Time Through His Hands: Seven Invisible Men von Šarūnas Bartas

Es ist eine kalte Nacht, nasse Augen wachen. Eine Gruppe von Autoknackern, die wir praktisch nie in derselben Einstellung sehen werden, eröffnet die Einsamkeit in Seven Invisible Men von Šarūnas Bartas. Der Film wird als Ausnahme im Oeuvre des Filmemachers gesehen, denn es wird ein bisschen mehr gesprochen als gewöhnlich und vor allem gibt es durchaus Genreelemente. Im Kern aber handelt Seven Invisible Men von der gleichen Ratlosigkeit und Ziellosigkeit, die das außerordentliche Werk des litauischen Filmemachers immer wieder heimsuchen. Man könnte den Film als einen Roadmovie verstehen, einen Roadtrip als Flucht, als Flucht ins Nichts, in ein Nichts zwischen Heimat und Identitätslosigkeit. Lichtpunkte dämonisieren die Nacht in den ersten Minuten, in denen man alles spürt, ohne dass man auch nur irgendeine sogenannte Information bekommt. Die Dringlichkeit, die Armut, die Anspannung, die Überzeugung und die Angst im Umgang mit dem Diebstahl. Dann gibt es einige Schauplatzwechsel. Bartas gibt sich für wenige Augenblicke seiner aus Freedom bekannten epsteinesquen Faszination für die Bewegungen des Ozeans hin, Wellen, die sich verwandeln, die das Meer verwandeln oder einfach nur Bewegung sind. Es ist ein Film der Bewegungen, die kommen und gehen, die wieder zurücklaufen, die auch rückwärts laufen könnten. Kurz darauf ein Vogelschwarm in der Steppe, später sehen wir Sand durch Finger rinnen. Alles ist eine poetische und materielle Sinnlichkeit, die durch ihr Aussehen etwas Greifbares bekommt. Man findet sich ähnlich wie in Victor Kossakovskys Belovy am Ursprung einer Welt und an ihrem Ende zugleich. Das Verlassene ist auch das Verlorene, das Verlorene ist auch das Ewige und das Ewige ist auch das Sterbliche.

Bartas Seven Invisible Men

Wie in jedem Bartas-Film strömt auch hier weißes Licht durch die Fenster. Menschen stehen in diesem Licht, weil man in ihm die Wahrheit sieht. Viele Einstellungen scheinen auf dieses Besondere, Einmalige zu warten, sie scheinen es anzuziehen. Ein kleines Spiel mit dem Licht, eine unerwartete Bewegung, ein Blick, der mehr sagt als jede Dramaturgie. Darauf zielt Bartas, so scheinen seine Einstellungen aufgebaut zu sein. Immer wieder gibt es Totalen, die zugleich wie ein Atemzug und ein Hammerschlag zwischen die Gesichter treten. Der Film spielt auf der Halbinsel Krim, darin liegt eher eine metaphysische denn eine politische Bedeutung. Allerdings wird aus dem Metaphysischen bei Bartas etwas Politisches, wenn die poetischen Bilder einer verlassenen Landschaft auch als soziales Milieu einer beständigen Verlorenheit agieren und von einer gespiegelten Schönheit berührt werden, gespiegelt, weil wir sie sonst nur in den Augen der Verbrecher wieder finden. Worin liegt die Funktion? Worin liegt der Sinn? Eine zugleich philosophische wie auch politische Frage, die bei Bartas zu einer notwendigen Formulierung wird. Er filmt die verlangenden, hungrigen und verdursteten Gesichter und erzählt mit seinem Blick etwas über die Sterblichkeit und über die Machtlosigkeit. Wie bei Pieter Bruegel d.Ä. werden seine Gesichter und Handlungen trotz ihrer Rauheit und Überforderung von einer fast heiligen Würde beseelt, Bartas glaubt nicht zwangsläufig an das Gute im Menschen, aber er glaubt an die Schönheit und Vollendung der Traurigkeit, der Schwächen und der Abhängigkeiten. Dabei ist er ständig auf der Suche nach einem wahren Ausdruck, der genauso zerbrechlich und verloren ist wie jener der Figuren. Bartas offenbart nicht nur eine Welt oder deformiert sie teuflisch (wie man das beispielsweise Ulrich Seidl vorwerfen könnte), er ergreift sie, indem seine Bilder von dieser Welt ergriffen werden, ein Griff ohne Mitleid oder Überlegenheit, sondern eine Begegnung, bei der kein Bild weiß, was es sehen wird, kein Anthropologe analysiert, was das bedeutet, sondern das auf das reagiert, was sichtbar und unsichtbar im Äußeren zum Vorschein tritt.

