Umdichten zum Undichten: POETRY von Lee Chang-dong

von Andrey Arnold

Eine sehr weit gefasste Definition von Poesie könnte folgendermaßen lauten: Poesie ist das Gefühl, das entsteht, wenn etwas den Eindruck erweckt, mehr zu sein als das, was es ist. Im Kino heißt das auf einer ganz basalen Ebene: Wenn ein filmisches Element über sich selbst hinausweist. Wenn also eine Kamerabewegung nicht nur dazu dient, etwas ins Bild zu rücken, ein Schnitt nicht nur die Verkoppelung zweier Perspektiven bedeutet, ein Requisit nicht nur da ist, um eine Art atmosphärischer Vollständigkeit zu markieren. Wenn sich abseits von Zweckmäßigkeit und symbolischer Selbstbezeugung ein dritter Sinn einstellt, wie ihn Roland Barthes einst (anhand von Fotogrammen) zu fassen versuchte. Wie „poetisch“ dieser Sinn erscheint, hängt wohl davon ab, wie gewollt, selbstverständlich oder diffus er auf den Betrachter wirkt – wobei das Spektrum reicht von einer Banalität des Sinns, die wiederum als Funktionalität empfunden wird, bis hin zur totalen Ungreifbarkeit, die abgesehen von dumpfer Verwirrung nichts hinterlässt. Viele der berühmtesten „poetischen“ Montagen der Filmgeschichte – der erwachende Steinlöwe aus Panzerkreuzer Potemkin, der Knochen, der in 2001 zur Raumstation mutiert – haben ihr poetisches Potenzial eingebüßt, weil ihr Sinn wie eine Bronzeplakette unter ihnen hängt. Glücklich, wer noch nicht lesen gelernt hat.

Poetry ( 시) von Lee Chang-dong ist zugleich ein Film über Poesie (ihr Zustandekommen und ihre möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen) und ein poetischer Film, auch wenn er Letzteres nicht vor sich herträgt. Einerseits folgen wir darin der schrulligen alten Dame Yang Mi-ja (Yoon Jeong-hee) bei ihren Bemühungen, zu verstehen, was Poesie ist, nachdem sie sich im Kulturzentrum ihrer Kleinstadt bei einer Schreibwerkstatt für Gedichte angemeldet hat. „Sie lernen also, traditionelle Dichtkunst zu rezitieren?“, wird sie irgendwann von einer eher unsympathischen Figur gefragt. Nein, darum kann es natürlich nicht gehen. Vielleicht liegt eine anfängliche Bemerkung Mi-jas etwas näher an der Idee, die uns der Film von Poesie vermitteln möchte. Am Telefon scherzt sie über ihr spontanes Weiterbildungsunterfangen, sie sei im Grunde schon immer eine Dichterin gewesen: „I do like flowers and say odd things“.

Ein bisschen „odd“ ist auch der Gedichtkursleiter, ein allem Anschein nach nicht ganz unbekannter, aber auch nicht mehr ganz erfolgreicher Dichter, der sich etwas blumig ausdrückt, viel blinzelt und dem Unterricht einen Deut mehr Pathos angedeihen lässt, als es angesichts des provinziellen Settings angemessen scheint. Man weiß nicht ganz, ob man ihn ernst nehmen soll, ist aber erstmal gewillt, zuzuhören. „Das Wichtigste im Leben ist Sehen“, lautet sein erster Grundsatz. Viele hatten einen Apfel schon unzählige Male vor Augen, aber noch nie wirklich gesehen, meint er. Nur durch konzentrierte, aufmerksame Betrachtung würde sich erschließen, was die Welt um uns im Herzen trägt, und dann folgt die Inspiration auf dem Fuße.

Hier öffnet sich eine Ambivalenz. Zum einen formiert sich langsam ein Klischee vor dem geistigen Auge, das klassische Bild des Dichters als weltfremder Traumtänzer aus Sicht des gesunden Menschenverstands. Ein Dichter ist jemand, der gedankenverloren auf Äpfel starrt, anstatt sich mit dem echten Leben zu beschäftigen. Er hängt Dingen nach, die schön sein mögen, aber nur für Schöngeister von Interesse sind. Eine passende Beschäftigung für schrullige alte Damen, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen. Gleichzeitig liegt in den Worten des Lehrers ein Kerngedanke, der haften bleibt: Es geht darum, im Gegenstand der Betrachtung etwas zu erkennen, das die gewohnte Wahrnehmung übersteigt, um eine Veränderung in ihr herbeizuführen, die womöglich andere Veränderungen nach sich zieht. Vielleicht muss es sich bei diesem Gegenstand gar nicht um einen Apfel handeln. Und vielleicht muss das, was man erkennt, gar nicht schön sein.

Dieser Bewegung stellt der Film eine andere gegenüber, die zunächst anmutet, als wäre sie ihr diametral entgegengesetzt. Weil ihre geschiedene Tochter in der Hafenmetropole Busan lebt und viel Arbeit hat, passt die selbst nicht gerade wohlhabende Mi-ja auf ihren Teenager-Enkel Jong-wook auf – ein introvertierter, von der Abwesenheit elterlicher Bezugspersonen gezeichneter Schlendrian, der die Fürsorge seiner Großmutter längst als selbstverständlich erachtet. Wie sich herausstellt, hat er zusammen mit fünf Gleichaltrigen eine Schulkollegin vergewaltigt und sie so in den Selbstmord getrieben. Die Väter seiner Mittäter haben sich bereits geeinigt, die Sache in Absprache mit der skandalscheuen Schule unter den Tisch zu kehren und die Mutter des Opfers mit Schweigegeld stillzustellen. Mehr oder weniger über ihren Kopf hinweg wird Mi-ja in diesen Plan eingespannt.

Anfangs gleitet der Film wie ein Zug, der ständig die Schienen wechselt, zwischen diesen beiden Handlungssträngen hin und her. Doch zusehends verschlingen sie sich ineinander und entfalten so unterschiedliche Figurationen von Poesie, die bei aller Widersprüchlichkeit durchweg im oben erwähnten Konzept der Wahrnehmungsverschiebung begründet liegen.

