Wenn ich Danièle Huillet nicht sehen kann

In der Berliner Akademie der Künste wurde vergangene Woche ein verhältnismäßig riesiges Projekt auch für die Öffentlichkeit gestartet. Es betrifft die Arbeit (die hierbei großgeschrieben werden muss) der Filmemacher und Akademie-Mitglieder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Schwarze Sünde
Eine umfassende Ausstellung befasst sich mit Arbeits- und Vergegenwärtigungsprozessen ihrer Filme und der Welt. Der Titel: Sagen Sie’s den Steinen. Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Gleichzeitig werden in der Akademie einige Filme gezeigt, es gibt Konzerte und eine große Retrospektive an unterschiedlichen Orten in Berlin. (Mehr Infos hier) Ein großer Fokus wurde bei den unterschiedlichen Präsentationen, sogenannten Rencontres, am ersten Wochenende auf die Frage der Steine gelegt. Es handelt sich um einen Ausspruch von Danièle Huillet während einer Probe, als ein Schauspieler sich fragte, an wen er sich wenden solle. Anhand der Steine wurden Themen eröffnet, die sich zum Beispiel um die Zielrichtung einer abstrakten, politischen Wut drehten. Dabei scheint mir die dringlichere Frage jene der Vergegenwärtigung zu sein, die sich in dieser von Manfred Bauschulte in Elio Vittorini erkannten abstrakten Wut auch erzählen lässt. Innerhalb der umfassenden, reichen und zunächst überfordernden Ausstellung finden sich folgerichtig neben vielen faszinierenden, nicht zu sehr auf den Straub-Altar gestellten Arbeitsdokumenten, Interviews, Briefen und Setbildern (bewegt und unbewegt) auch künstlerische Interventionen, wenn man so will, also Arbeiten, die jene von Straub, Huillet in der Gegenwart befragen.

Ein kurzer Einschub, weil mir die von Jean-Pierre Gorin vorgeschlagene Schreibweise von Straub, Huillet (getrennt durch ein Komma, einen Atemzug oder wie sie in Où gît votre sourire enfoui? von Pedro Costa erklären, ein Frame) zwar wichtig scheint, aber nicht so relevant wie das gar nicht so subtile Politikum, das dort an der Akademie um den Namen gemacht wurde. So hörte man bei den Einführungen zahlreiche Varianten, die sich immer darum bemühten die Rolle von Danièle Huillet als mehr zu verstehen, als einen Namen hinter oder in Straub. Natürlich ist dieser Ansatz richtig, aber wie bei so viel politischer Korrektheit dieser Tage darf man schon fragen, ob die Reihenfolge einer Namensnennung wirklich zur allgemeinen Aufklärung ihrer Arbeit beiträgt. Viel mehr half da zum Beispiel das unterhaltsame Rencontre mit Kameramann Renato Berta, der erzählte wie Straub sich immer mehr um das Bild und Huillet sich immer mehr um den Ton sorgte, was zu einigen süffisanten Konflikten führte. Die Frage bleibt trotzdem bestehen. Sie gilt zum Beispiel auch für die portugiesischen Filmemacher António Reis und Margarida Cordeiro. In deren Fall wird Cordeiro oft völlig unterschlagen. Die sprachliche Richtigstellung bewegt sich in einem Vakuum, weil sie durch das nächste Verkürzen auf „die Straubs“ oder „das Kino von Straub“ wieder aufgehoben wird. Statt sich in solchen Sprach-Politika zu verunsichern, täte man gut daran, die Arbeit von Danièle Huillet sichtbar zu machen. Auch das leistet die Ausstellung und wie so oft mehr noch die Filme, die im Rahmen der Rencontres sowie über den Herbst in Berlin gezeigt werden. Neben den Filmen können solche sprachliche Verweise nur als ablenkender Schleier wahrgenommen werden.

Wie erzählt sich also das Kino von Huillet, Straub in der Gegenwart? Was erzählt es über die Gegenwart? Wie kann man von ihm erzählen in der Gegenwart? Vor allem, das wurde sowohl in der Ausstellung als auch bei den Vorträgen klar, mit einem benjaminschen Blick zurück nach vorne. Das passt auch irgendwo zum Kino von Straub, Huillet, wenn nicht zum Kino per se. Es wirkt fast anachronistisch im Vergleich zur modernen Welt. Die Wichtigkeit auf etwas zurück zu schauen ist in ihrem Kino angelegt und damit spiegelt sich das Vorhaben einer solchen Ausstellung und Retrospektive in sich selbst. Es ist die Perspektive zurück auf einen immer auch zurückgehenden Blick. Dennoch scheinen mir einige der Lektionen, die daraus gezogen werden, das gilt für die Vortragenden wie die Künstler innerhalb der Ausstellung, fragwürdig. Denn der Blick zurück war im Fall von Huillet, Straub immer mit einem gleichwertigen, in seiner Sinnlichkeit oft dominanten Blick in die Gegenwart verbunden. Jene Gegenwart fehlte vielen Reaktionen auf ihr Werk. Statt einer Neugier auf das Lebendige spürt man Versuche eine Methodik zu fassen, die eigentlich von ihrer Offenheit lebt. Ein Innehalten vor diesen Filmen wirkt immer hilflos. Genauso wie ein Bedauern. Deutlich wird das in zwei Beispielen im Rahmen der Ausstellung. Einmal werden fünf Ausgaben der Zeitschrift Filmkritik, auf deren Cover sich Filme von Straub,Huillet befinden in einer Glasvitrine ausgestellt. Es mag ein furchtbar naiver Vorschlag sein, aber eigentlich sollte man Besuchern ermöglichen, diese zu lesen, statt vor ihnen zu stehen wie vor Relikten (es sei erwähnt, dass es anderswo auf der Ausstellung die Möglichkeit des Lesens gibt). Ein anderes Beispiel ist Luisa Greenfields Video-Doppelprojektion History Lessons By Comparison. Darin gibt es eine Fahrt, die jene lange Autofahrt aus Geschichtsunterricht nachvollziehen will. Es ist also eine tatsächliche Re-Präsentation. Aber sie kennt nur eine Aufmerksamkeit für das Bild (nicht für die Welt, in der es entsteht) und erklärt den Film dadurch zu einer Simulation und ihre Fahrt wird zu einem Simulacra im Sinne von Baudrillard. Natürlich sagt niemand, dass man Filme über Huillet, Straub in deren Sinn drehen soll, aber den Wert eines solchen Ansatzes halte ich für inexistent. Dass das anders geht, konnte man wenn man des Italienischen nicht mächtig ist, zumindest ansatzweise in The Green and the Stone. Straub-Huillet in Buti. von Armin Linke und Rinaldo Censi erkennen. Ihr Besuch an den Drehorten in Buti war von einer Neugier beseelt, die zwar auf schon gemachten Bildern fungierte, aber diese gegen die Gegenwart überprüfte. In den nächsten Wochen sollen Untertitel hinzugefügt werden.

