Sharunas Bartas und die Angst vor dem Wort

In den Filmen von Sharunas Bartas gibt es, trotz einer leichten Öffnung in seinen letzten beiden Filmen Indigène d‘Eurasie und Peace to us in our dreams, eine anhaltende Furcht vor dem Wort. Es ist eine Angst, die weit über diese ewige und frustrierende Diskussion zur Essenz des Kinos hinausgeht. Ganz oberflächlich könnte man sagen, dass die Figuren (sie sind eigentlich Menschen) in den Filmen von Bartas kaum oder in Filmen wie Koridorius gar nicht sprechen. Sie verwenden nicht ihre Sprache, um zu kommunizieren. Haben sie eine Sprache, haben wir die Wörter, hat irgendwer ein Wort? In diesem Sinn handeln die Filme immer auch vom philosophischen Problem des Ausdrucks, jener Begegnung aus einem Gefühl und seiner Bestimmung, der Versuch den inneren Eindruck durch Worte zu veranschaulichen. Vieles im Kino von Bartas stellt die Frage, wozu man Worte braucht, wenn es doch Bilder und Töne gibt. Daran hängt zunächst der Aspekt einer Unmöglichkeit, einer Unfähigkeit.

Peace

In Peace to us in our dreams kommt eine Bekannte oder Verwandte des Protagonisten zu ihm. Wer genau sie ist, muss man sehen oder hören, es wird nicht gesagt. Sie sitzen zusammen und sie will ihm etwas erzählen. Aber kurz bevor sie es sagen kann, bricht sie in Tränen aus. Sie schafft es nicht. Ihr ganzes Gesicht zittert unter der Last des Unausgesprochenen, die eigentlich eine Last des Potenzials der Sprache ist. Häufig gewinnt Bartas einen unheimlichen Druck, eine drückende Konzentration in den Augen und Mündern, die in der Furcht vor den Worten leben, die sie in sich pressen, damit sie nicht lügen, damit auch Bartas nicht lügt, denn man darf nicht vergessen, dass es an ihm wäre, diesen Figuren eine Stimme zu geben. Es ist das Zurückhalten, das für das sensibilisiert, was zurückgehalten wird. Als wären die Worte erst das Bewusstsein, ein ungerechtes Bewusstsein mit der Gefahr eines Missverstehens und einer Offenlegung. Bilder sind (bei Bartas) oft sicherer, gerade weil sie gefährlicher sind. Sie haben mehr Respekt und sie haben in sich bereits diese Unmöglichkeit des Ausdrucks gebrochen (in ihrem Licht), sodass aus dem Zweifel eine neue Kraft entstehen kann.

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So gibt es zwei dominante Einstellungsgrößen im Werk des Filmemachers: Die Nahaufnahme (eines Gesichts) und die Großaufnahme (einer Landschaft oder eines Ortes). In beiden hängt Nebel. In beiden wird uns ganz klar gemacht, dass es Wahrnehmungsbilder sind, beschränkte Bilder, Illusionen. Im Gesicht liegt dieser Nebel in den häufig mit Tränen benetzten Augen. Aus diesen Blicken, wie jenen von Yekaterina Golubeva in Few of us oder Koridorius, die meist aus gesenkten Häuptern und zunächst geschlossenen Augen emporsteigen, entsteht eine Sehnsucht und eine Sprachlosigkeit zugleich. Die Unfähigkeit des verbalen Ausdrucks ist hier auch die Fähigkeit einer Sinnlichkeit, die im Vermeiden einer Aussage in den Fokus rückt. Aber es ist ein gefährliches Spiel, denn die Angst vor dem Wort hängt an dieser schwierigen Grenze im Werk von Bartas. Es geht um die Unterscheidung zwischen dem Blick nach Innen und dem Blick in die Welt. Wörter sind gelesen immer Teil einer Imagination, wogegen Bilder ohne diese auskommen können. Die Angst vor dem Wort ist in diesem Sinn auch der Versuch etwas zu sehen statt sich selbst in diese Welten zu projizieren. Nur im Offenlassen der Gesichter und ihrer Bedeutung, droht sich eine andere Form der gefürchteten Identifikation zu etablieren. Man sieht sich selbst in den Gesichtern und dann sieht man wieder nichts oder man sieht nicht richtig, denn wer sich selbst auf der Leinwand sieht, sieht nicht den Film wie Pedro Costa einmal treffend formulierte. Der Kuleschow-Effekt, der in vielerlei Hinsicht für die Kraft des kinematographischen Sprache steht, hat auch eine Kehrseite. Er zeigt auch die Ohnmacht dieser Sprache und die Gefahr des magisch erhöhten dritten Bilds, also jener unsichtbaren Kraft, die zwischen zwei Einstellungen entsteht und die eine ungreifbare poetische, politische oder emotional-psychologische Bedeutung in sich tragen kann. Das Missverstehen eines Blicks im Augenblick des nächsten Blicks. Diese Tendenz, die das Bild zugunsten einer Zeitlichkeit verdrängt ist in das Kino eingeschrieben, aber es gibt Wege, die das Bild zu einer Notwendigkeit machen und somit den Fokus hin zu einem tatsächlichen Zu-Sehen und Zu-Hören zu ermöglichen.