In all der Zwecklosigkeit entsteht eine Gewalt. Sie liegt zunächst in der Erwartung, in den versteckten Waffen, den harten Gesichtern und ihren Blicken ins Off, ihren Reaktionen aufeinander, vielleicht schlagen sie gleich zu? Bartas verlegt zwar nicht die Wirkung der Gewalt ins Off, aber ihr Ursprung liegt für ihn zwischen zwei Bildern. Zwei männliche Gesichter, zwei Frauengesichter, es gibt Verzweiflung, Neid, Eifersucht. Es ist immer der Blick auf den Anderen, der hier zur Gewalt wird. Jeder Gegenschuss ist eine Zielscheibe. Irgendwann führt Bartas eine Analogie zu den zahlreichen Tieren im Film ein. Ein Warten, ein Erschrecken, ein Getötet werden, ein Schlafen, ein Kampf. Damit verliert sich Seven Invisible Men jedoch nicht in einer plumpen Metaphorik, sondern setzt vielmehr auf die Gleichzeitigkeit der Dinge, auf die Gleichgültigkeit der Welt. Dort könnte man wieder eine Verbindung zu Bruegel ziehen, auch wenn Bartas die Menschen durch die seinem Medium geschuldete Zeitlichkeit durch Montage trennt, während Bruegel sie in einem Bild darstellt. Dennoch passieren hier und dort die Dinge gleichzeitig, sie passieren vielleicht so, dass sie kaum Bedeutung für das Gesamtbild zu haben scheinen.

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Wenn es einen großen Unterscheid zu Bartas vorherigen Filmen gibt, dann liegt der an manchen Eindeutigkeiten, die er sonst eher vermieden hatte. So wird unmissverständlich klar, dass der Hof, auf dem die zweite Hälfte des Films spielt zur Familie des Protagonisten gehört, dass dort seine Tochter ist. Die Kriminellen flüchten dorthin und sie versinken in dieser endlosen Steppe und im brutalen Rausch ausufernder Besäufnisse, die eine Verzweiflung freilegen, die weit größer ist als die Fragen nach Familie oder Verbrechen. In dieser Rückkehr und der Sprachlosigkeit ob dieser Rückkehr, liegen Parallelen zu Lisandro Alonsos Liverpool. Es geht hier nicht um die Heimatkonflikte, die man aus den meisten deutschen Filmen kennt, also nicht um eine intellektuelle Idee von Identitätsproblemen, hier geht es um das körperliche Gefühl, das keiner Idee folgen kann. Es verlangt, liebt und sehnt sich im gleichen Atemzug, wie es sich völlig fremd vorkommt und nicht kommunizieren kann. Man kann es nicht greifen, weil es wie der Sand durch die Finger rinnt und wie die Wellen ständig seine Erscheinung ändert. Es geht um eine Zerrissenheit, nicht weil die Dinge sich verändern, sondern weil es solche gibt, die beständig sind. Und sei es die Veränderung, die beständig kommt. Zwischen dem tragischen Gesang (eine erstaunliche Darstellung vorschriftlicher Kunstüberlieferung), der Poesie des Gelages fällt die offene Verzweiflung eines Mannes in das Auge und die Ohren der Zuseher. Niemand will und kann ihn hören, es wird sogar über ihn gelacht. Eine außerordentliche Einsamkeit entsteht, die nichts damit zu tun hat, dass die Figuren alleine sind, sondern vielmehr damit, dass sie in sich selbst sein müssen. Deshalb sind die Momente des Friedens im Film auch jene, in denen man durch Sehen (Fotografien, Frauen, Natur) oder Hören (Herzschlag, Schüsse, Gesang) sein Inneres verlassen kann.

