und Sof’ja Mil’kina

Weitere Texte
L'Atelier von Laurent Cantet
Golden Exits von Alex Ross Perry

Andrey Arnold

1

2

3

4

Einige Texte

Zur Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum
Interview mit Barbara Albert
Good Time von Ben und Josh Safdie
Zum Besuch von Christoph Waltz

Ivana Miloš

der

San ClementeUrgences12 Jours (Raymond Depardon)
Watching people light up in hidden places, remembering them though we’ve never met, moving through corridors step by lagging step, seeing the sky in the courtyard, only in the courtyard.

The Big Sky (Howard Hawks)
What a great big sky it in this dancer on the landscape, as the band of not-quite-brigands turned frontiersmen picks their way across branches and logs, over riverbends and fires, strung and tied together like a whiff of true companionship.

The Day After (Hong Sang-soo)
And then they fell apart, companions and lack thereof, with embarrassment worn on their sleeves, all the embarrassment of attempting, not knowing, lacking, sorely lacking the path to an embrace.

L’Amant d’un jour (Philippe Garrel)
Yes, there might have been a touch, but it was pushed against the wall and faded away, unfurled and faint, barely visible in the night walks on Parisian streets. But the lingering aftertaste of violets and freckles chases the screen away.

Ex Libris (Frederick Wiseman)
If we could look behind the scenes, we would surely land on the planet of dream libraries, its stages deployed like paintings of a utopian project, its petals open in the flattering light of the human ambition to know, together.

Quei loro incontri (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet)
Unrooting, uncovering, unveiling, letting speak, finding a voice, finding the voice buried under moss, lychen and the green streams littered on the shores, sitting on a rock with all of sunlight on your face, opening shadows.

La nuit où j’ai nagé (Damien Manivel, Kohei Igarashi)
A wanderer with a face full of the clarity of white, all white, a lost mitten and shoulders deep in snow, a quest to deliver dream messages to those we meet among sea creatures of the deep, a mountain to cross in silence.

Barbara (Mathieu Amalric)
Sea of music carrying away, bringing into existence, awash with life and the currents of grief, all stirred into fireworks, a myriad of colors and a blister of a smile. Oh, how beautiful it is to dive in!

 

Valerie Dirk

Grace Jones

2 Fragen:

Kann man Bruno Dumonts Jeannette auch politisch lesen?

Herausgefordert wurde diese Lesart durch die penetranten Wiederholungen in den Gesängen der französischen Nationalheldin: Frankreich, Glaube, Christentum, Judentum, Kampf. Die Bewegungen dazu bestanden (unter anderen) aus exzessivem Headbangen. Das Peitschen von Frauenhaaren auf Sand. Welch Metapher, gerade jetzt.
Auf meine Frage, ob der Film, abseits der innovativen ästhetischen und formalen Spielereien, auch ein politischer Kommentar sei, reagierte Dumont ausweichend. Alles sei ambivalent: Péguy, la France, Jeanne, la foi.
Und doch, trotz ihrer ungelenken Direktheit, trotz der Gefahr, alles andere unterzuordnen, scheint mir die Frage relevant, auch wenn ich sie immer mit einer gewissen Beschämung stelle.

Is Grace Jones human, and if so, why?

Bloodlight and Bami von Sophie Fiennes arbeitet dualistisch. Zum einen sieht man perfekt inszenierte Bühnenauftritte der Musikerin, während welchen sie aliengleich und dominant das Scheinwerferlicht beherrscht; zum anderen sucht eine verwaschene Digitalkamera-Ästhetik danach, Graces Menschlichkeit zu dokumentieren: auf Jamaika im Kreise der Familie, kehlig lachend, fluchend, sich sorgend, essend (Meeresfrüchte), trinkend (Wein), badend. An einem neuem Album arbeitend. Sich schminkend, sich selbst analysierend: I’m human.