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Eine Methode von Bartas ist dabei sicherlich die Deformation. Sie beginnt beim Casting und führt zu Bewegungen und Oberflächen, die den Blick fordern, die ihn auffordern hinzusehen bevor das nächste Bild kommt, das wiederum einen neuen Blick auf den bewussten Blick legt. Und selbst wenn Bartas mitunter sehr markante Gesichter und extreme Einstellungen auswählt, so entsteht diese Konzentration auch bei eher unauffälligen Gesichtern und zwar genau, weil nicht gesprochen wird, obwohl man es erwartet. Die Deformation bei Bartas ist also keine Frage der zahlreichen Betrunkenen oder Behinderten (man denke an die bewegenden Szenen eines Mannes ohne Beine in Praejusios dienos atminimui), sondern seines Blicks, der ohne Worte auskommen will. Und so spüren wir ein Interesse, das die Textur eines Gesichts fühlbar macht und die unvermeidliche Macht einer Landschaft, die Figuren schlucken kann. In Septyni nematomi zmones gibt es eine Szene auf einer Party, bei der zwei Frauen mit verlockenden Blicken aus dem Bild schauen. Wen sie ansehen ist unklar, auch wenn der nächste Blick der Kamera auf den Protagonisten fällt. Es ist praktisch immerzu unklar in diesem Spiel der Blicke, das auch eine Antwort auf das Fehlen der Worte ist, ob eine Einstellung bei Bartas subjektiv oder objektiv ist. Es ist nur klar, dass sie ist. In dieser Verunsicherung bleibt einem nichts anderes, als das Bild für sich zu betrachten und die Relation zwischen zwei Bildern weniger als narrative (ein schreckliches Wort) oder raumdynamische Folge zu fassen, sondern als assoziative Form einer Poesie der Bilder und Töne. Damit führt Bartas eine Sprache, die sich bereits bei Meistern des Stummfilms wie Jean Epstein, Carl-Theodor Dreyer oder Victor Sjöström gefunden hat auf ein neues Level. Diese Blicke gehen immer zugleich nach außen, in die Welt, off-screen und in sich selbst. Wenn man davon spricht, dass Bresson die Close-Ups von Dreyer nach innen gerichtet hat, dann muss man sagen, das Bartas sie geteilt hat. Es erstaunt daher keineswegs, dass Bartas mit einem Film eine ethnographische Forschung betreiben kann und dabei seine eigene Seele entdeckt. Freedom oder Few of us wären perfekte Beispiele dafür.

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Die Vermischung der so falsch getrennten Spielarten Dokumentarfilm und Spielfilm ist bei Bartas daher eine absolute Notwendigkeit. Die Furcht vor den Worten ist auch die Suche nach der richtigen Distanz zu den Figuren. Man denke nur an seine großartige Sequenz in Trys dienos, in der zig Geschichten hinter Fenstern vorgeschlagen werden, aber keine wirklich erzählt werden kann. Häufig ist die Kamera in einer Entfernung, die uns nichts erklärt und gerade dadurch, weil sie eben doch nah genug ist, eine Lust am Sehen entfaltet. Sobald ein Wort gesprochen wird, kann es nicht mehr ausgelöscht werden. Es hängt wie eine Charakterisierung neben, über und in den Figuren. Es geht auch um die Falschheit von Worten an sich. Wenn jemand spricht, dann ist das oft ein Stottern und Murmeln, ein Schreien und Flüstern, in dem das Material der Sprache, die Präsenz weit und dick über den Inhalt gestülpt wird. Am Ende von Peace to us in our dreams scheint sich Bartas, der in Indigène d‘Eurasie spürbar große Probleme mit den Dialogen hatte, aus dieser Unsicherheit zu befreien. Er wagt es, etwas zu sagen, was er für richtig hält. Es ist folgerichtig, dass er selbst die Figur spricht, die sich damit womöglich angreifbar macht. Er schafft es, dass seine Worte zugleich für sich existieren und als Worte, die gesprochen werden. Es ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch, dass etwas gesagt wird. Bartas stellt immer wieder die Frage: Wie kann man sich sicher sein? Wie kann man eine Aussage treffen?