Toute Revolution
Wie in einem wunderbaren, in seiner Art ebenfalls anachronistischen Vortrag von Manfred Blank deutlich wurde, geht es im Kino von Straub, Huillet auch um das revolutionäre Potenzial eines möglichen Zufalls; das Möglichmachen eines Zufalls, der sich nicht nur für ihn in der Programmierung von Toute révolution est un coup de dés und Trop tôt/Trop tard erzählte. Ein Zufall, der wie jeder Zufall etwas außerhalb der Vergangenheit spielt. Denn woher ein Zufall kam, kann man bestenfalls im Nachhinein bestimmen. Erstmal muss er möglich sein. Es gibt die Bedingungen dieser Möglichkeit, aber man rechnet nicht mit ihr. Sie findet sich im Werk von Huillet, Straub nicht nur in den beiden genannten Filmen, sondern in jeder Einstellung. Wie auch Berta bestätigte, arbeitete sämtliche Konstruktion, Vorplanung und Wiederholung darauf hin, dass ein Zufall möglich wird. Es ist also vielmehr die Arbeit an einer Aufmerksamkeit als die Arbeit an einem Bild. Einmal kann der Zufall ein ins Bild fliegendes Blatt sein, das Bellen eines Hundes aus dem Off oder sogar eine ganze Revolution. Diese Aufmerksamkeit ist möglicher im Kino als im Ausstellungskontext. Sie ist unbedingt als eine in die Gegenwart gerichtete Aufmerksamkeit zu verstehen.

Wer, so sagt Straub in einem Interview innerhalb der Ausstellung, beim Wort Gott lachen müsse, der könne nie eine Revolution beginnen. Die Gefahr bei Huillet, Straub ist immer, dass sie selbst dieser Gott werden. Dann baut man ihnen einen Altar. Auch mir ist es oft so mit ihrem Kino gegangen. Man spürt, dass es unter den sogenannten Straubianern auch immer sehr um das Wissen geht, das sich hinter den Filmen abspielt: Fakten im besseren, Trivia im schlechteren Fall. Durch die klare Haltung der Filmemacher findet man eine Verlässlichkeit in der starken Gefasstheit und mal theoretischen, mal wütenden Untermauerung ihres Bestrebens. Eine Art Reinheit geht von ihrem Werk aus, dass einem hilft, jene abstrakte Wut, die Ziellosigkeit einer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Kino und der Welt  zu bündeln, zu fassen und vor allem zu richten. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil diese Wut sich affirmativ in der asketischen Schönheit und Genauigkeit ihrer Filme findet und eben ganz im Sinne Émile Zolas als notwendiger Hass. Er ist gerichtet gegen sehr konkrete Folgen und Spuren des kapitalistischen Systems. Ob das nun gegen die Mode wie in Von Heute auf Morgen oder gegen die Synchronisation wie in einem bekannten Text von Straub gerichtet ist, bedeutet alles und nichts zugleich. Passend dazu fragte ein Zuhörer im Rahmen eines Rencontres vorsichtig, ob man denn heute noch von Anti-Kapitalismus sprechen dürfe. Wie in der Frage der Namensnennung spürt man auch hier eine Ohnmacht der Sprache, die vieles im Kino von Straub, Huillet hinterfragt. Denn Frieda Grafe bemerkte nicht umsonst in einem Text über Huillet, Straub, der zum Anlass einer Retrospektive im Filmmuseum München 1997 entstand und im Flyer der Ausstellung zitiert wird, dass die Art in der beide Filmemacher die Welt betrachten, immer auch an einer methodischen Auseinandersetzung mit Sprache hänge. Eine Sprache, die es heute nicht mehr zu geben scheint, vielleicht ja noch nie gegeben hat. Man braucht einen Glauben an sie, vielleicht eine Illusion. Es ist eine verlorene Sprache in gewisser Hinsicht und es zeigt sich bei vielen Vortragenden, dass sie analog zu Straub, Huillet mehr nach einem Weg zurück zu dieser Sprache suchen, als im Sinne von Serge Daney ein Ende der damit einhergehenden Desillusionierung zu beschwören. Ein Gedanke, der mir weder fern dieses Kinos scheint und noch weniger fern gegenwärtiger Notwendigkeiten. Mehrfach stellte sich mir die Frage: Wo ist hier die Illusion? Die Frage könnte man auch anders stellen: Was erzählt uns eine bearbeitete Drehbuchseite von einer Arbeit? War es nicht oft die Arbeit von Straub, Huillet, das man die Arbeit zwar spürt, aber sie sich nicht vor den Zufall schieben darf?

Und dann ein anderes Bild in der Ausstellung, die sich durch die Eröffnungstage an der Akademie zog: Ein Bild nicht von sprachlicher Genauigkeit, sondern sprachlicher Verirrung (nicht unnötig wie bei der merkwürdig und ganz bewusst in Englisch gehaltenen Einführung zum Werk von Harun Farocki ein paar Kilometer weiter im Arsenal): Ein Filmset in vielen Sprachen. Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Crew steht zusammen, man wartet auf die Technik. Es ist staubig. Man befindet sich auf dem Ätna, jenem Vulkan, den ein gewisser Jean Epstein in seinen Betrachtungen zum Kino als Ort besonderer Perspektiven evozierte. Es sind die Dreharbeiten zu Schwarze Sünde. Die drei Heimat- und Fremdheitsprachen der beiden Filmemacher. Es gibt eine eigenartige Natürlichkeit der Ko-Existenz dieser Sprachen. Sie fließen ineinander. Um sich wieder an Grafe und ihrer Betrachtung zu orientieren, erzählt dieses Bild von einer Dazwischenheit, die jederzeit auf Unterschiede aufmerksam macht und sie dadurch überbrückt.

Fortini Cani

Im Gestus des Zurückblickens versperrte sich mir in diesen Tagen etwas beim Blick auf Straub, Huillet. Als könnte ich nur über ihre Filme wieder den Weg zurück zum nötigen Zufall des Kinos finden. Der Zufall, der das Kino möglich macht. Schließlich ist ihr Kino auch, auch wenn das abgenutzt klingt, eine Schule des Sehens und Hörens. Eben eine Lehre der Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es deshalb, dass die Sorge um die Qualität von Kopien, seien sie analog oder digital selten so hoch ist wie, wenn es um Huillet, Straub geht. Die Zufälle, die sie ermöglichen hängen an jeder Farbe, jedem Rauschen. Man findet dieses Kino womöglich tatsächlich mehr im Leben als im Kino. Ein Paradox, das mich in diesen Tagen vom Kino entfernte und doch näher brachte.

