Woher kommt Musik? Kreatives Schaffen in Mahler auf der Couch

Die klassische Symphonie ist ein Orchesterstück in vier Sätzen: schnell, langsam, mittelschnelles Menuett oder schnelles Scherzo und ein Finale. Ein relativ einfaches Schema, nach dem sich sehr schnell eine Komposition anfertigen lässt. Joseph Haydn hat 104 Symphonien komponiert, Wolfgang Amadeus Mozart in seinem kurzen Leben über 50. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich mit dem Schaffen Ludwig van Beethovens (insbesondere ab der 3. Symphonie Eroica) die Erwartungshaltung des Publikums an ein solches Werk. Es waren keine Stücke mehr gefragt, die streng den althergebrachten Schemata folgen, jedes Stück musste individuell und besonders sein. Diese Veränderung ist programmatisch für unsere heutige Wahrnehmung von klassischer Musik und klassischen Musikern.

Was ist ein Musikstück? Was ist ein Komponist und welche Bedeutung schreiben wir ihm zu? Gibt es so etwas wie ein Genie? Wie kommt es, dass neben der Musik plötzlich der Komponist als Individuum von solcher Bedeutung für uns ist?

Plötzlich kommen Fragen nach dem Prozess des Komponierens auf: Was muss in einem Menschen vorgehen, um Musik komponieren zu können? Ist es Eingebung? Sind es psychologische Prozesse? Und plötzlich kommt der Begriff des Genies auf; plötzlich kommt es auf der einen Seite zu einer Verklärung des Künstlers. Auf der anderen Seite jedoch entwickeln sich Theorien, welche die inneren emotionalen und kognitiven Prozesse eines Menschen untersuchen und mit der Zeit die Bilder von angeborener Standeszugehörigkeit oder Kriminalität verdrängen. Wie steht es mit angeborenem Talent?

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Viele Fragen und wenige Antworten darauf, deshalb scheint es gar nicht verwunderlich, dass es auch heute noch von relevant sein kann, einen Komponisten zum Psychologen zu schicken (und sei es nur fiktiv). Genau das machen Percy und Felix Adlon im Film Mahler auf der Couch: Nach einem Seitensprung seiner Ehefrau Alma sucht der Komponist Gustav Mahler Rat bei Sigmund Freud. Bei dieser Personenkonstellation scheint die Gefahr groß, in eben jene verklärenden Sphären abzuschweifen, wie es so viele kommerzielle Biopics tun. Allerdings gelingt es den Regisseuren, dieser Falle größtenteils zu entgehen.

Vielmehr beginnt der Film zwar im Stile eines historischen Films, doch scheint er sich nach und nach diesen Ansprüchen immer weiter zu entziehen. Die abgebildete Wiener Gesellschaft, die eigentlich mehr einem Konglomerat aus Künstlern und Mäzenen verschiedenster Altersklassen und Berufsfelder gleicht, scheint sich einer zeitlichen Einordnung zu entziehen. Zwar sprechen die Interieurs der Häuser und die Kleidung der Personen eine eindeutige Sprache, doch werden sie durch den Stil des Films, in dem Szenen immer wieder durch Einschübe von Interviews (inklusive Bauchbinden), plötzlichen Jump-Cuts und Verwendung von unnatürlicher Beleuchtung aufgebrochen werden, konterkariert. Diese gewagte Kombination funktioniert nicht immer und oft scheint sich der Film gewaltig im Ton zu vergreifen, doch ermöglicht sie uns eine Wahrnehmung des Gustav Mahler als menschliches Individuum einerseits und als Sinnbild für den künstlerisch-kreativen Menschen andererseits.

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Es wird also zwei Fragen nachgegangen, die sich schlussendlich doch als eine erweisen: Was für ein Mensch war Gustav Mahler? Wie ist kreatives Schaffen möglich? Dass dabei auch das Bild eines Genies und das Bild des Genies im Allgemeinen kritisch hinterfragt wird, ist unausweichlich. Es ist schade, dass es Mahler auf der Couch am Ende nicht völlig gelingt, sich von einer verkitscht-idealisierten Darstellung des Künstlers zu entfernen. Dennoch bleibt die Fragestellung interessant. Wir erleben Mahler in Zeiten des Leids und (sehr wenigen) Zeiten des Glücks, wobei es dem Film vor allem im Zweitgenannten gelingt, eine emotionale Tiefe zu erreichen, die für kurze Momente die Antworten auf obengenannte Fragen in greifbare Nähe rücken lässt. Als Mahler seiner Frau den Beginn des Adagietto aus seiner fünften Symphonie überreicht und beim Lesen der Partitur in Almas Kopf die Musik dazu entsteht, können wir als Zuschauer nur mit ihr antworten: „Himmlisch, Gustav.“. In diesem Moment wird der Musik Mahlers jener Platz eingeräumt, den sie braucht, um sich entfalten zu können, das Schauspiel von Johannes Silberscheider und Barbara Romaner trägt sein Übriges dazu bei. Leider erreicht Mahler auf der Couch nur selten eine solche Tiefe. Es hätte dem Film vermutlich gut getan, der Musik etwas mehr Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung zu geben, wie es zum Beispiel Luchino Visconti in Morte a Venezia macht. Ich sage das nicht, weil ich so gerne Mahlers Musik höre, sondern weil solche Momente uns etwas zu verstehen geben, was man nicht in Worte fassen kann. Es wird für uns greifbar, was Musik ist, was es bedeutet, Musik zu hören und vielleicht sogar, woher Musik kommt.

Mahler 2

Natürlich kann man versuchen – und das wird in Mahler auf der Couch auch getan – über Psychologie solchen Fragen auf den Grund zu gehen, doch wird dieser Weg zu keinem Ergebnis führen. Das Zusammenleben von Alma und Gustav Mahler wirkt wie ein einziger kreativer Schaffensprozess; es ist das Betrachten des Anderen, das uns wieder in die Selbstreflexion zurückwirft, aus der wir schließlich unsere kreative Kraft schöpfen können. Dass der psychoanalytische Prozess des Sigmund Freud der Katalysator zum Auslösen einer tiefen Selbstreflexion wird, ist ein guter Einfall, doch begehen Percy und Felix Adlon den Fehler, alle Fragen, die Mahler an sich selbst stellt, mit einer einzigen Antwort aufzulösen. Alle Motivation des Handelns eines Menschen auf einen Punkt zurückzuführen wirkt nicht nur absurd, sondern leistet dem Rest des Filmes (trotz seiner Makel) keine Genüge.

So hinterlässt Mahler auf der Couch am Ende einen fahlen Beigeschmack. Zwar bringt er uns einige interessante Fragestellungen nahe, doch schafft er es nicht, sich völlig darauf zu fokussierten und begnügt sich leider auch nicht damit, Fragen unbeantwortet zu lassen.