Wie Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas ist Seven Invisible Men auch ein Film über den Übergang von Tag und Nacht, ein Musical zum Rhythmus einer Hoffnungslosigkeit, lass uns Tanzen bis wir untergehen. Die anhaltende Dämmerstimmung bringt entweder den Frieden einer unschuldigen Bewegung, die eine Oase entstehen lässt, wie Nuri Bilge Ceylan in seiner Teeszene in Once Upon a Time in Anatolia oder in der völligen Vernichtung und Aussichtslosigkeit, dem Feuer, das wie in Offret von Andrei Tarkwoski nicht nur ein Haus beendet, sondern eine ganze Welt. Meist sind die Oase und die Vernichtung in der gleichen Szene, so wie wenn die junge Tochter von der älteren Frau in einem orangen Licht gesäubert wird und aus eben jenem orangen Licht das tödliche Feuer entsteht. Oder jener bizarre Moment, indem die Frau während sie ausgezogen wird, ihren Mittelfinger in Richtung Kamera richtet, dann ein Victory-Zeichen macht und wieder den Stinkefinger zeigt. Es scheint in Richtung Bartas zu gehen.Ein merkwürdig reflexiver Moment, der in sich jedoch vom gleichen Leiden am Schönen durch den Blick der Kamera, von der Schönheit des Leidens und der Nähe und Offenbarung erzählt, die so schwer herstellbar ist und die doch jede Minute Film von Bartas zu durchziehen scheint.  In dieser Nacht bei Bartas kann man nur in den Augen erkennen, was ihr zum Tag fehlt, aus Mangel an besseren Worten würde ich es Liebe nennen. Aber das Verlangen dieser Augen ist sterblich.

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Die Zeit filmen

An einer dieser wundervollen Wiener Fassaden zeichnete sich ein Lichtspiel ab, als die untergehende Sonne manchmal und nur leicht von Wolken verdeckt wurde. Einige Menschen, darunter vermehrt Touristen zückten ihre Fotoapparate und Mobiltelefone, um das Schauspiel festzuhalten. Sie drückten verzweifelt auf ihre Knöpfe, um die Schönheit des Moments festzuhalten. Ich frage mich wie ihre Bilder schließlich aussehen, aber ich weiß mit Sicherheit, dass sie es nicht vermögen, das wirklich Atemberaubende an diesem Moment einzufangen, weil diese Schönheit an der Zeit hängt.

Das bedeutet aber nicht, dass es ganz einfach gewesen wäre, mit einer Filmkamera beziehungsweise mit der Videofunktion des Mobiltelefons jenes Wechselspiel in seiner zeitlichen Entfaltung einzufangen. Die Schönheit des Lichts war an diesem späten Nachmittag in Wien die Zeit selbst und es ist unheimlich schwer, die Zeit zu filmen. Beliebt ist die Annahme, dass die zeitliche Strukturierung beziehungsweise die filmische Fähigkeit, Zeit zu entblößen eng mit der Montage zusammenhängt. Das ist allerdings ziemlicher Schwachsinn. Zwei Filme, die ganz leicht das Gegenteil beweisen, sind zum einen Chris Markers (dieser Mann, der es wie Alain Resnais wie kaum ein zweiter vermochte, die Zeit zu filmen) La Jetée, ein Film der heftig an den Prinzipien der Montage hängt, aber seinen großen Moment der Nacktheit von Zeit gerade dann entfaltet, wenn er nicht schneidet, sondern Bewegung zeigt, begleitet von einem Vogelzwitschern für die Ewigkeit. Der andere Film ist Fish&Cat von Sharam Mokri, ein kleines Wunder, das letztes Jahr in Venedig Premiere feierte und seither völlig unterging. Der Film besteht aus einer einzigen langen Einstellung und zerstört jegliche Sicherheit und Empfinden für Zeit. Zeit ist eben auch eine Frage der Perspektive und des Raumes. Wen schaut man wann und wie an? Wie oft im Leben hat man sich schon gefragt wieso einem etwas in der Vergangenheit nicht aufgefallen ist? Wie oft erlebt man eine Vergangenheit neu, wenn man einen neuen Kontext zu ihr bekommt, eine neue Perspektive darauf?