Eine dieser Figurationen ist politisch – in etwa dem Bild verwand, das Jacques Rancière in seiner „Nacht der Proletarier“ vom Parkettleger zeichnet, der in einer bürgerlichen Wohnung seine Arbeit unterbricht, um träumend aus dem Fenster zu blicken. Exemplarisch ist hierbei die Szene, in der Mi-ja zum ersten Mal dem Väterbund begegnet, der als soziale Einheit für business as usual steht. Während die Männer biertrinkend diskutieren, wie sie die Vertuschung des Verbrechens ihrer Söhne am besten angehen sollen, wendet sich Mi-ja, die dem Regime der Brüder als einzige Frau im Raum ohnehin im Weg steht, nach kurzer Zeit ab und verschwindet nach draußen. Bald sehen wir sie auf der anderen Seite des Kneipenfensters bei der unverwandten Inspektion blutroter Blumen. Es ist kein wirkungsvoller Protest: Die Entscheidungen werden auch ohne sie getroffen, und sie fügt sich ihnen anstandslos. Aber es ist dennoch ein Protest.

Dieses Motiv der Abdrift als stille Verweigerung wiederholt sich mehrfach. Manchmal führt sie von etwas weg, manchmal zu etwas hin. Irgendwann wird Mi-ja von den Vätern beauftragt, die Mutter des Opfers, eine Bauersfrau, zuhause zu besuchen und mit einem Gespräch „von Frau zu Frau“ davon zu überzeugen, das Schweigegeld anzunehmen. Bevor sie diese bei der Feldarbeit vorfindet, wird sie von am Boden liegenden Aprikosen zu einer poetischen Notiz angeregt. Im Gespräch mit der Mutter vergisst sie darob ihre Mission, stattdessen kommt es beinahe zu einer freundschaftlichen Annäherung, jedenfalls zu einer Ahnung von Empathie: Poesie als Stolperstein im geregelten Ablauf jener Mechanismen, die bestehende gesellschaftliche Ordnungen aufrecht halten. Eine Konkretisierung erfährt dieser Gedanke in der Nebenfigur eines zu vulgär-verschmitzten Wortspielen neigenden Gelegenheitsdichters, den Mi-ja bei einem offenen Lesungsabend kennenlernt: Dieser entpuppt sich als hautberuflicher Polizist, der in die Provinz strafversetzt wurde, weil er die Korruption von Kollegen in Seoul nicht mittragen wollte.

Poetry verklärt dieses Systemstörungsmoment nicht. Die wunderliche bis geistesabwesende Protagonistin ist keine aktive Kämpferin für Gerechtigkeit, und gleich zu Beginn verrät ein Arztbesuch, dass sie sich im Anfangsstadium einer Alzheimererkrankung befindet. Derzeit entfallen ihr bloß einzelne Wörter, aber es dürfte wohl nicht allzu lange dauern, bis sie sich nicht mehr in der Welt zurechtfindet. Unwillkürlich stellt man eine Verbindung zwischen dem Gedächtnisschwund und der Entdeckung ihrer poetischen Leidenschaft her: Der Preis ungehöriger Betrachtungsweisen ist der Verlust gesellschaftlicher Bodenhaftung. Am Ende löst sich Mi-ja in einem berückendem Stilbruch vollständig in Poesie auf, verschmilzt gewissermaßen mit ihr: Die letzten Einstellungen zeichnen einen möglichen Weg der im Laufe des Films zusehends stärker in die Entrückung hineingleitenden Frau nach, ohne sie dabei zu zeigen, im Off hört man das Gedicht, mit dessen Hervorbringung sie die ganze Zeit über gehadert hat.

Die Stimme Mi-jas wird dabei irgendwann von jener des toten Mädchens abgelöst. Hieran lässt sich eine weitere Figuration des Poetischen festmachen, der der Film lose Kontur verleiht: Poesie als Gespräch mit Gespenstern, Gedächtnisarbeit, Erinnerungstechnik. Eine in unterschiedlichen Variationen wiederkehrende Sequenz zeigt Teilnehmer des Gedichtkurses in Interviewsituationen, beinahe direkt in die Kamera sprechend, beim zögerlichen Versuch, ihre schönsten Erinnerungen zwecks Inspiration heraufzubeschwören. Der poetische Blick ist eine Öffnung, die die Begegnung der Gegenwart mit den Tiefenschichten der persönlichen Vergangenheit zulässt. Eine Chance, traumatischen Erfahrungen (ein Leitmotiv in Lee Chang-dongs Schaffen) einen neuen Anstrich zu verpassen, verschüttete Schönheit freizulegen, Glück zu generieren. Aber auch ein Medium für Verdrängtes, für Geheimnisse und Gegenerzählungen. Die Geschichte des Vergewaltigungsopfers, eigentlich für immer verloren, lagert sich im Schlussgedicht ab.

Poesie erscheint so weniger als Kraft oder Macht denn als subversive, subkutane Strömung, als unergründlicher, untergründiger Termitenweg. Dies schlägt sich auch in der Form des Films nieder. Die Grundfesten von Poetry sind in der Tradition eines modernen Neorealismus verankert, mit einer präzise konstruierten, bis in die kleinsten Ausstattungsdetails hinein „natürlichen“ Kinowirklichkeit im Glast der Sommersonne. Wenn hier jemand eine Straße überquert, muss unbedingt noch ein Auto oder ein Moped vorbeifahren, um anzuzeigen, dass es auch jenseits des Kaders Leben gibt, kaum eine Straßenszene kommt ohne die perfekte Dosis „überschüssiger“, beiläufig sehr spezifische Handlungen ausführender Komparsen aus. Hinzu kommt eine episodische narrative Struktur, deren pointierte Zusammenhänge sich eher langsam (und nur selten restlos) erschließen. Doch dieser Realismus wird periodisch punktiert von mal mehr, mal weniger merklichen Ablenkungen, ominösen Zufällen, Geisterbotschaften, die seine Matter-of-fact-ness unterwandern.

In der ersten, idyllischen Szene gibt es die sehr bestimmte künstlerische Geste einer Leiche, die von einem Fluss schleichend Richtung Kamera geschwemmt wird. Doch schon kurz davor blitzt etwas auf, das die Normalitäts-Erschütterung subtiler spürbar macht: Ein paar Buben spielen am Flussufer, einer von Ihnen bewegt sich, nach nichts Spezifischem suchend, von der Gruppe weg und sieht sich arglos um. Einen Deut länger als nötig, um nicht Notiz davon zu nehmen, verharrt sein Blick am Himmel, als hätte eine sonderbar geformte Wolke ihn gebannt. Erst dann wandert er Richtung Fluss und erspäht den langsam herangleitenden Leichnam. In diesem Himmelblick macht sich bereits ein Bruch mit der Identität der Dinge bemerkbar, er instituiert die schon erwähnte Abdrift als poetisches Zentralmotiv des Films, das sich bereits im einleitenden, wie von unsichtbaren Seidenfäden oder dem Lauf des Flusses sanft seitwärts gezogenen Schwenk angedeutet hatte (in Lees Peppermint Candy gibt es übrigens einen ähnlichen Blick-Bruch in vergleichbarer Umgebung, der allerdings viel deutlicher als Verfremdungseffekt herausgestellt ist).