Das Projekt Sagen Sie’s den Steinen. ist einzigartig. Es ist ein wenig wie in die Handgriffe einer praktischen und theoretischen Arbeit einzusteigen, sie beinahe verändern zu können, sie in in sich selbst ruhen zu lassen und diese ruhige Dringlichkeit zu spüren. In dieser Arbeit spiegelt sich auch eine Haltung zur Welt. Tendenziell regt sich ein Einwand gegen die mit dem Blick auf die Arbeit einhergehende Desillusionierung, aber schließlich entdeckt man, dass bei Straub, Huillet die Arbeit, wie vielleicht sonst nur bei Gustave Courbet, etwas Erhabenes ist. Sie berührt die Idee einer Möglichkeit, eines Zufalls und so widersprüchlich das klingt: einer Illusion. In dieser Perspektive könnte man sich dann auch finden, als Suchende zwischen den Bildern und in der Bestimmtheit von Bildern, Tönen und Haltungen einen radikalen Kommentar auf die Gegenwart finden, der niemals nur zu den Steinen spricht.

The Mouth Agape: Mrs. Fang von Wang Bing

Eines der großen Themen im Werk von Wang Bing ist das Überleben. Umso dringlicher erwartet uns, dass es in seinem neuen Film Mrs. Fang, der in Locarno verdient mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, um das Sterben geht. Man könnte auch sagen, dass es um das Leben mit dem Sterben geht. Die Kamera begleitet und verlässt Fang Xiuying, eine 67jährige Frau, die im Kreise ihrer Familie in eine dem Tode nahe Starre verfällt, die durch eine unheilbare Alzheimer-Erkrankung bewirkt wird. Nun hat das Kino dem Tod schon manches Schnippchen geschlagen, auch in dem es ihn gefilmt hat, aber mit Mrs. Fang geht es vielmehr um eine Suche nach dem Verstehen desselben. Ein versuchtes Verstehen, das im selben, unerbittlichen Starren gefangen ist wie die paralysierte Frau.

Mit La gueule ouverte, einem heftigen, zugleich sensiblen und unsensiblen Film über das Sterben, hat Maurice Pialat vor einigen Jahrzehnten womöglich den perfekten Titel für den neuen Film von Wang Bing gefunden. Denn das körperlichste und eindringlichste Bild in der Begegnung mit Frau Fang und ihrer Familie ist die wiederkehrende, mysteriöse Nahaufnahme ihres wie eingefrorenen Gesichts. Es wirkt zugleich entrückt und ganz bei sich. Immer wieder blicken auch die Verwandten ins Antlitz von Frau Fang und fragen sich, ob sie noch bei Bewusstsein ist oder nicht. Darin liegt auch das Mysterium, denn ihre Unfähigkeit zur Reaktion, ihr offener Mund und die dennoch wachen Augen, die sich von Zeit zu Zeit zu bewegen scheinen, ergeben ein unfassbares Bild. Es ist schwer, diese Nahaufnahme als etwas wahrzunehmen, was die wehrlose Frau bloßstellt, weil sich etwas in und hinter ihrem Gesicht zu verbergen scheint, das sich jedem Aussaugen ihrer Situation entzieht. Der ethische Balanceakt, der durch die Nähe zu dieser Person und ihrer Familie automatisch entsteht, wird paradoxerweise durch die größtmögliche Intimität aufgehoben. In dieser Intimität verbirgt sich etwas, es wird klar, dass nicht alles gezeigt werden kann. Im Gegensatz etwa zu Allan Kings Dying at Grace gibt es hier keine Behauptung einer Erfahrung des Todes. Stattdessen wird klar, dass man immer außen steht, dass man zwar erfahren will, aber nicht kann. In diesem Sinne gelingt dem Film etwas ganz unerhörtes mit den Prinzipien der Nahaufnahme. Unter dem Blick von Bing wird sie weder zu einem Eingang in die Seele der passiven Protagonistin, noch kommt es zu einer Identifikation. Die Bilder des regungslosen Gesichts verneinen den Kuleschow-Effekt. Denn statt der Freiheit einer Interpretation, die durch die Relation zu einem Zwischenbild bewirkt wird, erzählt sich hier die Ohnmacht einer Interpretation, die durch das unbedingte Fehlen eines Zwischenbilds bewirkt wird. Da ist nichts, da ist alles: Die Frau, ihr Gesicht und ihr Sterben. Die Nahaufnahme wirft hier zurück, auf den, der sie betrachtet beziehungsweise herstellt. Man findet dort nichts, man sucht nur und genau das rechtfertigt die Nähe. Was aus größerer Entfernung (die Bing im Augenblick des Todes einnimmt) nur das emotionale Bild einer sterbenden Frau sein kann, wird aus dieser Nähe zu einer Unsicherheit über Leben und Tod, also genau jenem Zwischenreich, in dem das Kino zu Hause ist.

Man denkt dabei an Fotografien und Roland Barthes. Wie beunruhigend ist es aber, dass diese Nahaufnahme keine Fotografie ist. Gerade im Potenzial zur Bewegung, gerade in den kleinen Regungen wie einer plötzlichen Träne auf den Wangen von Frau Fang, vermittelt sich die Unglaubwürdigkeit des Sterbens. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass man durch diese Nahaufnahme die Bedeutung mancher Religion versteht. Denn es gibt etwas, das nicht filmbar ist an diesem körperlichen und seelischen Vorgang. Nichts wird dabei festgehalten außer der eigenen Ohnmacht im Angesicht dieses Gesichts.

Mrs. Fang von Wang Bing

Ab und an fokussiert sich der Film auch auf die Geschehnisse rund um diese Paralyse, was entfernt an Frederick Wisemans Near Death erinnert. Er zeigt Familienmitglieder und vor allem das nächtliche Fischen, das den Ort, in dem Frau Fang gelebt hat und sterben wird, prägt. Dabei ist zu bemerken, dass Bing erst ganz am Ende seines Films mit gewohnt ruckelnder Handkamera die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Räumen des Films offenbart. Er folgt einem Familienmitglied durch die Gänge des kahlen Hauses nach draußen. Es wird klar, dass Frau Wang im hintersten Zimmer des Hauses liegt, dass die bereits eingeführte Straße tatsächlich direkt vor dem Haus liegt und es von dort auch nur einige Meter zum Wasser sind. Durch diese Verzögerung eines Etablierens der räumlichen Zusammenhänge ist auch in diesem Film, trotz der deutlich geringeren Laufzeit (86 Minuten) als zum Beispiel Tiexi qu (556min) oder auch Ta’ang (148min), die Dauer ein entscheidendes Kriterium. Man bekommt das Gefühl einer vergehenden Zeit, die eben nicht nur auf den Tod wartet, sondern weiter geht. Dadurch, dass Räume erst spät zusammengeführt werden, wird dieser Effekt verstärkt. Man bemerkt, dass alles, was man sieht innerhalb eines kleinen Universums abläuft. Nichts ist künstlich montiert und dadurch in der Zeitwahrnehmung unzuverlässig. Bing scheint seine Bilder zu machen, seinen Impulsen zu folgen und dann in einem zweiten Schritt mit wenigen Eingriffen eine Struktur zu finden, die sich immer wieder mit den Fragen beschäftigt: Was kann und muss das Kino zeigen? Wie kann ich verstehen?