Chris Marker La jetée

Daher wird es den Fotografen und Filmern vor den Fassaden in Wien äußerst schwerfallen diesen, Augenblick auf ihren Bildern zu finden. Denn was sich in ihren Augen manifestiert hat, ist in der Linse der Kamera schon etwas ganz anderes. Einen Film über die Zeit hat auch der deutsche Filmemacher Philipp Hartmann mit seinem Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe gemacht. Dabei vermag er es, die Zeit in ihrer Abwesenheit zu filmen. Bei ihm macht sich die physikalische Größe als philosophisches Konzept im Off-Screen bemerkbar. Etwas ist vergangen, das sehen wir. Fast verzweifelt und tragisch klammert sich der Film an die Möglichkeit, Zeit auf Film zu speichern. Man denkt an Jonas Mekas, der immer wieder für einen Gegenwärtigkeit der Bilder eintritt, die allerdings etwas anderes sind als Erinnerungen oder Vergangenheit. Bilder, die sich mit jeder Projektion neu in der Zeit verorten. Hartmann ist clever und sensibel genug, um nicht in einen Fehler zu tapsen, er richtet stattdessen einen Spiegel auf die Zeit und sich selbst und lässt beides verschmelzen. Insofern macht er einen Film über die Krise des Alterns, das natürlich an der Zeit, den Erinnerungen und der Gegenwart hängt. Die Gegenwärtigkeit von Bildern sind auch ein Grund warum man nicht einfach die Schönheit einer Fassade sieht, sie fotografiert und dann die Schönheit wiederfindet. Dies könnte jetzt natürlich ein Plädoyer für die große Kraft der Realität und der Erinnerung gegenüber von Filmen sein und tatsächlich erwische ich mich beim Gedanken der scheinbaren Unterlegenheit von Film gegenüber dem, was man als unsere Augen bezeichnen könnte. Aber dann fällt mir wieder ein, dass der Blick im Film uns erst erlaubt zu schauen. Damit meine ich, dass er uns konzentriert, aufmerksam macht und ja, ermöglicht Zeit wahrzunehmen. Gerade in der heutigen Welt, der wir kaum mehr Platz lassen für eine Leere und ein inspirierendes Nichts, eine Langeweile kann Film diese zeigen und geben. Film kann zeigen wie Zeit vergeht und das sollte in unserer Zeit fast einem außerirdischen Spektakel gleichkommen. Man denkt an Tsai Ming-liang und seine Walker-Filme. Die Bedeutung von Langsamkeit, was bedeutet es zu sehen? Man sieht jeden Tag so viel, dass man versucht ist, zu vergessen was es bedeutet. Inzwischen ist Zeit ein politisches Statement in der Kunst und Kultur. Bewegungen und Schlagworte werden erfunden, um die Bedeutung von Zeit zu unterstreichen. Zeit kann also auch eine rebellische Antwort auf den Mainstream sein, aber dann hat sie selten eine Bedeutung. Bei Tsai Ming-liang geht es auch um eine Wahrnehmungsveränderung, eine sinnliche und zugleich rhetorische. Wir betrachten zum Beispiel ein Gesicht, wir bekommen eine Information, wir gehen. So sind die meisten Filme konstruiert und so gehen sie meilenweit an ihren Möglichkeiten vorbei. Denn erst wenn wir eine längere Zeit bekommen, das Gesicht zu betrachten, wird etwas mit unserer Wahrnehmung passieren, etwas, dass uns in der Realität zumindest bei fremden Menschen gar nicht möglich ist. Wir werden es studieren, es fühlen, es wirklich sehen. Natürlich muss man dafür hinsehen und viele Menschen können das nicht/nicht mehr. Auch ermöglicht Film eine besondere Perspektive auf dieses Gesicht. Einen anderen Blick, der ganz automatisch von Zeit beseelt ist, weil er uns aufmerksam darauf macht, dass wir blicken. In diesem Sinn ist die Dynamisierung räumlicher Prozesse und die Strukturierung von Personenkonstellationen essentiell für unsere Wahrnehmung von Zeit im Film.