Später ist es wieder die Kamera, die abdriftet, als Mi-ja nach dem Arztbesuch telefonierend heimspaziert. Das Gespräch und der tracking shot werden unterbrochen von einer Hinwendung zum zeitgleichen Zusammenbruch der Mutter des toten Mädchens, die wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen. Noch später weht der Wind Mi-jas Hut ins Wasser, als sie die Brücke besucht, von der aus sich das Mädchen in den Tod stürzte – ein Zufall, der keiner ist, weil er eine Verbindung herstellt und sich nicht mehr mit sich selbst zur Deckung bringen lässt. Widersprüche, die Poetry auch in seiner Rahmung verhandelt, zwei identischen Einstellungen eines Gewässers, die natürlich nicht identisch sein können. Der Lauf der Dinge wurde unterlaufen. Vielleicht ist Poesie keine Verdichtung der Realität, wie es manchmal heißt, sondern ihre Verundichtung.

Drei oder Vier Notizen zu Michael Snows‘ SO IS THIS

von Jan Müller

1. So Is This besteht aus einer Abfolge von Wörtern auf Filmkadern. Dazwischen Schwarzblenden. Das Wort als Gebilde eines Satzes findet sich auf der kleinsten filmischen Einheit wieder. Die Wörter sind punktuell erfassbar und ergeben in ihrer zusammengesetzten Ganzheit einen Text. Ein Text der ein Film ist und dadurch kein Text sein kann. Der Film geht an die Basis des Kinos. Eine Dauer. Bewegung eingefaltet in Zeit. Dunkel vom Licht durchbrochen. Bilder von Wörtern in einem variierendem Rhythmus.

„This is a shot in the dark. This is a screen in the night.“

2. Der Text ist selbstreflexiv. Behandelt das eigene Text-sein. Den eigenen Widerspruch im Film sein. Aber auch seine Produktionsumstände, die kanadischen Zensurmaßnahmen, Verweise auf andere Text-Filme. Hier wird eine Position zum Filmemachen eingenommen. So Is This bricht mit einem strukturellen Kanon des reinen oder puren filmischen Materialdenkens. Es verhält sich wie mit gedruckten Lettern auf Papier. Der Ort des Lesens kann nur das Kino sein. Licht auf einer Leinwand – die konzentrierte wie über 45 Minuten angestrengte Lesesituation schärft den Eindruck – oder besser Abdruck des Gelesenen.

„So what is important is not this, but how this is used“

3. Sprache stellt sich selbst dar. So Is This ist ein Stück konkrete Poesie. Das Poetische entsteht in der Verschlüsselung und Entzifferung eines visuellen und gleichermaßen textlichen Ausdrucks. Die Wörter stehen für sich und werden doch in Form gebracht. In der Struktur Ihres Zusammenfallens bilden Sie eine eigenartige Form des Kinos. Text ist hier Gewebe – eine filmische Textur in der man sich verliert. Korreliert der Bau eines Satzes mit der filmischen Montagearbeit? Vergessen wir Wörter wie Filmsprache. Platos‘ Sokrates sieht im Phaidros die Ähnlichkeit von Schreiben und Malerei in der Stille, die Sie dem fragenden Betrachter gegenüberbringen. Sprachlose Präsenzen als Kern des Poesiebegriffs. Eine merkwürdige filmische Übertragung – reduziert auf die Begegnung mit dem nächsten ungewissen Wort.

„Is there anybody reading this right now?“

4. Man liest – fügt einzelne Elemente zu einem Sinn zusammen, gibt ihnen eine Bedeutung – und liest doch nicht wie man einen Text liest. Die Zeitlichkeit des Filmischen entzieht dem Leser die Kontrolle über das Verweilen. Man hat Schwierigkeiten den Wörtern zu folgen – findet wieder einen Einstieg. Die filmisch-bedingten semantischen Brüche des Textes erzeugen eine Lust am Text. Eine Lust am Lesen. Man beginnt zu spekulieren, beginnt mögliche Wörter zu antizipieren – beobachtet andere und sich selbst beim Lesen. Man ergibt sich kollektiv dem Zeichentreiben.

Waves Are What They Are: A Dialogue about Margaret Tait’s BLUE BLACK PERMANENT

by Ivana Miloš and Patrick Holzapfel
Republished with kind permission from Mubi Notebook
Link to the original article

Patrick,

Here is something I always wanted to tell you about—it is connected to tides, grasses on clifftops, birdsong in the morning, smoking tea cups. All of these come into view in Margaret Tait’s observational practice, leaning in and looking closer, looking in and looking into things. This poetess and filmmaker whose work has been off the radar for decades, as she spent the latter living on Orkney within reach of the waves, made only one feature film, the one you have now seen. Retelling another life’s essence, daughter Barbara travels through memories of her mother Greta’s mysterious death. The multiple voices we hear are joined by those of the landscape in its minutiae, as if they were at once welded together and merely brushing past each other. Greta, who at first seems like the epitome of a poet reveling in the storm—even taking out her notebook to write in the torrential rain—metamorphoses into someone closer to a songbird upon her arrival to Orkney to see her ailing father. And yet it is this form that draws her closer and closer to the sea. If Greta disappears, if her poems disappear, is it a transformation or an appropriation on the part of nature, taking back what had always belonged to it? If this film were to tell a story, would it speak in the drifting voice of the sea?