Grob die letzten sieben Tage im Leben der Frau zeigt der Film. Dabei gibt es keine großen filmischen Ideen, sondern schlicht und brilliant den Alltag einer Familie, die mit dem baldigen Tod eines Mitglieds konfrontiert wird. Wie so oft im Werk von Bing geht es dabei auch um das Geld. Die Kosten der Pflege werden frustriert geäußert und es wird diskutiert, was man bei der Beerdigung zum Essen bereiten wird. Dass dabei sowohl die Kamera als auch Frau Fang im Raum sind, wird ignoriert. Die Familie schaut Fernsehen, ab und an blickt jemand ins Gesicht der Frau, man rätselt, ob sie schläft oder wach ist. Es geht so dahin und die emotionale Kraft jener Einstellung, die aus dem Zimmer der Frau nach draußen geht, liegt auch darin, dass einem klar wird, dass man diesen Tod nicht unbedingt spüren muss. Man trifft eine bewusste Entscheidung hinzusehen, wenn jemand stirbt. Jedem ist freigestellt, sich abzulenken. Im Kino gab es oft Diskussionen rund um diese Entscheidung hinzusehen. Pedro Costas No Quarto da Vanda ist ein gutes Beispiel, auch dort wurden ethische Zweifel bezüglich der Nähe des Filmemachers zu seiner drogenabhängigen Protagonistin geäußert. Eine intime Nahaufnahme, die eine Zärtlichkeit für die Schwäche offenbart, scheint nicht für alle Zuseher akzeptabel. Dabei liegt hier doch eine der großen Fähigkeiten des Kinos. Es wird uns nicht nur erlaubt hinzusehen, sondern eben auch eine Befreiung durch die Kraft der Kamera evoziert, die einen anderen Blick ermöglicht als jenen der Abkehr, Ausgrenzung und Angst. Welche Arbeit und Behutsamkeit in einem solchen anderen Blick steckt, wird schnell vergessen. Zu leicht wird Intimität im Kino als abstoßend empfunden, obwohl man bemerken sollte, dass Intimität eine Ausnahme ist, kein Verbrechen.

Mrs. Fang von Wang Bing

Shadows of Resignation: Jacques Tourneur in Locarno

What does it say about the state of cinema when the cinephile excitement and quality of a festival such as the 70th edition of the Locarno Film Festival derives more from a retrospective than the latest batch of contemporary films? There is more than one possible answer to such a question, so we might as well pose another one: Why is it important to see Jacques Tourneur? Isn’t it just self-affirmation, a sort of homecoming, or even a celebration of sorts? When I told people that I would be in Locarno this year, many replied rather enviously: “Ah, I would love to be there with Mr. Tourneur.” Is such a desire connected to the idea of discovering something new with or in Mr. Tourneur or is it just about the pleasure of returning to a place one likes? Both might be true and valuable, and after Olaf Möller’s discovery tour into the neglected history of German cinema during the 69th edition Mr. Tourneur is a reasonable step for the festival. Yet, I couldn’t help thinking – though I must admit I didn’t see as much of Mr. Möller’s choices as I could have – that the element of surprise and discovery was much bigger in Mr. Tourneur, who always switches between chameleon and auteur. One is never quite sure what to expect, always astonished at where one lands but still feeling that all these different paths were followed by the same filmmaker.

I walked with a Zombie

Before seeing and re-seeing many of his works in Locarno, my impression of Jacques Tourneur was a certain movement connected with a certain half-light. It is a travelling that follows characters through various states of light and shadow, like the famous invisible chase sequence in Cat People, or a sleepless night and dreamy gaze into the dark horizon in Anne of the Indies. These certainties are in fact describing uncertainties of intermediate worlds, desires, absences, or the supernatural which, as the director states in the accompanying catalogue of the festival, he believes in. Through those moments and states, a feeling that I can best describe as a sort of fever arises. It is connected to something I discovered while revisiting films like I Walked with a Zombie (which was shown at midnight at the Piazza Grande while a thunderstorm approached and eventually made me leave in the pouring rain) or Night of the Demon: There is an idea of the past tense in the films of Mr. Tourneur. His cinematographic language speaks in the present but his narratives seem to have already happened. This becomes very clear in the short films he did for MGM such as the mesmerising The Ship That Died or The Face Behind the Mask. Most of those shorts are narrated by Carey Wilson or John Nesbitt in an exaggerated, dramatic, but still sober tone, recounting mysterious incidents in the way an enthusiastic explorer might tell a story to a group of old, cigar-smoking men. The manner in which these stories are told makes it clear that they have already happened. There is a time before the film, sometimes even a time before time. Fittingly, some of the shorts deal with historical topics such as the French Revolution or the history of radium in Romance of Radium. Those films are less about what is happening than they are about our position towards it. Most of all, they ask the question: Do we believe or not? The same is true for many feature films. In fact, the camera deliberately tends to arrive at the scene a bit too early or a bit too late. Actions have already taken place or will take place no matter what we see. Maybe some secrets can’t be shown at all. One could talk about an economy of means that was perhaps also formed during the short film years. Mr. Tourneur doesn’t show too much, he just shows what is necessary. There is an air of something unavoidable, as if many characters in his films were not presented as real beings but ghosts from a story that has already been told.

Mr. Tourneur has always been the Hollywood director I found most difficult to write about. There are many elements that escape us while being with his films and a high level of ambiguity to them. It seems fitting that Chris Fujiwara used introductory quotes by writers such as Maurice Blanchot or Hélène Cixous in his great book on Mr. Tourneur called Nightfall – writers who are capable of expressing things that escape the notion of expression. The retrospective didn’t make the task any easier since it was the first time I saw very strong films like Les filles de la concierge or Easy Living, which add new colours to the palette of the filmmaker. His very precise, comedic talent which shows in Les filles de la concierge is came as a particular surprise. In constant movement between different love stories, the film tells not only about class relations but more about the way gazes and perspectives are organised between desire and duty, expressing and hiding. It was also a pleasant surprise that the screening of the film (even if it was shown without subtitles) was packed. So there might be a hunger for discovery in Locarno. I wasn’t able to see Pour être aimé, another French comedy by Mr. Tourneur before he moved back to the USA. Despite those “new” facets, there was something that struck me in almost all the films and which shed a new light, or maybe a shadow on all of his films: The mode of resignation. Fujiwara mentions resignation in his book. He writes:

“For Tourneur, resignation isn’t a moral ideal in itself but comes as the inevitable result of the displacement of the hero in history (the prolonged aporia of Way of a Gaucho) or as a convulsion or exhaustion, like the confessions of characters in I Walked with a Zombie, The Leopard Man, and Great Day in the Morning and like the surrender of Vanning in front of the church in Nightfall. Tourneur’s sense of passivity and inevitability colors even his most straightforward and positive protagonist, Wyatt Earp in Wichita, who has to be goaded into action by events and who apologizes to his enemy in advance for the bullet with which he kills the latter in a duel.“

anne of the indies

It is an observation I find to be very true. The displacement of the protagonists as well as the feeling of exhaustion are on the one hand connected to what I described as the past tense in Mr. Tourneur, but, on the other hand, they are related to a form of resistance his cinema keeps hidden like a treasure. In this aspect of his cinema we can find an antipode to filmmakers like Steven Spielberg for whom wonder and overpowering mean everything. Mr. Tourneur tells about greater and truer miracles, but he never counts on the reaction of the protagonists to those miracles and supernatural happenings. Of course, in some of his films closer to the horror genre, most notably in Night of the Demon, there are close-up shots of people being afraid and staring at something unknown. However, there is a resistance to seeing supernatural and natural miracles as something extraordinary. This is most notably true for one of his best films, Stars in my Crown. In the film, a typhoid fever breaks out in a small village. It is one of the many sicknesses in the films of Mr. Tourneur. One finds many fragile and tender shots of people lying in bed, unable to move, pale and in a state between life and death or just between being able to perform or not as in Easy Living. It seems very fitting that the well-deserved winner of the Golden Leopard, Mrs. Fang by Wang Bing is also a meditation on sickness and death. Where Wang Bing finds a tender insecurity in the close-up of a dying woman, Mr. Tourneur tends to avoid lingering on a dying face because it might move and reawaken any second. Both filmmakers find each other in open eyes that are not awake.

Those sicknesses add to the feeling of exhaustion but they also help establish the recurring conflicts between resignation and hope. In Stars in my Crown a moral conflict between a priest and the new doctor develops as both struggle with helping the desperate people. After the disillusioned priest goes through a period of resignation, he performs a miracle on the doctor’s dying wife. Despite the musical crescendo accompanying this miracle, which almost recalls Carl Theodor Dreyer (the miracle, not the music), Mr. Tourneur does not call attention to this scene as one of an overpowering salvation. Instead, it seems very natural that saving lives is not only about bodies but also about souls. The true miracle follows and it is an act of humanity in the face of racism. The priest addresses the heart of Ku Klux Clan riders who want to slaughter a black man to gain his property. He reads them (from an empty piece of paper) how the man about to be murdered bequeaths them his belongings. After listening to the priest, consumed with a feeling of shame and guilt, the men leave the place. One can find a lot of belief in these shadows of resignation, since they are not about telling us something extraordinary has happened but just that it has happened. This means a great deal if we are talking about miracles.

stars in my crown

Mr. Tourneur constructs his strategies of resignation concisely. Often, establishing shots are a drama of their own. The films jump right into some actions leaving the viewer clueless as to how they got there; it is like the displacement of the protagonists becomes clear in the very first shot. For example, in Circle of Danger (Mr. Tourneur’s first independent production), one of the many films that begin on a ship, there is a scale to the opening which almost feels like a red herring. We are on a ship and the protagonist played by Ray Milland is in the middle of some masculine action. Those seconds on a ship that merely serves as a character background and has nothing to do with the narrative of the film, shows how much Mr. Tourneur is interested in the mood surrounding his character and how he constructs a feeling of being out of place not only for the protagonists but also for the viewer. Fujiwara writes about this scene: “As in I Walked with a Zombie, Out of the Past, and Appointment in Honduras, we have the feeling of having arrived late to witness a process already about to be concluded.” The stuffy atmospheres, the sweat, the shadows, the male shoulders and soft female voices add to a mixture of temptation, sickness and giving in. Many writers on Mr. Tourneur (apparently mostly male as the catalogue and the round table in Locarno unwittingly showed) mention that he loved to make his actors talk very silently and move slowly. The latter is, for example, also true for Manoel De Oliveira with whom Mr. Tourneur shares the sense of predestination as well as the poetic soberness of looking at it. A title of a never-realised film of Mr. Tourneur, Whispering in Distant Chambers, seems to best describe the way people talk in his films. Especially in Nightfall, where the voice of Aldo Ray is surprisingly soft and silent in the face of the brutalities he has to go through. Detachment on the brink of alienation creates a distance in accordance with a knowledge about life which will sooner or later come to an end. For better or worse. Mr. Tourneur also talks about this process in an interview on Appointment in Honduras: “But I noticed that actors in most films tend to shout. The same dialogue said half as loud is more memorable and intense. To be worthwhile, dialogue should be said naturally, the way we talk everyday. You need to make actors not declaim and when they talk loudly, they have a tendency to declaim.” In his casting choices, especially concerning male actors, Mr. Tourneur seems to look for the type of actor that is sure not to declaim: Dana Andrews, Robert Mitchum or Aldo Ray are perfect examples of this. One could rightly ask what all of this has to do with resignation. It is the understatement and somnambulistic way of movement that is true for the protagonists as well as the camera and the way those movements face miracles and dramas. Moreover, the films focus on an absence of hysteria when confronted with tragedy. It is not that any of those elements, be it the past tense, the half-light, the camera movements, the way of talking, or the establishing shots are special per se. However, the combination of those elements forms a broken unity aiming at moods and memories in distant chambers.

easy living

Resignation is also a way of concealing an immense capacity for romanticism. In many films “strange forces” are at work. They bring perdition or redemption. The protagonists protect themselves against those forces by treating them normally. Even Dana Andrew’s role of the scientist in Night of the Demon or Frances Dee’s nurse in I Walked with a Zombie are never truly naive when confronted with things they normally wouldn’t believe in. They just struggle for rationalism which is, for Mr. Tourneur, closely related to resignation. In Easy Living, a film which Mr. Tourneur did not particularly like although it contains some of his finest directing, the whole idea of rationalism versus supernaturalism is turned upside down. A sportsman and star is told he should stop playing football because of a heart murmur. Afraid of his demanding wife and insecure about his post-career life, he keeps his condition a secret and goes on playing. Here, the seemingly supernatural force is the most natural of all: The fading of the body. The supernatural lies in not accepting nature. So, the film narrates the same battle as many other films by Mr. Tourneur, yet the protagonist has to learn to believe in the natural instead of the other way around. In place of fear, a sort of sadness informs the picture. In a brilliant move, the film establishes a character who could be called a figure of resignation, the one who knows about all this days before the protagonists or the viewer, the one who has seen it all before: A cynical journalist-photographer happens to be in the right place at the right time and helps dedramatize every possible flicker of romanticism until the very last shot. He appears to comment on the reunion kiss: “Yeah, yeah.” There is a sad undertone in this. These characters appear in all of Mr. Tourneur’s films and are best condensed in the stage worker in the short The Rainbow Pass, which should have been part of the program but was left out. The film presents a Chinese stage play and focuses on a stage worker dressed in black whom everyone in the audience pretends not to see when he goes about his business in creating imagination in the most bored way imaginable. To speak in John Ford’s terms: These are the men that print the legend. Yet, they don’t believe in it. The question is rather, as another title of a Tourneur short proposes: What Do You Think?