Viktor Sommerfeld

La Telenovela Errante

La Telenovela Errante von Raul Ruiz – Die Soap als Bildgefängnis

Ein Film bleibt noch lange nach meiner kurzen Viennale. Neben vielem erwartbar Guten war La Telenovela Errante von Raúl Ruiz der unerwartete Fund meiner vier vollen Tage. Zurück in Berlin, als ich Freunden Bericht erstatte, erwische ich mich immer wieder bei dem Versuch diese fremdartigen Fragmente eines unfertig gebliebenen Filmes zu beschreiben. Erst hier lese ich Wikipedia über Ruiz und werde direkt belohnt mit Ruiz über Ruiz: „Der Barock … ist eine Art zu sparen und keine Ausgabe. Man darf Barock und Rokoko nicht vermengen, sondern muss Ersteren mit einem Restaurant zur Mittagszeit vergleichen: es gibt sehr wenig Platz, man versucht so viele Leute wie möglich unterzubringen, um die größtmögliche Anzahl an Kunden zu haben.“ Diese eigenwillige und gewiss enigmatische Definition seines Barocks erhellt sich in La Telenovela Errante, welcher den Kitsch der südamerikanischen Soapbilder in mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden schonungslos auswalzt und zeigt, wie die Bilder des zwischenmenschlichen Pathos, der schmalzigen Romanze und der raunenden Dramatik selbst aktiv werden, um die Menschen noch in den alltäglichsten Situationen zu überwältigen. Die Telenovela, das ist das Bildgefängnis, aus dem es für die sozialen Formen kein Entrinnen gibt. Bei der Suche nach einer Straße namens ‚La Concepción‘ in der gleichnamigen Episode treffen drei Männer an einer Kreuzung aufeinander. Während eines endlos kreisenden Dialog verlieren sie sich immer tiefer in den symbolischen Abgründen des Wortes ‚Concepción‘. Ausgehend von der Freundin des einen Mannes, die zufälligerweise wie die Straße heißt, tun sich immer neue Bedeutungen auf. Es gibt keinen Ausweg aus dem Netz der Verweise, in schleichender Hysterie steigert man sich immer weiter hinein in dieses wichtigste aller Gespräche, schon bald scheint Alles in diesem einen Wort bedeutet. Ruiz‘ muss keinen Widerspruch von außen einführen um die Absurdität dieser Szene zu zeigen. Er lädt einfach immer weiter generös Bedeutungen ein, gibt allen Möglichkeiten einen Tisch, bis der Laden implodiert und als leere Hülle vor uns steht. Der Barock wird hier zu klarsten Form, die sehr präzise auf die Strukturen zeigt, in denen Bilder unsere Lebenswelt gestalten. Und dafür muss man nie eine chilenische Telenovela gesehen haben.

Weiterer Text
I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Viennale 2017: Barbara von Mathieu Amalric

Für alle, die sich mit Mathieu Amalrics neuestem Film auf die Suche nach der französischen Sängerin Barbara machen, sei bemerkt: Man findet weniger ihre Geschichte, weniger ihre körperliche Präsenz als die Vibrationen zwischen Erleichterung und tiefer Traurigkeit, die ihre Musik im Herzen auslösen. Es scheint, dass das heutige Kino vor allem bei Musikern einen freieren Zugang zu Biopics erlaubt. Das zeigten bereits Todd Haynes in seinem I’m Not There und Joann Sfar in seinem unterschätzen Gainsbourg (Vie héroïque). Sfar ist mit Sicherheit ein Referenzpunkt für Amalric, der diesen 2010 für eine Kurzdokumentation (Joann Sfar (dessins)) beim Zeichnen beobachtete. In mancher Hinsicht beobachtet er auch Barbara, das heißt die Darstellerin Brigitte, das heißt Jeanne Balibar beim Zeichnen. Es sind die Sketche einer Annäherung, die ein feuriges Bild ergeben, eines, in dem man tauchen kann. Dabei bleibt nach dem Film vor allem die Wirkung der Musik.