***
Ivana,

There is something uncanny about the voice of the sea in Blue Black Permanent. It reminded me of a line from one of Jean Epstein’s sea poems: “ The sea doesn’t care.” Tait films the sea in constant movement. The waves come to life as in Virginia Woolf’s famous descriptions. Braking and spreading waters, but also threatening, because something invisible lurks there. The sea will have no mercy, it will not save your soul. It just exists. Yet, I owe this notion to the style of the film, which relates to the fears of the protagonist. Movements in nature edited at a fast pace give the impression of the sensations of touch and smell. In those moments, I not only hear the voice of the sea, but the voice of Tait. What you describe as Tait’s observational practice I see mirrored in Greta, the mother and poet in the film. She is not only drawn closer to the sea but to natural sensations in general. She is hungry for a touch of the real. So she runs through a thunderstorm, enjoying the rain. Something has separated her from life, from observational practice, and she needs to get it back by all means possible. Yet, her movements don’t seem to be voluntary. Nothing can stop her. She is drawn back to earth and, like a vulnerable drop of water, she slowly but passionately seeps back into the ground. That the feeling of alienation from domestic life results in a call from nature seems to me like the opposite of what the protagonist of Michelangelo Antonioni’s Red Desert goes through. Instead of being afraid to touch, Greta literary sleepwalks into touching. The abstraction Monica Vitti’s character experiences as well as the sudden presence of nature that consumes Greta have the same origin; both feel ill at ease in their domestic life. Greta is torn between her desire for freedom and her need to relate to her loved ones. Do you think Greta could have been saved? It is maybe hard to tell, since the expression on her face and the narration of her daughter constantly give us the feeling of a story already told, a story in which we and Greta are just passengers or sleepwalkers. Maybe this is also why I feel that the sea doesn’t care.

***
Patrick,

The sea simply is. Its disinterestedness is both its greatest appeal and danger. As waves roll out, they could just as well be seeking, grasping, savoring, swallowing, cleansing or even reaching for someone. This magnetism of what is draws Greta in in an indomitable fashion—I don’t believe anything we can see could have saved her. At the same time, everything we see could have done exactly that. You are very right in saying that the narration constantly stresses and affirms itself in relying on the familiarity of past events, but what if it does that because it is the only way to try and prevent it from happening? Greta’s daughter does not seem to have achieved closure concerning her mother’s death, this is why we have to see it. Interestingly enough, it is the death that goes unseen, as we are left with images of an empty room, window open wide, pen just dropped in the middle of writing a poem, and the surface of the sea mesmerizingly changing shape. These shots are framed by children—a child’s nightmare practically brings her mother’s death into the room while, in the aftermath of the event, children are left playing in front of the house, unaware and perfectly blending into their surroundings. Of the many (in Tait’s own vocabulary) film poems she made, one early short bears a special connection to Blue Black Permanent: Happy Bees (1954). On the face of it, the film is the essence of innocent joy. A few young children roll around in the grass, play with pots and pans in the garden, all to the tunes of the Orkney Reel and Strathspey Society. But the appearance of the sea brings something different to the film: a presence to be reckoned with, a realm eluding comprehension. The music suddenly stops as the waves rumble and roar. Children are nowhere to be seen, only algae drifting in the rocky pools. However, seeing as you mention hearing Tait’s voice, that’s exactly what interrupts the overwhelming wilderness—Tait’s own voice saying: “The children are not far away, the children live here.” This connection between land(scape), nature and people is at the core of Tait’s work, intertwining them like the sea weaves the algae strands. Greta is pulled, but maybe also brought to her senses. It’s just that these senses may be closer to touching and smelling than reasoning, and their road similarly ethereal. What do you make of the present plane and Barbara’s search for her mother? Could she also be looking for what Tait writes about in a poem called Now?

And in discarding all wisdom and prudence
Now and again,
– Rarely, say, but still sometimes –
We can reach,
We can see,
We can feel, touch, sense in some indefinable way
A deeper knowledge than wisdom,
Bone-knowledge
Blood-knowledge
Felt or known by out deepest sensibilities
For which as yet we have no words.

***
Ivana,

I am very glad that you found the first words to bridge the gap between past and present in the film. This gap is like a wound for me, I am not sure how to deal with it. Blue Black Permanent is very much a film between generations. The gap between generations opens and closes, it becomes visible only to disappear again in doubt. The film also moves somewhere in the space between past and present. You write about Barbara’s search for her mother that is ultimately, of course, also a search for herself. In Barbara’s helplessness in trying to understand her mother’s untimely death, I find the powerlessness of psychology facing a poem. It is really a dead end. Yet, I am not sure if she is completely helpless in the end. I want her to be, though. Somehow I cannot accept the strong presence of psychology which is really at the source of this conflict. Sometimes the film uses the knowing cruelty and tenderness of psychology to make us feel safer than Barbara. Sometimes, and this is what I like more, it does not. Barbara is not a poet. Nevertheless, she feels a desire to observe or to document in herself. The way she talks to her husband seems like a never-ending therapy session. He is not always able to listen. For me, he embodies a possible future in this dance between past and present. She goes to see a friend of the family, a bearded painter wearing long, paint-stained coats. Is he, in his refusal to lead a bourgeois life, able to find more happiness? I am more than uncertain about this, but I see a sparkle of understanding in his eyes. He carries a secret, and if you spend time with him, the secret might reveal itself. Barbara is not confronted with an involuntary memory, but what she takes upon herself is a very active struggle. In this image of a woman trying to remember, trying to understand, can we see her finding self-awareness and also grace? Maybe it is also about understanding that the sea is the sea, the past is the past? As you can see, I am a bit lost here. Nevertheless, I am moved. Like you, I also want to quote one of Tait’s poems. It might tell us more about the film.

Did you say it’s made of waves?
Yes, that’s it.
I wonder what the waves are made of.
Oh, waves are made of waves.
Waves are what they are,
Shimmeringness,
Oscillation,
Rhythmical movement which is the inherent essence of all things.
Ultimately, there’s only movement,
Nothing else.
The movement that light is
Comes out of the sun
And it’s so gorgeous a thing
That nothing else is ever anything unless lit by it.

Poetry and Film

28. Oktober 1953 – Cinema 16 Symposium – Poetry and the Film.
from Filmculture, No 29, Summer 1963

Maya Deren:

I’m going to do something I think is a bit risky, and that is to go a little bit into the question of what is poetry, and what distinguishes what we would call poetry from anything else, because I think that only if we can get this straight, can we sensibly discuss poetry in film, or the poetic film, or anything else. Now I say that it’s risky, because this is a subject that has been discussed for many, many centuries, and it’s been very difficult to pin down. But the reason I’m going into it is not because I think distinctions are important as formulae and as rigidities, but I think they’re important in the sense that they give an audience, or any potential audience, a preparation, an approach, to what they’re going to see. In the sense that if they’re thinking they are going to see an adventure film, and if they are confronted with a poetic film, that’s not going to go very well. I don’t think one is always predisposed toward poetry; the whole notion of distinguishing and, if you will, labeling things is not a matter of defining them so much as a matter of giving a clue to the frame of mind you bring to them. In other words, what are you going to be watching as this unrolls? What are you going to be listening for? If you’re watching for what happens, you might not get the point of some of the retardations because they’re concerned with how it happens.