Endlose Weite der Territorien: Die Ordnung der Träume von Johannes Gierlinger

Ich habe ein wenig gewartet mit diesem Text. Das liegt daran, dass ich Johannes Gierlinger kenne und wir uns über Filme austauschen. Mein Name steht auch im Abspann seines Films. Dennoch liegt es mir am Herzen, darüber zu schreiben, weil Die Ordnung der Träume einer der wenigen Arbeiten des bisherigen Kinojahres ist, die zugleich das Gefühl einer Existenz in unserer Zeit vermittelt, als auch einen Widerstand gegen dieses Gefühl zu formulieren versucht. Das Bemühen um Objektivität gegenüber dem Film kann ich meinerseits dabei nur versichern.

Wie sehr die scheinbare Abwesenheit, der für den Film so wichtigen Städte an Italo Calvino angelehnt ist, wie sehr manche Bildkomposition oder Formulierung an Chris Marker erinnert, wie sehr die ewige Reise eine des Intellekts ist oder eine des Körpers, interessiert Die Ordnung der Träume nicht. Denn diese Fragen und assoziativen Leerstellen einer möglichen Kritik versickern hin zu einem gemeinsamen Traum des Bildermachenden und der Zusehenden. Ein Traum, der beständig endlos scheint, nie wirklich, immer angriffslustig. Der Film hangelt sich entlang assoziativer Bilderströme, bedrohlicher Musik, plötzlichem Humor und theoretischen Gesprächen in zwei Frau-Mann-Konstellationen und hin zu einem „zu viel“, in dem man nichts mehr wirklich greifen kann, ein Fleckenteppich an Eindrücken. Immer wieder zeigt der Film Hände in Nahaufnahme. Sie tasten beständig, versuchen Dinge zu bauen oder festzuhalten.

Die Ordnung der Träume

Es ist ein scheinbares Flanieren auf der Suche nach Ordnung zwischen Städten, die nicht wirklich erzählt werden. Man spürt, dass die Kamera Bilder aus Wien einfängt, aus Indien, aber auch von anderen Orten. Dazu eine Erzählstimme, die in Gedankenströmen das begleitet, was wir sehen. Die Greifbarkeit dieser Orte und Bilder ist kein Kriterium, ganz im Gegenteil ist es ihr Verschwinden hinter einem Erfahrungswirbel, der den Filmemacher interessiert. Statt eines Traums von der Ordnung entfaltet sich ein Durcheinander der Imagination und dazwischen die Ansätze in diesem Chaos die Übersicht zu wahren. Am deutlichsten zeigt sich die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, wenn der Film ein Kapitel in seiner sowieso nie haltbaren Kapitelstruktur überspringt. Nicht das, was in diesem Kapitel hätte passieren können, ist entscheidend, sondern die Tatsache, dass man Kapitel überspringen kann. Wie soll ein Film eine physische Realität wiedergeben in einer Welt, in der Codes zwischen Blicken regieren? Wie soll sie sich an etwas festhalten, wenn alles immerzu weiter fließt? Was es in Die Ordnung der Träume sicher nicht gibt, ist Ordnung.

Zu diesem Treiben gesellt sich das Gefühl, dass alles was man hört, ein Zitat von etwas anderem ist, alles was man sieht, ist nur ein Begehren, jede Geste verweist immer aus sich heraus. So erzählt ein Protagonist an einer Stelle willkürlich Anekdoten aus dem Leben berühmter Schriftsteller. Honoré de Balzac habe 50 Tassen Kaffee getrunken, als er geschrieben hat. Hier und da wirkt der Text so, als gäbe es ihn nur wegen der Bilder. Darin könnte man leicht ein Problem erkennen, aber ist das ein Problem dieses Films oder der Welt, die er zeigt? Man darf keinen Fehler machen, so sehr sich der Film in politischen Statements ergreift, so sehr etabliert er auch ein Prinzip der Verführung. Nicht die brechtsche Verfremdung, sondern die Nahaufnahme von Augen regiert dieses Kino, das uns immer wieder sagt: Komm zu mir, lass dich fallen. So folgen wir einer der Protagonistinnen in einem Traum in einer stummen Zeitlupe in schwarz und weiß in den Wald oder lassen uns mit assoziativen Sprüngen von Bild zu Bild geleiten. Die Sinnlichkeit ist in sich schon ein Widerstand. Aber wohin fällt man? In den Diskurs des Unberührbaren und in ein immer weiter suchendes Argumentieren, das in der Suche selbst zum Material werden will. Am Anfang und am Ende des Films steht ein Radio. Ein Medium, mit dem nach Verbindungen gesucht wird. Kurz vor dem Ende sieht man ein Filmteam bei Dreharbeiten. Vielleicht ist das Kino die Maschine, die Ordnung in unsere Träume bringt? Vielleicht muss man weitersuchen. Was man sieht, ist die Unwirklichkeit.

Die Ordnung der Träume

Aber in dieser Unwirklichkeit findet sich eine Gegenbewegung zur vom Film evozierten und thematisierten Trance. Vielleicht ist es keine Gegenbewegung, sondern ein anderer Aspekt in der gleichen Richtung. Denn die Bilder wirken wie aus einer anderen Zeit. Nicht nur, weil Gierlinger auf Film dreht, was natürlich eine enorme Antwort auf die (digitale) Oberflächlichkeit dieses Fragmentenrauschs ist, sondern auch, weil er Bilder zeigt, die es so nur in einer anderen Welt geben kann, einer Welt, die sich wehrt: Menschen, die auf der Straße protestieren (rote Fahnen), Gespräche in Kaffeehäusern, Bücher, ein Klavier, ein ruhiger Moment an einen Baum gelehnt im Einklang mit dem Sonnenlicht. Dazu die Kleidung der Figuren, die man eher vor 50 Jahren in Frankreich erwarten würde. Selbst die Bildsprache passt sich dieser Methodik an, etwa durch die häufigeren Ransprünge und eine große Vorliebe für das Profil der Figuren. Inhaltlich geht es etwa um das Schreiben von Briefen. Es ist das Analoge, das hier erträumt wird. Dabei umgeht Gierlinger die Nostalgiefalle, in dem er alles in einer unwirklichen Dringlichkeit zeigt. Dasselbe gilt für die theoretischen Gedanken, die zwar formuliert werden, aber von der Präsenz und den Zweifeln im Bild aufgefangen werden, sodass man den Film erleben kann und nicht erdenken muss. Nirgends eine Spur von der Welt, in der wir leben. Es ist als würde Die Ordnung der Träume die Erfahrung einer Welt formulieren gegen die er sich wendet. Damit ist er auch Ausdruck dessen, was wir heute notgedrungen bereits als revolutionäre Geste wahrnehmen müssen: Das Nutzen analoger Möglichkeiten und das Träumen. Als könnte man nur blicken, wenn man schon strauchelt.

Aber was ist dieser Blick? Diese Frage steht wohl im Kern dieser unordentlichen Träume. Gierlingers Blick streift umher, findet immer schon den nächsten Blick im vergangenen und vor allem den vergangenen im nächsten Blick. Auch wenn der Film mit dem Motiv des Flaneurs spielt, geht es mehr um die Suche. Es ist nur die Vielfalt und Vieldeutigkeit der Antworten, die den Eindruck vermitteln, dass gar nicht gefragt wird. Der Film fragt trotzdem und das muss man ihm hoch anrechnen. Er träumt eben.