Post Tenebras Lux Reygadas

Man denke beispielsweise an die verunsicherte Swinger-Sauna Szene in Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas. Zuerst zeigt Reygadas die Protagonistin und ihren Ehemann in einer amerikanischen Einstellung in den blau-roten Lichtern der Sauna. Sie entkleidet sich. Im Anschnitt am linken Bildrand beobachtet sie ein älterer, nackter Mann und im Bildhintergrund sitzt in einer Nische eine nackte Frau. Wir hören es vor Hitze tropfen. Plötzlich dynamisiert Reygadas unsere Raumvorstellung. Ein weiterer nackter Mann kommt von hinter der Kamera ins Bild gelaufen und nimmt unsere Protagonistin an der Hand. Der Mann im Bildvordergrund erhebt sich und hält die andere Hand der Frau. Zusammen gehen sie aus dem Bild, wobei sich Hinterteile und Geschlechtsteile noch prominent in der Bildmitte platzieren. Die Kamera bleibt stehen und zeigt den nervösen Ehemann, der das Handtuch seiner Frau hält und schwer schluckt. Hier spüren wir zum ersten Mal in dieser Szene den Druck der Zeit. Ein Mann beginnt Off-Screen, von der schönen Haut der Frau zu schwärmen während die Frau aus der Nische im Hintergrund aufsteht und auf die Kamera zugeht. Wieder dynamisiert Reygadas den Raum in der Zeit, denn plötzlich offenbart sich das in der Nische nicht eine nackte Frau war sondern gar zwei. Sie bleiben beide in der Türschwelle stehen und der Ehemann bemerkt die beiden nackten Frauen mit einem schüchternen Seitenblick, der immer deutlicher wird. Die Geräusche und Dialoge im Off-Screen deuten gleichzeitig darauf hin, dass die beiden Männer nun mit der Protagonistin schlafen. Reygadas schneidet in eine amerikanische Zweiereinstellung von einem nackten, sitzenden Paar. Sie beobachten offensichtlich das Geschehen und berühren sich dabei am unteren Bildrand. Reygadas hält diese Einstellung für circa 50 Sekunden. Off-Screen ist die besorgte Stimme der Protagonistin zu hören, die darum bittet, sanft behandelt zu werden. Die Frau im Bild bemerkt, dass die Protagonistin schön sei. Der Mann fordert sie auf, zu ihr zu gehen. Das Pärchen gibt sich einen flüchtigen, in dieser Umgebung fast surreal-süßen Kuss und die Frau verschwindet aus dem Bild. Reygadas bleibt mit der Kamera erneut auf dem verlassenen und beobachtenden Mann und erinnert damit zugleich an den Ehemann, der auch noch im Raum steht. Dadurch wird so etwas wie Gleichzeitigkeit manifestiert, also Zeit. In der nächsten Einstellung bewegt sich die Kamera ganz langsam in eine Nahe der Protagonistin während ein Mann wild in sie eindringt und die Frau aus der vorherigen Einstellung ihren Kopf auf den Schoß legt und die Protagonistin gleich einer Mutterfigur beruhigt und ihr Mut macht. Im Bildhintergrund sind allerhand nackte Körper zu sehen. Im Anschnitt am rechten Bildrand beobachtet ein Mann das Geschehen als wäre er bei der Arbeit an einem Fließband und im Hintergrund sind unter anderem die beiden Frauen aus der ersten beschriebenen Einstellung dieser Szene. In einer an Bruno Dumont erinnernden Weitwinkeleinstellung des Gesichts der Mutterfigur verzerrt Reygadas unsere Perspektive auf diese Figur und man kann sich nicht sicher sein, ob es sich dabei um einen Point-of-View unserer Protagonistin handelt oder nicht. Jedenfalls wird uns das Unwohlsein der Szene durch die Wahl des Objektivs noch deutlich bewusster. Reygadas hält auch diese Szene sehr lange (ca. 25s), aber im Dialog wird klar, dass die Protagonistin beginnt, sich wohl zu fühlen. Reygadas schneidet in eine fast symbolische Naheinstellung des Gesichts der Protagonistin, die kurz vor ihrem Orgasmus steht und der Brüste der Mutterfigur, die ihren Körper berühren während ihre Finger zärtlich über die Haare der Protagonistin streichen. Die Zeit, die hier vergeht, entspricht keineswegs jener Zeit, die der Akt in der Realität einnehmen würde, aber das Gefühl für die Zeit ist das gleiche, intensiviert und entfaltet durch die Wahl von Kamerapositionen, Ton, Licht, Maske, Schauspiel, Länge der Einstellungen und allem was dazugehört. Die Protagonistin kommt sehr leise zum Höhepunkt und wir glauben ihr. Reygadas bleibt mit der Kamera auf ihrem verschwitzten, leeren Ausdruck, die Mutterfigur sagt: They all want you because you are beautiful. Die Protagonistin bedankt sich. Wo ist ihr Ehemann? Wessen Perspektive haben wir hier tatsächlich?