Barbara Amalric

Erzählt wird eigentlich von der Komplexität eines Lebens und den außergewöhnlichen Blüten wie dem tristen Versagen von Liebe. Liebe nicht als romantische Geschichte zwischen zwei Menschen, sondern als Einstellung zur Musik, zum Leben. Es geht um einen Film über Barbara, der in Barbara gedreht wird. Amalric spielt selbst den Filmemacher, eine Rolle, in der wir ihn nur zu gerne sehen, auch wenn er sie dieses Mal auf den verliebt Staunenden reduziert, einen Mann im Bann einer Sängerin, einer Schauspielerin. Immer wieder starrt er mit offenem Mund auf diese Frau und schließlich drängt es ihn selbst vor die Kamera. Stürmend hetzt er los: „Filmt mich! Filmt mich!“, schreit er. Als er gefragt wird, ob er einen Film über Barbara mache oder über sich selbst, entgegnet er: „Das ist dasselbe.“ Die Schauspielerin ist zugleich Brigitte, ein etwas exzentrischer Star mit vielen Assistenten als auch Balibar, die nach Ne Change Rien wieder einmal vor der Kamera an ihrer Perfomance arbeitet. Der Film gibt hier und da vor, von der Arbeit zu handeln, letztlich aber hat er dafür keine Zeit. Er zeigt vielmehr unterschiedliche Möglichkeiten einer Annäherung an Barbara, jene vor allem in Frankreich berühmte Sängerin, die mit bürgerlichen Namen Monique Andrée Serf hieß und die Geschichte von Fragilität in der französischen Populärluktur fortschrieb. Sie treibt durchs Bild wie der Wind, manchmal kurz vor dem Zusammenbruch, manchmal mit ungeheurer Kraft im hektischen oder hypnotischen Rederausch, immer exzentrisch, fordernd und mit voller Leidenschaft für ihre Musik oder im Fall von Brigitte für das Schauspiel. Amalric lädt dazu ein, sich nicht über die Hintergründe eines Lebens zu informieren, sondern in der Musik zu bleiben oder wie er selbst sagt: Im Mythos. Derart virtuos wechselt Amalric zwischen den Ebenen des Film-im-Films, der Arbeit an diesem Film-im-Film und dokumentarischen Material, das man manchmal weder weiß, wen man gerade sieht noch wer gerade singt. So taucht zum Beispiel immer wieder Barbara-Biograf Jacques Tournier im Bild auf. Seine Präsenz wird jedoch einfach in die Fiktion verwoben. Es ist ein Verkleidungsspektakel nicht nur im Kostüm, sondern vor allem auch der Kamera und des Blicks auf eine Frau. Eine Einstellung, in der Amalric vor einer Fotowand sitzt, zeigt bereits, dass dieses Vorgehen als ein überfordertes Schwimmen in einer Bilderflut zu verstehen ist. Es gibt viele Barbaras, viele Wege, sie zu sehen.

Balibar, die selbst als Sängerin arbeitet und zwei herausragende Alben („Paramour“ und „Slalom Dame“) veröffentlichte, ist schlicht und immer ergreifend eine der großen Schauspielerinnen unserer Zeit. Von Zeit zu Zeit scheint sie förmlich in Barbara oder Brigitte oder was auch immer zu verschwinden. Der Film zeigt ihre Verwandlung, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Hier gibt es keine Zeitsprünge, keine Schnitte, die à la Méliès Zaubertricks ermöglichen, sondern eine körperliche Transformationen, die einem Wunder gleicht. Nur hat man gar keine Zeit, diese zu verarbeiten und sie als solche zu sehen. Einmal beobachten wir Balibar/Brigitte wie sie Gesten von Barbara studiert. Sekunden später ist sie diese Geste. Wenn plötzlich die echte Barbara zu sehen ist, glaubt man für eine Sekunde: Das ist doch Balibar. Wie Amalric hängt ihre Karriere eng an den Filmen von Arnaud Desplechin, mehr noch waren die beiden ein Paar und insbesondere in Frankreich wurde der Film auch als dieses Wiedersehen betrachtet. Diese zusätzliche Ebene erinnert etwas an Opening Night von John Cassavetes. Man hat einen Film, einen Film-im-Film und das Leben hinter dem Film. Die Nähe zu Cassavetes, der ja ebenfalls als Schauspieler und Regisseur arbeitete, war auch schon in Amalrics Tournée sichtbar, ein Film, der an The Killing of a Chinese Bookie erinnert. Bei beiden Filmemachern. geht es immer wieder um die Versuche einer Lust am Leben, eines Überlebens für die Freude.