Liebesbrief an Jeanne Moreau

Liebe Jeanne Moreau,

ich habe dich gesehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob du auch mich gesehen hast. Es muss in einer regnerischen Nacht gewesen sein, irgendwo, wo wir nicht zuhause sind. Ich muss dir einfach schreiben. Vielleicht sitzen wir eines Tages auf einem Golfplatz und du liest mir diesen Brief vor. Ich verspreche dir, dass ich mich daran erinnern werde, dass ich ihn dir geschrieben habe.

Eva Losey
Ich bin mir nicht sicher, ob du jemals kleiner bist, als die Leinwand, die dich zu mir bringt. In vielen Filmen bist du allein mit dem Licht und dem Schatten, selbst wenn du von Männern umgarnt wirst. Du wartest an Ufern, du scheinst nie auf etwas zu warten, sondern immer im Warten selbst zu existieren. Oft sind es reiche Männer, schöne Männer, die um dich tanzen. Du bist zwischen den Armen von Jean Gabin und Lino Ventura gehangen. Vielleicht muss das so sein in Frankreich. Aber ihrer maskulinen Art bist du mit einem Trotz der verführerischen Verachtung begegnet. Mit deinem herunterhängenden Mundwinkeln (ich fand es immer passend, dass du einen Film über Lilian Gish gemacht hast, die in der berühmtesten Mundwinkel-Szene der Filmgeschichte gespielt hat, ja du bist eine zerbrochene Blüte, aber auch ein blühendes Zerbrechen), der hohen Stirn und dem Gang, dem man Stunden zusehen kann. Für mich hast du deinen Kopf immer leicht im Nacken, deine Nase etwas in der Luft. In der Sonne, im Regen, in der Stadt. Du bist der Widerstand im Regen. Der Widerstand gegen die eigene Schwäche, gegen die Blicke, die dich verfolgen. Manchmal schäme ich mich fast, dich anzusehen. Du blickst zurück, ohne mich anzusehen. Du bleibst unerreichbar.

Du trägst eine natürliche Schwere in dir, die mal gelangweilt wirkt, mal arrogant, mal zerbrechlich, mal leidenschaftlich, mal aufrichtig und mal geliebt. Aber du hast auch eine leichte, verspielte Seite, ich habe sie gesehen zwischen zwei Männern, mit Musik, mit Mützen. Hast du mir da zugeblinzelt?

Eleveator Gallows
Du hast zu oft traurig gesagt: Je t’aime. Kann ich dir noch glauben? Ich bin mir da nicht sicher und jetzt muss ich dir ein Geständnis machen. Ich habe dein Tagebuch gelesen. Ich weiß, dass der Mann, der den Schuhfetisch hat dich mag. Der dicke Anwalt, der sich kaum aus seinem Bett erheben kann, mag dich auch. Du verwirrst mich. Ich versuche nicht eifersüchtig zu sein, aber ich würde dir gerne meinen Garten zeigen. Außerdem würde ich dir gerne meine neue Waschmaschine präsentieren, wenn du mal wieder gelangweilt in deiner Wohnung sitzt. In deiner Langeweile liegt etwas, was einen Blick in dich ermöglicht. Du öffnest dich für Zeit-Bilder, dein Spiel existiert immer mit der Zeit, die man nicht mehr sehen kann. Vielleicht hattest du deshalb Probleme älter zu werden. Du singst dann: Each man kills the thing he loves. Ich mag das, es passt zu dir.

Ich muss dir noch etwas gestehen, vielleicht ist es blöd: Ich mag dich lieber in schwarz und weiß als in Farbe. Es scheint für dich gemacht, es betont den Schatten unter deinen Augen, die minimalen Regungen in deinem Gesicht, die mir sagen, dass du dort ,wo du bist, nicht du sein kannst. Die Farblosigkeit unterstreicht deine Traurigkeit, die so viel Würde in sich trägt. Nur du kannst bei deiner Hochzeit schwarz tragen. Ein Trauerzug, wie alles an dir und mir dir, sich abwendend, hinfort fahrend in das Unbewusste einer Sehnsucht.

In der reflektiert ein Licht, das kein Licht kennt.

Nathalie Granger

Camera Lucida: La Frontière de l’aube von Philippe Garrel

Eine Figur in einen Kader stellen. In einen Kader, in dem nichts stabil ist. In diesem Spannungsfeld zwischen dem freien, suchenden Blick und seiner Stabilisierung arbeitet Philippe Garrels La Frontière de l’aube, einer der herausragenden Filme Garrels jüngeren Werks. Der junge Fotograf François (Louis Garrel) will die berühmte Schauspielerin Carole (Laura Smet) fotografieren, er will ein Bild von ihr, er will sie halten. Die Ankunft in des Fotografen an ihrer Wohnung wird von der Kamera von William Lubtchansky leicht zittrig empfangen. Das, was interessiert, ist nicht im Kader. Straßenpfosten stehen im Weg, sie versperren den Blick, es gibt einen Schwenk, so richtig lässt sich kein Bild finden, dabei ist dieses Bild doch so entscheidend für das Kino und die traurige Liebe bei Philippe Garrel, der aus der Zeit gefallen etwas in uns trifft, dessen Existenz wir gerne leugnen: Das Gefühl und die Notwendigkeit von vergänglichen Bildern, die wir machen, um in anderen, eine Zukunft zu sehen.

La Frontière de l’aube
Im Treppenhaus verharrt der Blick kurz auf dem Schatten des Fotografen an der weißen Wand. Bereits gestorben, seiner Fleischlichkeit entzogen bevor er wieder ins Bild rückt, als wäre der Kader seine Rettung und sein Ende. Immer wieder im Film wartet die Kamera auf ihn, der Kader existiert, aber wird er ihn finden, nur durchkreuzen oder wird er ihn selbst gestalten? Als François im Schwarz des Flurs verschwindet, erahnt man bereits, dass er sich dem Kader selbst dann entziehen wird, wenn er in ihm steht. Nein, was dieser Mann sucht, ist nicht ein Im-Bild-Sein, sondern ein Bild, in dem er sein kann. Frei nach Leonhard Cohen: Er kann nicht in einem Haus leben, in dem sein eigener Geist, den Kader heimsucht.