Now poetry, to my mind, consists not of assonance; or rhythm, or rhyme, or any of these other qualities we associate as being characteristic of poetry. Poetry, to my mind, is an approach to experience, in the sense that a poet is looking at the same experience that a dramatist may be looking at. It comes out differently because they are looking at it from a different point of view and because they are concerned with different elements in it. Now, the characteristics of poetry, such as rhyme, or color, or any of those emotional qualities which we attach to the poetic work, also may be present in works which are not poetry, and this will confuse us. The distinction of poetry is its construction (what I mean by „a poetic structure“), and the poetic construct arises from the fact, if you will, that it is a „vertical“ investigation of a situation, in that it probes the ramifications of the moment, and is concerned with its qualities and its depth, so that you have poetry concerned, in a sense, not with what is occurring but with what it feels like or what it means. A poem, to my mind, creates visible or auditory forms for something that is invisible, which is the feeling, or the emotion, or the metaphysical content of the movement. Now it also may include action, but its attack is what I would call the „vertical“ attack, and this may be a little bit clearer if you will contrast it to what I would call the „horizontal“ attack of drama, which is concerned with the development, let’s say, within a very small situation from feeling to feeling. Perhaps it would be made most clear if you take a Shakespearean work that combines the two movements. In Shakespeare, you have the drama moving forward on a „horizontal“ plane of development, of one circumstance—one action—leading to another, and time delineates the character. Every once and a while, however, he arrives at a point of action where he wants to illuminate the meaning to this moment of drama, and, at that moment, lie builds a pyramid or investigates it „vertically,“ if you will, so that you have a „horizontal“ development with periodic „vertical“ investigations, which arc the poems, which are the monologues. Now if you consider it tins way, then you can think of any kind of combination being possible. You can have operas where the „horizontal“ development is virtually unimportant—the plots are very silly, but they serve as an excuse for Stringing together a number of arias that are essentially lyric statements. Lieder are, in singing, comparable to the lyric poems, and you can see that all sorts of combinations would be possible.

It seems to me that in many films, very often in the opening passages, you get the camera establishing the mood, and, when it does that, cinematically, those sections are quite different from the rest of the film. You know, if it’s establishing New York, you get a montage of images, that is, a poetic construct, after which what follows is a dramatic construct that is essentially „horizontal“ in its development. The same thing would apply to the dream sequences. They occur at a moment when the intensification is carried out not by action but by the illumination of that moment. Now the short films, to my mind (and they are short because it is difficult to maintain such intensity for a long period of time), are comparable to lyric poems, and they are completely a „vertical,“ or what I would call a poetic construct, and they are complete as such. One of the combinations that would be possible would be to have a film that is a dramatic construct, visually, accompanied by a commentary that is essentially poetic; that is, it illuminates the moments as they occur, so that you have a chain of moments developing, and each one of them is illuminated. It’s things of this sort that, I believe, occur in the work of Mr. Maas, who has done that to a certain extent in his last film, Image in the Snow, where the development of the film is very largely „horizontal,“ that is, there is a story line, but this is illuminated constantly by the poetic commentary so that you have two actions going on simultaneously. Now this, I think, is one of the great potentials of film and something that could very well be carried and developed much further, and I think that one of the distinctions of that film and also of Geography of the Body, is that it combines these principles. I think that this is a way of handling poetry and film, and poetry in film…

A There and Then and Never Again Quality: Filaments of Margaret Tait

by Ivana Miloš

Have we missed out if we have not seen the work of Margaret Tait, poet and gracious film maker? Perhaps not if we have known silence, solace and questioning, an immediacy springing from the body into and with the world. And then again, the answer is nevertheless yes. The bright beacon of light shed on movement that unfolds in her work is a mystery and a mastery, the searchlight of an independent soul. Throughout her life, Margaret Tait remained on the verges and fringes of all things commercial or institutional when it came to her films (of thirty-two, twenty-nine were self-produced), and therefore on the edges of the perception of others.

She was born in Orkney, an island in the north of Scotland, in 1918, she studied and became a doctor in Edinburgh, served in the Royal Army Medical Corps in India, Sri Lanka and Malaya, and returned to Orkney only to then travel to Italy and study at the Centro Sperimentale di Cinematografia in Rome in 1950, from where she, after living in several other regions of Scotland, eventually moved back to her island in the 1960s. She died there in 1999. A short note on a life, inevitably deficient. Let us try again: Margaret Tait made films and wrote poems, but also, in her own words, made it her “life’s work” to make “film poems.” Margaret Tait traced the contours of the visible with a keen attention, opening the invisible within it and throwing away the key, all keys, always. (No locks. / No bolts, bars nor keys.) Her curiosity was insatiable and infinite, devoted to the complex minutiae of the seemingly evident. (Flame / Is a thing I / Always wonder about. / It seems to be made of colour only. / I don’t know what else it is made of.) In filming, her acuity was buoyed by the swell of the tangible and luminous, transforming everyday, common objects into springs of the unknowable that wash over us with their intrinsic magic. (There’s a whole country at the foot of the stone / If you care to look.)

But let us look at the films the way a film poem unfurls: Where I Am Is Here (1964) repeats itself with consideration, echoing and reverberating into a complex of imagery and sound that weaves its own structure out of multiple, cadenced threads. Bare tree branches overlapping with the noise of traffic launch the film. Then there are bricks and their builder, chimneys and their smoke, a house of cards, Christmas lights and the undulating sea, children playing on the ice, glimpsed through branches, a pen at the ready, suspended over a sheet of paper, a small bird walking on ice, all accompanied by a tune that is a poem of Tait’s set to music, sung and played at times in consonance with the images. Among them, a few notes, lines of rhythmic poetry unspellable: a man leaning on a fireplace softly closes his eyes and slowly opens them again. The lone gesture contains multitudes, it wordlessly speaks about the person and lets them speak – Tait has a way of getting close to people with her camera, of showing them in a revelatory surge of the smallest motion of their hands or eyes. The unknownness of people is equally mysterious as that of things, and they all give way to the mystery of the film maker’s camera (see the marvellous A Portrait of Ga, Hugh MacDiarmid: A Portrait). In Tait’s work, showing a person carries with it the same release showing a landscape does – neither is represented in their role, but disclosed in their existence – often together. In A Portrait of Ga, the camera lingers on the voilet-red heather and Ga’s coat in what seem to be exactly the same colours before moving onto her face. This is where she fits, this is the place that made the human.