Barbara ist ein äußerst verspielter Film. Immer wieder bemerken wir erst am Ende einer Szene, das es sich eigentlich um eine gefilmte Szene handelt, das Décors fällt wiederholt vor unseren Augen zusammen oder entblößt sich als solches. Amalric findet auf den ersten Blick wenig Neues in diesen Überlappungen, was er jedoch findet, ist eine immense Lust daran. Barbara erinnert daran, dass das Kino lebendig sein kann. Übrigens basiert der Film auf einer Idee von Pierre Léon, der auch öfter mit Balibar arbeitete. Allgemein hat sich dort um Filmemacher wie Desplechin, Bertrand Bonello, Amalric, Léon oder Antoine Barraud eine interessante Formation etabliert. Ihr Jean-Pierre Léaud heißt Jeanne Balibar. Barbara ist ein weiterer Schritt für Amalric, der ihn trotz oder gerade wegen seines relativen Stardaseins als äußerst freien Filmemacher etabliert.

Viennale 2017: La Nuit où j’ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel

Jacques Rivette stellte einmal die Behauptung auf, dass viele gute Filme mit einer Abwesenheit beginnen. Kohei Igarashi und Damien Manivels La Nuit où j’ai nagé ist ein solcher Film. Der Abwesende ist ein Vater. Er kommt spät in der Nacht nach Hause, nachdenklich rauchend im Halbdunkel, in einer der vielen an Ozu erinnernden Einstellungen des Films, und früh am nächsten Morgen bricht er wieder auf zu seiner Arbeit an einem Fischmarkt. Es ist eine stille Abwesenheit, weil sie wie alles im Film ohne die Kraft von Worten auskommt. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn (weniger gespielt als gewesen von Takara Kogawa) sehen ihn (zumindest scheint es so) kaum. Das und die damit verbundenen Gefühle wie die Einsamkeit und Freiheit des Kindseins ist der erste Ausgangspunkt des Films. Der zweite ist die Landschaft der Aomori Präfektur im Norden der südlichen Insel Japans. Eine Region, die für ihre lang anhaltenden Schneefallperioden bekannt ist. Aus diesen beiden Voraussetzungen schaffen die beiden Filmemacher, die sich über die Liebe zum Kino und den Respekt ihrer jeweiligen Arbeit fanden, das Bild einer Reise, die traumwandlerisch und ernüchternd zugleich wirkt.

La nuit ou j'ai nagé
Igarashi und Manivel folgen dem Jungen nach einer schlaflosen Nacht in einen Tag, an dem er auf dem schneebedeckten Weg zur Schule einen anderen Weg einschlägt und sich auf die Suche nach dem Fischmarkt seines Vaters macht, um ihm eine Zeichnung zu bringen, die er in der Nacht angefertigt hat. Dabei folgt La Nuit où j’ai nagé dem Kindsein in Gefühlen und Bewegungen. Wenn Takara eine Orange isst, ist das ein kleines Ereignis und wenn er über die Straße laufen will, dann ist das eine große Sache. Er scheint alles machen zu können, aber für nichts wirklich bereit zu sein. Die Kamera ist nah an der unbedarften und doch etwas verlorenen Verspieltheit des jungen Darstellers, begleitet ihn in seiner körperlichen Überforderung genauso wie in den Momenten staunender Begeisterung. Wie Abbas Kiarostamis Where Is the Friend’s Home? oder Hou Hsiao-hsiens A Summer at Grandpa’s gibt es im Film ein interessantes Wechselverhältnis zwischen dem Blick des Kindes und dem, der Erwachsenen, die einen Film über ihn machen. Man achte beispielsweise auf die Art und Weise, in der Igarashi und Manivel den Vater filmen. Zwar sieht ihn der Sohn nicht, aber dennoch könnten die etwas unwirklichen Silhouettenbilder auch den Augen oder der Fantasie des Jungen entsprechen. Der Film lässt ein Sehen zu, das durchgehend von dem eines Kindes inspiriert ist. Entfernungen wirken weiter, die Welt wirkt größer, aber auch näher, Begegnungen wirken relevanter und alltägliche Handlungen spektakulärer. Die Stille des dialoglosen Films ist nie erdrückend, sondern immer wie das leere Blatt Papier einer entstehenden Neugier oder aufgelösten Sehnsucht auf der Suche nach dem Vater. Es ist eine gleichzeitig zielgerichtete und verlorene Liebe des Jungen, dessen Ausdruck von Zärtlichkeit, wie ein zu leiser Schrei in den Bergen, vom Schnee verschluckt werden könnte. Dabei läuft der Film bei aller Simplizität hier und da Gefahr etwas zu sehr in seine Strategie der kleinen Wunder verliebt zu sein. Einen wirklichen Kleinkunstcharakter bekommt das ganze jedoch niemals, weil es dazu um zu viel geht, zu viel, was unter der Oberfläche schlummert, zu viel, was abwesend ist.