Satantango Tarr

Nun ist es mit großer Sicherheit auch fatal zu glauben, dass man die Zeit filmt, indem man sich einfach Zeit lässt. Nein, denn die filmische Zeit hängt auch am Licht und der Illusion dahinter, die filmische Zeit braucht eine innere oder äußere Bewegung. Denn wenn ein Regisseur sich für eine lange Einstellung ohne ein solches Licht entscheidet, dann wird er die Zeit von der Leinwand verweisen und in den Zuschauerraum verbannen. Dort vergeht sie jedoch immer gleich. Die Möglichkeit von Film ist es jedoch, die Zeit zwischen Zuschauer und Bild spürbar zu machen, sie zu verschhärfen oder außer Kraft zu setzen. Genau das hat die Szene von Reygadas beschrieben und genau das unterscheidet auch die etwas stupide Wahrnehmung eines Kinos der Zeit als Slow-Cinema von jenem eines Kinos der intensivierten Realität. Man denke an die Filme von Béla Tarr, zum Beispiel Sátántangó oder A torinói ló. Dort ist die spürbare Zeit oft der Weg von einer Perspektive in die Nächste und zugleich ist es auch eine Frage der Geschwindigkeit dieser Bewegung. Wir sehen unserem Blick beim Wandern zu und dringen somit in die Zeit des Raumes und der Figuren ein. Ähnliches ist auch ohne Bewegung zu erreichen wie in Filmen wie Historia de la meva mort von Albert Serra (eigentlich alles von ihm), den Filmen von Jia Zhang-ke oder jenen von Lisandro Alonso klar wird. Die Frage nach der Zeit ist immer eine Frage nach unserer Aufmerksamkeit dafür. Ein Filmemacher wie Alonso bekommt diese womöglich aufgrund seiner deformierten Seltsamkeit, seiner überwältigenden Landschaften und seinen räumlichen Überraschungen, indem er uns auch Blicke und Informationen verweigert bis zu einem Grad, an dem wir unbedingt sehen wollen. Dagegen wird unsere Aufmerksamkeit bei Filmemachern wie Albert Serra oder auch Cristi Puiu dadurch erfasst, dass in der Zeit ein ironisches, ja absurdes Element liegt. Das bedeutet nicht, dass man die Zeit in ihren Filmen als besonders lustig wahrnimmt-ganz im Gegenteil-aber dass die Überlegung welche Schritte in einem Prozess wirklich nötig sind (zum Beispiel bei der Ermordung seiner Frau) nicht lediglich ein entdramatisierendes Potenzial beinhaltet, sondern dass das Dramatische gerade in dieser Zeit liegt.