Another line form Where I Am Is Here: a myriad swans interlace the water, followed by forgotten fishing nets and a lone Wellington boot lying on the seabed – this is where humanity meets nature, a moving, quiet moment that is more of a sign, a single hieroglyph of a thousand words. Tait’s films show what has been established throughout centuries, the traces of co-existence written into the landscape people live on and from; the past is a felt presence in the stirring announcement of the present, the here and now. In 1974, in the film Colour Poems, Tait films another boot, a pair of them standing alone in a barn, the right one gently shaking in the wind. A declaration not only of absence, but of a thoroughly lived-in environment, of people’s homes and the use they make of the land. In Orquil Burn (1955), Tait films the path of an Orkney stream, following it from the place where it runs into the sea to its source – a journey intimately accompanied by her occasional voice-over, her knowledge of the landscape and its people that becomes unmapped and novel through this precious, delicate mapping of every step of its way. (This is the burn that used to flow over the fields as it / happened to go. / They changed its course, but the flowers still grow – / Mimulus and meadowsweet) People and streams, birds and smoke, they all have their pursuits, as a pulse of intention beats somewhere in the background.

Their presence is what makes this possible, and Aerial (1974) shakes with the clarity of sheer presence. A four-minute film as ennobling as a poem can be, its vision is not exuberant, but fulsome. Whistling leads to a bell of leaves, droplets golden a branch, earth is dug up in golden labour. An island made of leaves and petals is as fleeting as was the life of the now dead bird framed in dusky light. Margaret Tait is interstice: tumultuous calm, weaving together clouds, earth, the people working it, the sheep feeding on its grass, the joy of a splash of water on a summer’s day of childhood, and the melancholy of a departure from the house one has grown up in. The tint of infinity in a blade of grass or a snowstorm covering the streets – it is its own, its one and only, its dearly ever-wished-for and never-even-imagined, or, as Tait wrote: “It is what it is, of course.”

There is a wedge of darkness to this quest, gathering the sinister in the irremediable, unavoidable, unreproachable – nature is itself, is it not incredible? And that a film maker is a poet, a writer, an independent, is that not just as incredible? Elective affinities may connect Tait’s work to some aspects of Marie Menken, Robert Beavers (particularly Work Done and Pitcher of Colored Light), Rose Lowder and Nathaniel Dorsky, all film makers of the in-between, explorers of film as an elsewhere in the here. Working for can be a working against only when the kinship between elements rings true, if someone sets out to reveal and thread the filaments (It’s too small a thing to accept the ready-made frame. / We builders must keep making our own cities) Images can never be pale if they know their place, if they have caressed a face as carefully as they have a poppy, if, in Tait’s phrasing, “the blood-image and the through-image are perfectly united.” Here we all are, nature and its people, people and their nature, animals and lychen, children’s sailboats made of iris leaves and the coalman listening to the water run (And then that word has to go too, being inadequate, / And only my eyes are left / For saying it all.)

Len Lye: Poesie/Industrie

von Rainer Kienböck

Drei Minuten Farben- und Formenspiel. Punkte und Linien tanzen über die Leinwand, knallige Signalfarben wechseln sich wild ab, verdrängen sich, verbinden sich, gehen ineinander über. Kreolische Tanzmusik gibt den Takt an, legt den Rhythmus fest, in dem sich die Farbkleckse in nicht enden wollender Fantasie gegenseitig ablösen. Das geht rund drei Minuten so, ein früher Versuch eines kameralosen Films. Der Filmemacher Len Lye hat für A Colour Box den Filmstreifen direkt bearbeitet. Er hat das Zelluloid Kader für Kader mit der Hand bemalt und mit Schablonen bedruckt. A Colour Box ist einer der ersten Filme, der auf diese Weise entstanden ist, der gebürtige Neuseeländer Lye ist einer der Pioniere des „direct film“. Die ästhetischen Qualitäten seiner Filme, vor allem jener aus den dreißiger Jahren, in denen er die Möglichkeiten neuartiger Farbfilmprozesse, die direkte Bearbeitung des Filmmaterials und Einflüsse polynesischer Kunst zusammenführte, sind unbestritten. Ein Schock markiert aber den Höhepunkt von A Colour Box, wenn nach rund zwei Minuten abstrakten Formenspiels zu fröhlicher Tanzmusik große schwarze Lettern im Film auftauchen. Das filmische Formexperiment wird zur Werbeannonce. „Cheaper Parcel Post“ heißt es da. Der Paketdienst des General Post Office wird angepriesen. Die Werbebotschaften tanzen über die Leinwand, wie zuvor die geometrischen Formen, das Farbenspiel wird ebenfalls nicht unterbrochen. Die Banalität des Postverkehrs trifft auf die avantgardistische Qualität von Lyes Kurzfilm. Eine ungewöhnliche Kombination. Wie kam es, dass der künstlerische Freigeist Lye einen Werbefilm für die Post produzierte? Wie kam es dazu, dass die Post einen Avantgardisten wie Lye mit einer Kommission bedachte? Wie fanden Kunst und Kommerz hier zusammen?