Für Manivel ist der Film ein konsequenter Schritt. Nach seinen großartigen Un jeune poète und Le parc scheinen seine Protagonisten rückwärts zu altern. Immer geht es um das Begehren eines jeweiligen Alters. Der junge Möchtegern-Poet, die verliebte Teenagerin und nun der Junge, der seinem Vater eine Zeichnung bringen will. Es wäre leicht, darauf herabzublicken, aber Manivel evoziert stattdessen den Geist vergessener Gefühle. In allen Fällen lässt er seinen jungen Protagonisten Freiheiten, die diesen Blick auf Jugendliche oder Kinder nie konstruiert wirken lässt. Stattdessen scheint viele im Augenblick zu geschehen und manche Idee aus der Fantasie von Takara zu stammen. Dadurch ergibt sich in den stärksten Augenblicken ein Bild absurder Unschuld, etwa als der Junge beim Orangenessen einen Handschuh verliert oder in der Art und Weise, in der er seinen Schulranzen schließt und trägt. Letztere Handlung ist so gelungen, dass man getrost behaupten kann, dass Michael Ceras bis dato unerreichte Technik des Schulranzentragens in Superbad schauspielerische Konkurrenz bekommen hat. Inwiefern sich der Film in Igarashis Filmografie eingliedern lässt, kann ich nicht beurteilen, da ich seinen Hold Your Breath Like a Lover nicht sehen konnte. Es ist jedenfalls eine gleichberechtigte Zusammenarbeit, wenn man den Aussagen der Filmemacher folgt.

Vieles im Film dreht sich auch um die schneebedeckte Landschaft. Sie drückt sich beständig in die Bilder, ist eine eigenständige Präsenz, die immer auf die Handlungen Einfluss nimmt. Die Landschaft erzählt auch von einer anderen Abwesenheit, nämlich jener des Frühlings, der nur im wiederkehrenden Vivaldi-Motiv im Film steckt. Aomori heißt übersetzt der blaue oder grüne Wald. Diese Farben finden wir nur auf der bunten Jacke des durch den Schnee stapfenden Jungen. Der Film beginnt mit einem stillen Bild durch das Schwarz gleitender Schneeflocken, es wirkt friedlich, aber bei genauerer Betrachtung bringt der Schnee nicht viele Vorteile mit sich. Es geht den beiden Filmemachern aber niemals um irgendeine Form von Bewertung. Vielmehr sind sie an einem Ist-Zustand interessiert. Dafür spricht, dass sie auch mit den tatsächlichen Eltern des Jungen arbeiteten. Nicht, was es bedeutet so oder so zu leben ist interessant, sondern wie es aussieht, wenn man so lebt und im Fall von Takara eben träumt. In diesem Ist-Zustand dringt das Kino dann in die Abwesenheiten und macht sie in einer berührenden Stille greifbar.

Viennale 2017: Western von Valeska Grisebach

Eigentlich geplättet gewesen von der schieren emotionalen Wucht, mit der dieser Film in einem verschwindet. Begehren nach einem Nicht-Schreiben, einfach nur in sich auf den Film warten, auf das, was er einem weiter sagt. Ihn wieder sehen wollend. Dann doch etwas schreiben, weil die Angst kommt, das man sonst vergisst: Western von Valeska Grisebach, ein Monument des Filmjahres gebaut aus zwei Bewegungen des Kinos: Der Liebe zur Welt, wie sie sich vor einem präsentiert und dem Genre, das aus dieser Welt die Emotionen und Konflikte schält.