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Er unterscheidet auch ganz bewusst im Schauspieler zwischen dem Sein und dem Spielen. Es geht ihm um eine Betonung von Körpern und Gefühlen, die sich hinter Worten verstecken wüden. Dabei entsteht ein merkwürdiges Paradox, denn gewissermaßen versteckt sich Bartas natürlich auch hinter seinem Schweigen. Vielleicht hat er sich deshalb dafür entschieden, einen Schritt in die Sprache zu gehen. In einem Interview sagte der Litauer, dass er 20 Jahre gebraucht habe, um derart glaubwürdige Dialoge hinzubekommen. Diese Aussage zeigt sehr deutlich, dass die Angst vor dem Wort bei Bartas kein Selbstzweck war und ist. Trotzdem ist sie auch ein politischer Aspekt, denn aus der Poetik der Wortlosigkeit entsteht eine Politik. Sie bewegt sich in ähnlichen Bahnen wie die Ziellosigkeit in seinem Trys dienos und das Warten in Korridorius. Das Nicht-Sprechen ist auch eine Form der Machtlosigkeit, der unklaren Verhältnisse. Bartas wird von vielen neben Béla Tarr als der Filmemacher des post-sowjetischen Zustandes gesehen. Einem Zustand, in dem zum einen der Zweifel an der Repräsentation eine äußerst wichtige Rolle spielt, der Zweifel an Worten nicht nur inbegriffen, sondern vordergründig. Die Wahrheit der Dinge kann nicht mehr in der Rhetorik liegen. Darüber hinaus aber ist dieser Versuch, das Potenzial einer Lüge zu umschiffen, auch ein Zustand des Verharrens, der Unmündigkeit von Menschen.

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Bei Bartas gibt es diese Machtlosigkeit in vielen verschiedenen Facetten, häufig jedoch im Angesicht einer Gewalt, die erduldet wird, damit sie nicht noch schlimmer wird. Eine solche Gewalt gibt es beispielsweise zwischen den beiden Handpuppen mit denen Valeria Bruni-Tedeschi in A Casa spielt. Es sind Puppen, die häufig im Werk von Bartas auftauchen, sprachlose, ja leblose Gesichter und Körper aus Holz oder Stoff, die über eine Art Pantomime (nie durch Bauchrednerei bei Bartas) zum Leben erweckt werden oder nur als starre Beobachter auf einem Regal sitzen. Zwei Puppen, die sich schlagen, haben keine Kraft zu sprechen. Und weil diese Puppen genauso wie die Menschen bei Bartas nicht sprechen, ist eine Berührung der einzige Weg einer emotionalen Mitteilung. Diese Berührungen kommen im Kino von Bartas entweder einer Ewigkeit oder einer Explosion gleich. Es sind Umarmungen oder Schläge. Jede andere Berührung ist der Blick, nur die Idee dieser Berührung und das flirrende Loch, dass zwischen dieser Erwartung und dem Warten darauf entsteht.

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Wie kann man über diese Bilder und Töne bei Bartas schreiben? Wie kann man ihm mit Worten begegnen, ohne seine Weltsicht in Frage zu stellen? Wie kann man sich diesem Kino annähern, bei dem einem die Worte fehlen? Es ist kein neues Problem, wenn man sich fragt wie man über Bilder sprechen kann, aber mit Bartas gibt es bereits eine Antwort: man kann nicht. Höchstens, wenn man sich ein wenig lächerlich machen will. Aber wie man es kennt von den zahlreichen misslungen Versuchen über die eigenen Gefühle zu sprechen, so findet sich vielleicht auch in diesem Versuch der notwendige Hauch einer abstrakten Annäherung, die Bartas zwar nie erklären kann, aber hier und da empfindet.