Das General Post Office (GPO) ist freilich in der Filmgeschichte keine unbekannte Größe. Der Filmemacher John Grierson hatte Anfang der dreißiger Jahre die Führungsetage des GPO davon überzeugen können, eine eigene Filmsparte ins Leben zu rufen. Die GPO Film Unit produzierte fortan Werbefilme für die Post und sozialkritische Dokumentarfilme. Zudem zeigte sich Grierson immer offen für Experimente und unterstütze Filmemacher in der Umsetzung experimentellerer Filmprojekte. Zu seinem Team zählten unter anderem Alberto Cavalcanti, Humphrey Jennings, Basil Wright, Paul Rotha und Norman McLaren (seines Zeichens ebenfalls Pionier des direct film) , der Dichter W.H. Auden und der Komponist Benjamin Britten zählten zu ihren regelmäßigen Kollaborateuren. Auf Lye war Grierson Mitte des Jahrzehnts aufmerksam geworden. Lye hatte die kostengünstige Form der direkten Bearbeitung des Filmmaterials für sich entdeckt. Er bat den Schauspieler John Gielgud eine Passage aus William Shakespeares Stück The Tempest einzusprechen. Diesen Soundtrack ergänzte Lye um ein abstraktes Formenspiel aus geometrischen Elementen. Der Film, Full Fathom Five, wurde Grierson vorgeführt, der Lyes Potenzial erkannte und ihn an Bord holte. Grierson war ein begnadeter Verhandler. Er hatte immerhin die staatliche Postbehörde davon überzeugen können, eine Filmabteilung zu gründen, die in erster Linie anspruchsvolle Dokumentarfilme herstellte, die soziale Missstände anprangerte. Lyes Arbeit stellte ihn dann aber doch vor Herausforderungen. Wie rechtfertigen, Staatsgelder für abstrakte Filmexperimente aufzuwenden? Grierson entschied, dass dem Film am Ende eine kurze Werbebotschaft für die Post hinzugefügt werden sollte. Lye war zu diesem Kompromiss bereit, anstatt Full Fathom Five umzuarbeiten, stellt er einen ganzen neuen Film her. Die Werbebotschaft am Ende stand nicht gesondert vom restlichen Film, sondern er integrierte sie in den Film: A Colour Box wurde seine erste Arbeit für die GPO Film Unit. Fortan erhielt Lye von Grierson ein bis zwei Aufträge im Jahr für Werbefilme. Die Budgets blieben überschaubar, doch Lyes Produktionen waren vergleichsweise kostengünstig herzustellen. 1936 entstand als nächste Auftragsarbeit des GPO der Film Rainbow Dance. Rainbow Dance soll die GPO Savings Bank bewerben, Lye legt den Film daraufhin als große (Bild-)Metapher an. Vom rein abstrakten Formenspiel geht Lye über zu einem etwas narrativeren Ansatz. Am Anfang regnet es Farben. Farbige Punkte rasen über die Leinwand, treffen auf die Silhouette eines Manns mit Regenschirm. Der Mann beginnt zu tanzen, tritt in Interaktion mit dem Farbenspiel, hüpft durch rote, grüne, blaue monochrome Landschaften, führte einen irren Tanz mit allerlei geometrischen Formen auf, die Lye auf ihn loslässt. Am Ende des Regenbogens dann ein Sparbuch der GPO Savings Bank. Die kreolische Tanzmusik verstummt. Eine Stimme aus dem Voice-over meldet sich zu Wort: „The Post Office Savings Bank puts a pot of gold at the end of the rainbow“. Ein fulminanter Abschluss eines Meisterwerks des Avantgarde-Films, ein weiterer Schock des Aufeinandertreffens von Kunst und Kommerz.

Für Rainbow Dance nutzte Lye ein neues Farbverfahren. Hatte er zuvor mit Dufaycolor gearbeitet, wechselte er zu Gasparcolor, das der ungarische Chemiker Bela Gaspar entwickelt hatte. Anders als Dufaycolor, einem additiven Farbverfahren mit Linienraster, wurden bei Gasparcolor (wie auch etwa beim berühmten Three-strip-Technicolor) drei verschiedene Negative produziert und anschließend subtraktiv zusammengeführt. Lye interessierte sich weniger dafür, mit diesem Prozess natürliche Farben zu erzielen, sondern erkannte das künstlerische Potenzial der Arbeit mit drei Negativen. Die nutzte er für fulminante Matte-Effekte, so ist etwa der Tänzer im Film immer nur als Silhouette zu sehen, der jedoch wild die Farben wechselt, während die Landschaften im Hintergrund in einer anderen Farbe erstrahlen. Das gelang nur deshalb, weil Lye nie auf einen natürlichen Farbeindruck, sondern auf möglichst wilde Kombinationsmöglichkeiten der drei Negative hinarbeitete. Für seinen nächsten GPO-Film Trade Tattoo ging er ähnlich vor, setzte nun aber Three-strip-Technicolor ein – und brachte die Techniker des neugegründeten Technicolor Labors in Großbritannien an den Rand der Verzweiflung. Trade Tattoo ist handwerklich noch einmal ein Stück aufwändiger als Rainbow Dance. Der Film erzählt von einem Arbeitstag in Großbritannien – und wie die Post durch ihre unterschiedlichen Dienstleistungen den Motor der britischen Industrie am Brummen hält. Dafür hat Lye nicht verwendetes Material früherer GPO-Dokumentarfilme verwendet. Arbeitsszenen in Fabriken und Häfen, Feldarbeit wie Büroarbeit tüncht Lye in knallige Farben, übermalt sie, unterbricht sie durch ornamentale Muster. Geometrische Formen, Farbfelder, rasende Übergänge bestimmen das Bild, der kreischende Funkenflug eines Schweißgeräts sprengt in aggressivem Orange nahezu die Leinwand, ein Flugzeug am Himmel wird von Farbklecksen ausgefüllt. „The rhythm of trade is maintained by the mails“, heißt es am Schluss.

Auf Trade Tattoo folgt mit N. or N.W. noch ein letzter Film für die GPO Film Unit. Der ist jedoch kaum mehr mit den früheren Arbeiten Lyes vergleichbar. N. or N.W. ist ein Informationsfilm, der die Öffentlichkeit für die richtige Verwendung von Postleitzahlen sensibilisieren soll. Ein junges Paar hatte Streit und möchte sich aussprechen. Ihr Briefverkehr kommt aber zum Erliegen, weil der Mann die falsche Postleitzahl angibt. Im letzten Moment erreicht der Brief die Frau aber doch – die Post hat den Fehler des Manns korrigiert und verhindert die (Liebes-)Katastrophe. In Schwarz-Weiß statt in Farbe, mit ausgedehnten Voice-over-Passagen, in denen die Inhalte der Briefe vorgetragen werden und ein paar Dialogzeilen am Ende, ist N. or N.W. um ein vieles konventioneller als Lyes abstrakte Filme. Sein Avantgarde-Background kommt nur zur Geltung, wenn er Gesichter, Briefe und Himmel mittels Doppelbelichtungen übereinanderlegt. Der Film ist ein Vorbote dessen, was Lye in den Folgejahren produzieren wird, wenn er für die Propagandaabteilung des Ministry of Information (MOI) arbeitet und die Kriegsanstrengungen der Alliierten unterstützt. Sein Vorgesetzter im Ministerium ist Jack Beddington. Beddington war für Lye kein Unbekannter. Da Lye kaum von der einen jährlichen Kommission durch die GPO leben konnte, nutzte er die positive Resonanz, die er für seine GPO-Filme bekam, um auch von anderen Stellen Aufträge für Werbefilme zu bekommen. Ähnlich wie die Post, hatten auch private Unternehmen in den dreißiger Jahren eigene Filmabteilungen gegründet. Eine von entstand 1934 beim Mineralölkonzern Shell. Leiter der Abteilung war Jack Beddington. Beddington kannte Lyes experimentellen Puppenanimationsfilm Peanut Vendor, den dieser Anfang des Jahrzehnts produziert hat, als er mit unterschiedlichen Animationsfilmtechniken experimentierte. Beddington gab bei Lye also ebenfalls einen solchen Film in Auftrag. Der lieferte 1936 The Birth of the Robot ab, die Geschichte eines Forschungsreisenden in der afrikanischen Wüste, der mit seinem anthropomorphen Auto in einem Sandsturm gefangen wird. Die Fata Morgana, die sich das Auto herbeiimaginiert, ist eine Tankstelle mit Werkstatt, die es wieder in Schuss bringen könnte. Das Leid des Autos wird von einer Göttin im Himmel entdeckt, die mit ihrer Laute (in Muschelform) einen Metallroboter auf die Erde schickt, der das Auto wieder in Schuss bringt und die Wüste in eine moderne Autobahnlandschaft verwandelt: „Modern Worlds need Modern Lubrication. Lubrication by Shell Oil“. Der Film wurde ein voller Erfolg, von der Kritik gelobt und von über drei Millionen Menschen im Kino gesehen.