Western von Valeska Grisebach

Vielleicht sollte man beginnen, mit einem Schnitt, der einen gestört hat. Sonst gerät man in den Verdacht und auch in die Verführung des Schwärmens. Meinhard, der Westernheld des Films, bringt ein Pferd mit in das Lager der deutschen Arbeiter irgendwo im bulgarisch-griechischen Grenzgebiet. Es ist nicht sein Pferd. Er nähert sich dem Tier bestimmt und nimmt sich die Freiheit. Er nimmt es sich einfach. Gleichzeitig ist er vorsichtig damit, neugierig und legt einen großen Respekt vor dem Tier und auch vor dessen bulgarischen Besitzern an den Tag. Seine Beziehung zu dem Pferd trägt schon vieles in sich, was der Film in aller Ambivalenz über Beziehungen zum Fremden erkennt. Jedenfalls bringt Meinhard das Pferd zum ersten Mal ins Lager. Es ist ein Triumph, eine Eroberung der Welt. Sein Gegenspieler, der maskulin, immer nahe am chronischen Sonnenbrand wandelnde Chef des Bauarbeitertrupps Vincent, der seine Gefühle beständig zu verbergen trachtet und darunter tragisch leidet, gönnt dem stillen Meinhard seinen Triumph nicht. Als er das Pferd erblickt, sagt er, dass man daraus gutes Essen machen könne. Dann kommt der Schnitt, der missfällt. Das nächste Bild beginnt mit einer Nahaufnahme von Fleisch auf einem Grill. Dann schwenkt die Kamera nach rechts und offenbart das noch lebende Pferd. Es ist der einzige manipulative Moment in einem Film, der einem sonst in jeder Sekunde ehrlich ins Gesicht blickt. Es ist die einzige Spielerei in einem Film, in dem sonst nur die Figuren spielen.

Was spielen die Figuren? Sie spielen Cowboys, sie sind Cowboys. Sie spielen nicht, weil sie Freude am Spielen haben. Sie spielen, weil sie in diesen Rollen leben. Western ist womöglich der erste Film seit Holy Motors von Leos Carax, in dem eine Welt erdacht und betrachtet wird, die beständig versucht ist, zum Kino zu werden. Eigentlich erzählt Grisebach, die sich nach ihrem fulminanten Sehnsucht mehr als ein Jahrzehnt Zeit ließ für diesen Film, von einer europäischen Realität. Deutsche Firmen übernehmen von der EU finanzierte Projekte in Osteuropa. Der Film begleitet die Begegnung solcher in den Osten geschickten Arbeiter mit der Bevölkerung eines bulgarischen Dorfs. Er dokumentiert die Dynamiken innerhalb der Arbeitergruppe und ihr Verhältnis zur Landschaft. Vieles ist geprägt von Xenophobie und einem beständigen Rollenspiel, in dem man Männer und ihre Körper kennenlernt. Manches im Film erinnert an Beau travail von Claire Denis, passend auch, dass Meinhard als „Legionär“ angesprochen wird von den bulgarischen „Freunden“, die er sich nach und nach macht. Es ist eine Studie der unterdrückten Gefühle, die sich zu einer inneren und äußeren Gewalt hochschaukeln. Das Fremde und das Männliche spielen auch im Film von Denis die Hauptrolle. Die Körperlichkeit bei Grisebach jedoch ist keine der Leibesübungen in der Hitze, keine der Grégoire Colins am Rand des Wassers. Stattdessen: Deutsche Bierbauchmentalität in Liegesesseln, ein wenig Blässe, ein wenig Angst und viele Mechanismen, die am Verstecken einer Innerlichkeit arbeiten.

Auch eine andere, oft nicht gleich augenfällige Eleganz: Vor allem in der Figur von Meinhard, der immer nach außen und innen zugleich zu strahlen scheint. Ein wahrer Westernheld, der auf der Veranda sitzt wie Henry Fonda oder Gary Cooper. Nichts an ihm sieht so aus wie diese Schauspielgötter, alles an ihm ist, was sie verkörperten. Grisebach hatte ihn gefunden mit Cowboyhut lange bevor der Film gedreht wurde. Sie hat einen Cowboy von der Straße besetzt und ihn in einen Film gebracht. Das ist umgekehrt wie die meisten anderen Cowboys ins Kino kamen. Meinhard, der beobachtet, immer noch etwas in sich verbirgt, der nicht nur betrachtet wird vom Zuseher, sondern diesen immer zurück betrachtet. Der trinkt, der verführt und in seiner Einsamkeit vegetiert. Der immer zugleich dazugehört und außen vor bleibt. Der wunderschön ist und beinahe unsichtbar. Zerbrechlich in sich ruhend. Gefährlich und zärtlich.