Aurora Puiu

In Aurora beschäftigt sich Puiu eigentlich durchgehend mit dieser Zeit, aber wenn man einen Blick auf die unmittelbare Phase um einen Mord im Film legt, sieht man die manische Präzision und die Größe dieses Regisseurs im Umgang mit Raum und Zeit. Der Protagonist fährt mit dem Auto. Die Kamera hält ihn links am Steuer im Anschnitt und verschwindet sonst mit einem Phantom Ride durch das nächtliche Bukarest und in einen Tunnel. Wir hören das Rascheln der Kleider und das angespannte Atmen des Protagonisten. Die Schärfe verlagert sich vom Raum auf das Spiegelbild im Rückspiegel. Ein harter Schnitt und der Protagonist erscheint mit Mütze hinter einer Pfütze. Ein Schwenk begleitet seinen Weg über einen Parkplatz zum Auto. Er öffnet es. Ein lautes Motorrad ist zu hören und die Kamera beginnt etwas zu wackeln, als der Protagonist eine Tasche aus dem Kofferraum holt. Er geht zurück, die Kamera schwenkt wieder mit ihm. Aber auf halbem Weg fällt ihm etwas ein. Er dreht nochmal um, die Kamera geht wieder mit, aber es ist nur ein Schritt. Er drückt auf seinen Schlüssel, um das Auto zuzusperren und geht erst dann weiter. Nun geht er den Weg zurück und die Kamera schwenkt mit ihm. Warum denken so wenige Filmemacher daran wie oft man sich nicht sicher ist, ob man seine Tür zugesperrt hat? Ein solcher Augenblick ist ein Augenblick der reinen Zeit. Der Protagonist sucht seinen besten Weg durch die Pfütze und geht durch eine Gittertür nach hinten. Die Kamera bleibt stehen und folgt ihm aus einer beobachtenden Totale. Dies ist das wichtigste formale Gestaltungsprinzip der folgenden Minuten. Er macht die Tür hinter sich zu. Ein harter Schnitt und unser Protagonist taucht mit seiner Tasche in einer Halbtotale in einer Tiefgarage auf. Aus dem Off-Screen sind Schritte zu hören, er schaut angespannt. Die Kamera schwenkt mit seinem Blick (hier haben wir wieder eine Perspektive, die mit der Zeit entsteht) und wir sehen noch die Umrisse eines Mannes in der Tiefe des Bildes. Er verschwindet und unser Protagonist schaut etwas entspannter um sich. Er dreht um und blickt in eines der Autos, die auf einem Parkplatz stehen. Er schaut durch das Fahrerfenster. Ein weiterer harter Schnitt in eine Halbtotale. Unser Protagonist steht hinter einem Auto, wieder sind Schritte zu hören. Er bewegt sich langsam nach links und die Kamera schwenkt mit ihm mit bis er hinter einer Säule verschwindet. Nach einigen Sekunden kommt er auf der anderen Seite der Säule hervor und der Schwenk folgt ihm weiter. Nun bewegt er sich etwas schneller zwischen den geparkten Autos und folglich wird auch der Schwenk schneller. Plötzlich kommt eine Tür ins Bild, aus der zwei Männer treten. Wir sehen sie gleichzeitig wie der Protagonist, der daraufhin umdreht und seinen Kopf senkt. Der Schwenk folgt ihm wieder zwischen die Autos, er steht mit dem Rücken zu den Stimmen der Männer, auch ein Auto fährt vorbei. Er berührt einen Kettenzaun mit seiner Hand und schaut möglichst beiläufig um sich. Die Zeit in dieser Szene besteht nicht nur aus dem Nicht-Auslassen der Ereignisse, sondern auch aus der Antizipation einer Tat, man merkt, dass da etwas nicht stimmt und dadurch gewinnt der Ablauf eine Aufmerksamkeit. Diese ist keineswegs undramatisch, sondern hochspannend, obwohl Puiu einer der wenigen Regisseure ist, die es tatsächlich vermögen, ein Gefühl für Echtzeit zu vermitteln. Es ist wieder ruhig in der Tiefgarage. Der Protagonist setzt seinen Weg fort und tritt wieder heraus aus den Autos Richtung Tür. Die Kamera bleibt erneut stehen (das Schwenken und stehenbleiben immer mit einer Handkamera strukturiert hier die Szenen) und er verschwindet hinter der Tür, die laut Schild zu einer Hotellobby führt. Was macht er? In einer amerikanischen Einstellung schwenkt die Kamera mit ihm durch ein Treppenhaus. Wieder sind Stimmen zu hören, er nimmt seine Mütze herunter und dreht panisch um. Die Kamera schwenkt mit ihm. Er streift durch eine Nahaufnahme und versteckt sich unter den Treppen. Jetzt wechselt die Kamera ihre Perspektive ohne Schnitt und fokussiert auf einen Mann in Lederjacke, der die Treppen herunterkommt. Hier dynamisiert Puiu seine Perspektive, seinen Raum in der Zeit. Fast spielerisch folgt die Kamera dem Mann, aber nur so weit wie der Blick des Protagonisten es erlauben würde. Dann dreht sie um und aus dem POV wird wieder eine Verfolgerkamera, in die der Protagonist blickend tritt. Er geht die Treppen nach oben, wir folgen ihm mit einem Schwenk. Bewegung-Stehen Bleiben-Umkehren-Bewegung-Bewegung-Stehenbleiben-Umkehren…unsere Wahrnehmung für die Bewegung in der Zeit wird geschärft. Eine Halbtotale holt den Protagonisten in der Hotellobby ab. Im Hintergrund sind unscharfe Menschen, wir folgen ihm mit einem Schwenk durch die Loungemusik und bleiben oberhalb einer wendelförmigen Treppe stehen, die er mit schnellen Schritten nach unten geht. Dabei reagiert die Kamera auch auf seine Bewegungen, wenn sie ihn nur kurz aus der Topshot-Perspektive erkennen kann. Ein harter Schnitt in eine Totale. Der Protagonist erscheint wieder draußen auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Ein 360 Grad-Schwenk zeigt uns wie das Hotel, die Tiefgarage und der Parkplatz räumlich zusammenhängen. Der Weg, den wir gegangen sind, wirkt trotz der Schnitte nun glaubwürdig. Der Protagonist rennt fast. Wieder schwenkt die Kamera und bleibt dann stehen. Wir sehen ihn aus einer totalen Einstellung durch dieselbe Gittertür wie am Anfang gehen. Hier spiegelt Puiu die kleinen Bewegungen der Szene in der großen Bewegung der Szene: Denn wie immer ist der Protagonist einen Weg gegangen, ist umgekehrt und geht ihn dann doch weiter. Also wieder zurück in die Tiefgarage. (UNGLAUBLICH!) In einer Halbtotale erahnen wir ihn hinter einem Auto auf dem Boden lauernd. Man hört wie er sein Gewehr zusammenbaut. Er steht auf, das Gewehr in seiner Hand, er hat ein paar Probleme damit und schaut gespannt Off-Screen. Er stößt mit seiner Waffe gegen ein parkendes Auto. Hier liegt das absurde Element, das nur in einer Entfaltung der Szene in Raum und Zeit überhaupt möglich ist. Wir schwenken mit ihm und bleiben dann stehen. Er positioniert sich schnell zwischen zwei Autos. Nun sind wieder Stimmen aus dem Off zu hören. Der Protagonist ist sehr angespannt, man glaubt, dass er gleich schießen wird, aber dann blickt er nochmal und entscheidet sich weiterzugehen. Er verschwindet hinter den Autos, die Kamera schwenkt mit ihm mit, obwohl wir ihn nicht immer sehen. Sie schwenkt soweit nach rechts bis im Bildzentrum sehr nah eine Säule auftaucht. Rechts von der Säule erscheinen ein Mann und eine Frau. Wieder dynamisiert Puiu unsere Perspektive und macht aus der Verfolgerkamera einen POV-Shot, nun sind wir wie der Mörder, versteckt lauernd hinter einer Säule. Die Kamera folgt den beiden. Sie sperren jenes Auto auf, das der Protagonist früher betrachtet hat. Sie haben offensichtlich einen Streit. Als sie einsteigen, springt der Protagonist hervor und erschießt beide mit jeweils einem lauten Schuss. Die Kamera bleibt in der Totale und reagiert mit atmenden Schwenks. Nun folgt sie wieder dem Protagonisten, der hektisch zurück zu seiner Tasche hinter dem Auto läuft. Er setzt sich wieder hin und packt das Gewehr ein. Die Kamera hat ihre Position nicht verlassen, Puiu demonstriert die zeitliche macht eines Schwenks. Er rennt nach hinten aus dem Bild und ein harter Schnitt führt uns wieder in das Auto, mit dem der Mann holprig flüchtet.