Beddington war jedoch nicht der erste Vertreter der Privatwirtschaft, der Lyes Dienste als Werbefilmer in Anspruch nahm. Schon im Jahr davor hatte er mit Kaleidoscope einen direct film produziert, der in Konzept und Form stark A Colour Box ähnelte. Kaleidoscope war eine Auftragsarbeit für das Tabakunternehmen Churchman’s, die Oskar Fischingers Arbeiten für Muratti Zigaretten kannten, die am Festland großen Erfolg hatten. Lye stellte also seine fantasievolle Interpretation einer Zigarettenwerbung her. Dafür entwickelte er eine Stahlmatrize, mit der er schnell und effizient aufeinanderfolgende Kader mit dem gleichen Muster versehen konnte. Kaleidoscope ist folglich geprägt von längeren Passagen, in denen Schablonenmuster zum Klang eines kreolischen Beguine über die Leinwand ziehen. Gegen Ende des Films übermitteln dann farbige Lettern wie in A Colour Box die Werbebotschaft. Als der Film im Herbst 1935 in die Kinos kam, schrieb der Kritiker des Sunday Referee, Lye sei ein „English Disney“ – in den folgenden Jahren sollten seine Filme noch mehrere Male diesen Vergleich provozieren. Den „echten Disney“ traf Lye jedoch nie. Als der Kinounternehmer Sidney Bernstein dem amerikanischen Zeichentrick-Mogul bei einer US-Reise Lyes Filme vorführte, zeigte sich dieser begeistert. Zeitgenössische Kritiker in Großbritannien verglichen wenige Jahre später einige Sequenzen von Fantasia mit den Arbeiten von Lye. Es ist jedoch nicht überliefert, ob Walt Disney seinen Animatoren als Vorbereitung tatsächlich Lyes Filme gezeigt hat.

Nach dem Ende seines Engagements bei der GPO Film Unit und bevor der Krieg losging, vollendete Lye noch einen weiteren Werbefilm für ein privates Unternehmen. Colour Flight war eine Auftragsarbeit für die Imperial Airways. Zunächst unterscheidet sich der Film kaum von früheren Arbeiten wie A Colour Box oder Kaleidoscope: Farbkleckse, geometrische Formen, Farbwechsel, gezeichnete und gekratzte Muster. Dem Auftraggeber entsprechend gehen die abstrakten Formen schließlich in stilisierte Flugzeuge über, die in allen Farben des Regenbogens über die Leinwand flitzen. Der Himmel, die Wolken, die Flugzeuge: So endet auch dieses abstrakte Farb- und Formenspiel mit einer Werbebotschaft, die einerseits abgesetzt vom restlichen Film, andererseits ästhetisch einheitlich vermittelt wird. Colour Flight ist ein weiteres beeindruckendes Beispiel für Lyes Fähigkeit, seine künstlerischen Ansprüche mit den Anforderungen einer Auftragsarbeit zu vereinbaren. Etwas, das nicht allen Avantgarde-Filmemachern immer leichtfiel. Legendär, Peter Kubelkas Anekdoten zur Abnahme seiner Filme Schwechater und Unsere Afrikareise, die auf wenig Gegenliebe stießen, weil Schwechater ein konventioneller Werbespot hätte werden sollen und Unsere Afrikareise ein filmisches Andenken einer Safari. Lye hatte es da ein wenig einfacher. Er wurde aufgrund des Stils seiner vorherigen Filme beauftragt und hatte weitestgehend freie Hand, soweit er nur die Werbebotschaft seines Auftraggebers unterbrachte. Diese Freiheit hatte er sich zuvor durch lange Jahre der kunstgewerblichen Arbeit erkauft. Während seiner Zeit in Neuseeland hatte er als Grafiker und Plakatmaler gearbeitet, in Sydney war er eine Zeit lang in einem Animationsstudio für Werbefilme tätig. Dort eignete er sich das Rüstzeug für seine späteren künstlerischen Arbeiten an, entwickelte sich vom Abbildrealismus, wie er an den Kunstkursen in Neuseeland gelehrt wurde, hin zur Abstraktion, zur visuellen Poesie. So entstanden Meilensteine des Avantgarde-Films, geformt durch Kunsthandwerk, finanziert durch Post, Fluggesellschaften, Tabak- und Mineralölindustrie. Die Dreißiger waren eine goldene Ära für diese Form der Künstlerförderung. Der bereits erwähnte Oskar Fischinger machte Werbefilme in Deutschland, Joris Ivens tat es ihm in den Niederlanden nach und in Franklin D. Roosevelts USA finanzierten staatliche Behörden Informationsfilme wie The Plow That Broke the Plains und The River. Nach dem Krieg veränderten sich die Produktionsbedingungen für unabhängige Dokumentar- und Experimentalfilmer – auch für Len Lye. Als er 1957 mit Rhythm eine grandiose Miniatur über die Autoindustrie in den USA abliefert, wird diese abgeschmettert.