Das Arbeiten hat oft Pause, wenn der Film sich nähert. Es ist ein Modus des Wartens, der an einem Film wie Der Stand der Dinge von Wim Wenders erinnert. Man wartet auf Materialien, man wartet auf Wasser. Es ist in der Zeit des Nichts-Tuns, des Wartens, das die Konflikte des Kinos entstehen. Oft ist Grisebach am nächsten an ihren Männern, wenn sie nicht arbeiten. Außer einmal, wenn Meinhard einen Bagger ins Wasser fährt. Das Kino ist ein Ort, an dem man seine Freizeit verbringt. Man denkt oft an das Kino, wenn man Western sieht. Das liegt daran, dass er immer wieder von einer Welt erzählt, die Kino spielt. Diese Männer haben sich nicht viel verändert seit sie als Kinder Cowboy und Indianer gespielt haben. Sie duellieren sich um Frauen, sie misstrauen sich und verheimlichen ihre Schwächen. Sie wollen beeindrucken.

Western von Valeska Grisebach
Immerzu ist beides zugleich möglich: Die menschliche Geste und die unmenschliche Tat. Vincent und Meinhard sind die beiden Gegenpole dieser Tendenzen, auch wenn ihre Figuren bei weitem nicht so einfach gestrickt sind. Vielmehr flackert in ihnen das ständige Austarieren innerer Konflikte, die auf etwas Fremdes übertragen werden. Wie so oft steckt in dem Einen auch das Potenzial des Anderen. Dasselbe gilt für das Fremde und die Angst davor. Eindrücklich bleibt eine frühe Szene am Fluss. Die deutschen Arbeiter genießen den Feierabend mit Bier in der Sonne. Einige lokale Frauen kommen ans andere Ufer. Einer Frau fällt ihr Hut ins Wasser. Vincent schwimmt und erreicht den Hut. Dann beginnt er zu spielen. Er spielt etwas, was er für einen Mann hält. Er rückt den Hut nicht raus. Stattdessen bittet er die Frau, zu sich zu schwimmen. Nach einer Zeit tut sie das. Er gibt ihr den Hut weiterhin nicht. Er spielt mit ihr, berührt sie. Es ist unangenehm. Selbst die anderen Arbeiter blicken besorgt. Vincent übertreibt es, er kommt nicht aus seiner Rolle. Später wird er sich bei der Frau entschuldigen. Aber nur, um sie zu einem Essen einzuladen. Widerwärtiges Selbstverständnis. Nur bei Grisebach spürt man, dass das Widerwärtige nicht die Empörung darüber sein kann, sondern die Normalität mit der Bulgarien, die Frauen des Dorfes und die Organisation des Lebens dort nicht als etwas Autonomes betrachtet werden können. Alles existiert immer nur in Relation zum eigenen, in diesem Fall deutschen Rollenbild.

Wer sind diese Bulgaren? Der Film zeigt ihr Leben, aber tut nie so, als könne er verstehen. Dabei ordnet Grisebach ihren Blick auf dieses Fremde nicht den Mechanismen ihrer Erzählung unter wie das bei Maren Ade und ihrem Toni Erdmann der Fall war. Stattdessen öffnet sie ihn gemeinsam mit ihrer Figur, aber mit deutlich weniger Gefühlen als dieser. Es ist selten, dass man einen Film sieht, der eine emotionale Geschichte erzählt und es dabei trotzdem schafft, auf etwas außerhalb von sich selbst zu blicken. Es geht nicht nur um die Welt dieses Films, es gibt tatsächlich ein Bewusstsein für die Welt, die er betritt. Ganz gleich den Vorreitern dieser Filmsprache wie Jean Epstein oder Roberto Rossellini hindert das nicht an den Tränen, die man in sich wachsen spürt. Tränen, die ein wenig sind wie Meinhard. Einsam, nicht wirklich zielgerichtet, selbstgerecht, glänzend. Man muss sich nicht selbst erkennen, um bei einem Film zu sein. Aus einem eigentlich dokumentarischen Blick gewinnt Grisebach wie schon in Sehnsucht die größtmögliche Reinheit eines Genres.