Denn das ist der Kader bei Garrel: Ein Heim. Folgerichtig sehen wir zum ersten Mal da Gesicht des jungen Mannes, als er durch die Rahmung einer Tür die Frau erkennt, die ihm dieses Heim in einer Kadrierung verspricht. Es ist der Moment des Verliebens, der nicht geschieht, der nie passiert, der da ist, weil er erblickt wird. Nichts am Gesicht von Louis Garrel verrät uns, dass er sich verliebt, aber die Tatsache, dass sein Gesicht zum Bild wird, lässt uns spüren, dass sich etwas verändert hat/verändern könnte. Es ist nicht unbedingt die Arbeitsweise der Nahaufnahme, die Garrel zu dieser motiviert. Es ist ihre Positionierung im Geschehen und ihre Verweigerung. Geduldig erwartet er den Moment, in dem sich darin etwas zeigen könnte. Die erste Nahaufnahme von Carole dagegen kippt, sie hält nicht, etwas stört die perfekte Ruhe des ersten Moments. Sie sagt dem perfekten Bild: Es gibt dich nicht. Sie windet sich mit einer Neigung, die Kamera verfolgt sie, verliert sie kurz. Etwas ist instabil, es ist nicht leicht, eine Figur in den Kader zu stellen. Die Instabilität der Figur verunmöglicht die Illusion einer Ewigkeit. Erst wenn sie ins Bild kommen würde, wäre sie wirklich verletzbar und sich ihrer Flüchtigkeit bewusst.

Aber wenn sie nie wirklich dort ist? Dann, so zumindest in La Frontière de l’aube, beginnt ihr nie gemachtes Bild sich zu verformen und jagt die vergängliche Liebe in einen Horror des nie gemachten Bildes. Denn der junge Fotograf bekommt das Bild dieser Frau nie und bemerkt erst ihre Bereitschaft für dieses Bild, als er bereits nach einem anderen gesucht hat. Als er sich Carole entzieht, nachdem er und sie von ihrem Ehemann überrascht werden, fällt sie in eine heftige Depression. Sie bringt sich um und voller Pillen sagt sie zu sich, dass sie ihn noch einmal sehen wolle. Sie will zu ihm und in seinen Armen zu einem Bild der Vergänglichkeit werden. Ein Bild, das sie nicht mehr erreichen kann genauso wenig wie Lubchtansky das Bild ihres Todes zeigen könnte. Denn ohne Kader ist sie nicht wirklich gestorben für die Kamera.

La Frontière de l’aube
François’ neue Beziehung zu Ève (Clémentine Poidatz) und deren Schwangerschaft macht ihn selbst zu einem Bild, ein Bild, das er von sich selbst nicht sehen wollte. Es ist ein wenig so, als würde er gerne ein Geist bleiben, ein durch die Räume wandelnder Schatten, der auf der Suche nach einem Bild bleibt, dass er selbst machen will. Darin kann man eine Flucht vor Verantwortung sehen oder aber vor dem Leben selbst. Garrels Film zittert hier entlang einer Flucht. Oft liest man über Garrel, dass es in seinen Filmen immer um Selbstmord geht. Das mag stimmen, aber der Selbstmord ist nur Ausdruck einer ungreifbaren Verzweiflung, einer Unüberwindbarkeit und der fehlenden Bilder. In La Frontière de l’aube wird der Selbstmord zu einer letzten Hoffnung auf ein Bild. Das Bild der sterbenden Liebenden, vereint und getrennt zugleich.

Was es braucht für einen Kader:

a: Einen Rahmen: Bei Garrel sind das Türen, Fenster, Gitter und ein heimgesuchter Spiegel. Das erste Bild, dass François und Carole in einem Kader fasst, blickt durch die geöffneten Jalousien des Balkons. Sie verweilt dort kaum, alles ist immer zu von einer Unruhe beseelt, die der gesuchten Harmonie entgegentritt. Als wollte man atmen, aber spüre seine Luft nicht mehr.

b: Die Zweisamkeit und Isolation derjenigen Person, die den Kader baut und derjenigen, die darin zum Bild werden soll. So wirft Carole ihre Gäste und Freunde aus der Wohnung, um das Foto, machen zu können. Es gibt keinen wirklichen Grund für dieses Bild, außer dass es den Beginn einer möglichen Zukunft markiert und deren Scheitern. Später als François und Carole auf dem Balkon stehen und versuchen ein Bild zu kreieren, erinnert wiederum die Kadrierung von Lubtchanskys Kamera an L’amour fou von Jacques Rivette, ein Film den Williams Ehefrau Nicole Lubtchansky geschnitten hatte (so viel zum Thema der Wiederkehr im Film). In L’amour fou geht es unter anderem um die ideale Welt einer Zweisamkeit und die drohende, aktive Zerstörung dieser. Der Kader braucht die Isolation. Flucht aus der Welt, mit ihr verbunden über einen winzigen Balkon, auf dem man sich noch immer verstecken kann vom Bild, um Liebe zu machen: Man wird zum Bild des Versteckens und der Einsamkeit.

La Frontière de l’aube
c: Die Zeit, die es braucht bis man in einem Kader steht. Sie hat zu tun mit einem Vertrauen zwischen Kamera und Figur, zwischen den Figuren und dem Einklang und der Harmonie, mit der diese einen Schritt machen hinein in die eigene Vergänglichkeit. Die Manifestation einer in Blitzen belichteten Flüchtigkeit, kaum da, aber nur dann sichtbar. Später im Film verharren die Liebenden und die kranke Carole in diesen Bildern, die sie zusammen nicht machen konnten. Selbst als die Frau in einer psychiatrischen Heilanstalt gefesselt wird, vermag sie nicht zum Bild zu werden. Ihr Antrieb ist immerzu die Flucht, sie dreht sich wie ein zerbrechlicher Wind in und aus den möglichen Bildern, nach denen sie sich sehnt.

d: Eine Trennung, die sich zwischen Betrachter und Bild offenbart, zwischen dem Moment des Bildes und dem Augenblick seiner Betrachtung, zwischen der Kamera und der Figur. Als Carole auf einer Party mit einem anderen Mann intensiv spricht, wird François so kadriert, dass ein Stück Wand zwischen ihn und seine Lebensgefährtin ragt. Später erscheint sie unscharf im Bildhintergrund. Das mag wie eine recht gewöhnliche Art der Inszenierung anmuten, aber Garell zeigt hier auch eine Trennung, die selbst zu ihrem eigenen Bild wird statt ein Bild zu provozieren. Zumindest nicht vor dem Tod.

e: Geister, die im Rahmen eine Illusion werden, die Illusion ihrer Ewigkeit, in der sie sich der Welt für die Sekunde einer Möglichkeit zuwenden: Verliebt, verängstigt, zufällig, präsent.

La Frontière de l’aube
An einer entscheidenden Stelle des Films greift der liegende François mit der Hand nach oben in die Kamera. Er greift nach dem Bild, das er nicht haben kann. Die nächste Einstellung zeigt ihm auf dem Friedhof. Keine Mumien, nur versteckte Verwesung unter der Erde.

Die Liebenden bei Garrel finden diese notwendigen Bilder einer möglichen Zukunft oft nicht oder verzögert. Der Kader wackelt und zittert, weil eines der genannten Elemente oder alle zusammen nur ein Kartenhaus ergeben. In La Frontière de l’aube erscheint Carole François im Spiegel. Sein Spiegelbild wird zu ihrem Bild. Der Kader, in dem er sich selbst erblicken könnte, trägt ihre Konturen. Hier wird der Kader bei Garrel nicht nur zu einem Heim, sondern einer Heimsuchung. Sie bittet ihn zu kommen. In den Kader, in das Bild. Ein Happy-End.