La libertad Alonso

Dieses Licht, das mit der Zeit korrespondiert, ist keine Frage eines glücklichen Moments wie dem einer spontanen Beobachtung einer Fassade. Deshalb hat man in einem Film von Terrence Malick auch kein Zeitgefühl sondern nur leere Schönheit, die erst mit einem Voice-Over- und Musikgedudel so etwas wie Zeit bekommt. Nein, es ist eine Frage von Wahrnehmung, dem Denken und Arbeit in der Zeit. Ein Fotograf, der das eingangs beschriebene Phänomen beobachtet und jeden Tag zur Fassade kommt, der den Raum kennt, der seinen Fotoapparat kennt, der das Licht kennt und sich selbst, der wird die Schönheit dieses Augenblicks auch einfangen können. Man denke an ein Gewitter bei John Ford in She wore a yellow ribbon. Ja, die Legende des Mannes pocht auf das Glück und die Spontanität dieses Augenblicks, aber wenn ich die Szene sehe, sehe ich Schnitte und sehe ich Perspektiven, die einen perfekten Blick auf das Naturschauspiel in der Zeit ermöglichen; eine Zeit, die aus dem Raum und aus dem filmischen Gewissen eines Künstlers hervorgeht. Die Zeit filmen ist zugleich Essenz als auch Meisterschaft des Filmemachens.