Die Reinheit des Western-Genres ist die Sehnsucht. Sie ist romantisch und kontemplativ. Man verschwindet in ihr mit jedem Schritt, den man sich weiter in den Film wagt. Sie ist nicht gerichtet. Es gibt vielleicht den abstrakten Traum einer zwischenkulturellen Gerechtigkeit, einer Offenheit oder eben jenen einer uneingeschränkten Dominanz. Der Stolz weißer Machos und das womöglich fehlgeleitete Bemühen, alles anders zu machen. Es gibt das Begehren dazuzugehören oder zu regieren. Meinhard ist ein Mann ohne Heimat. Das erste Bild zeigt ihn aus dem Nichts kommend (noch ohne Pferd) in einem Park. Er hat eine Vergangenheit, die im Film immer wieder angedeutet wird, aber er hat gleichzeitig keine Vergangenheit. Er hat keine Zukunft. Handelt er richtig, ist sein Verhalten würdevoll? Verwechselt er Gastfreundschaft mit einer möglichen Heimat?

Die deutsche Flagge weht im Sonnenlicht Bulgariens. Wir pflücken von den Bäumen, die uns nicht gehören. Alles wird zum Paradies erklärt, zum Urlaubsort, zur Schönheit, die nicht die Menschen und ihre Kultur kennenlernen will, sondern nur die Oberfläche. Es ist eine Fantasie, in der man sich zur Ruhe begeben will. Genau wie das Western-Genre der Fantasieplatz eines stillen Heldentums sein kann. Fehlgeleitete Fantasien. Dann tanzt man zu den fremden Klängen und verschwindet in ihnen, obwohl man nie wirklich da war.

Zum Ende von Leben – BRD von Harun Farocki

Nach schleifenartigen Bewegungen im Simulacrum einer anvisierten Optimierung und Sicherheit endet Harun Farockis Sittenbild westdeutscher Sentimentalitäten, Leben – BRD mit einer Pause. Die Arbeitnehmer, viele von ihnen mit dem klassischen Vokuhila der späten 1980er Jahre,  versammelt um einen Tisch, werden in eine kurze Pause entlassen. Man könnte sagen, dass der Film dort endet, wo das Kino beginnt, wenn die Arbeiter die Fabrik verlassen. Allerdings ahnt man bei Farocki, dass sie wieder zurückkehren werden. Zu beiläufig erscheint der Titel, der ein Ende nur vortäuschen kann. Den Augenblick der Freizeit, der so eng mit dem Kino in Verbindung steht, lässt er aus. Man fragt sich wie er aussehen würde. Man fragt sich, ob es eine Welt jenseits des Simulacrums gibt. Ein Picknick im Freien wie bei Renoir. Spare Time von Humphrey Jennings.

Stattdessen ist sein Kino eines der ständigen Anwesenheit, denn der Film zeigt eine Welt, in der das Leben wie das Kino ist. Man denkt an La Maman et la Putain von Eustache. Darin beschreibt Jean-Pierre Léaud wie das Kino einem Dinge fürs Leben beibringen könne, zum Beispiel wie man sein Bett mache. Ein Modus der Gebrauchsanweisung hat sich in jede Faser in Leben – BRD eingeschrieben. Wie bekommt man ein Kind, wie rettet man Leben, wie wäre es wohl, wenn ein Panzer über diesen Hügel gerollt käme? Farocki fügt unterschiedliche Strategien dieser „Als Ob“-Kultur zu einem Mosaik, unter das – das macht er bereits im ersten Bild klar – auch Begehrens- und Alltagsformen längst subsumiert wurden. Leben – BRD zeigt auch wie lächerlich der dystopische Hauch in einem Film wie eXistenZ von David Cronenberg anmutet. Man muss doch nur sehen, was vor der Haustür (nicht) passiert. Fehler scheinen tödlich und Pausen eigentlich auch. In diesem Sinn erzählt das Ende des Films tatsächlich von einem möglichen Ausbruch.

Spannend daran ist auch, dass die Abstrahierung des Lebens, die im Film beschrieben wird, gleichermaßen von ihm umarmt wird. Die Bilder der Simulierenden erzählen von einer Befreiung der Darstellung menschlicher Tätigkeiten. Es ist hier nicht so, dass eine Person so handelt, als ob sie etwas sei. Vielmehr filmt die Kamera wie eine Person so handelt, als ob sie etwas sei. Ein immenser Unterschied, der das Kino und auch das Theater möglich macht eben kurz bevor es beginnt. Damit reiht sich Leben – BRD in die wunderbare Welt jener Filme ein, die vom Beginn des Kinos erzählen. Nicht 1895 sondern jeden Tag.